Zum Sehen, zum Lesen, zum Hören
Zum Sehen
Film
Kontinental ’25
Der Tod des Obdachlosen Ion ist schauerlich und qualvoll, deshalb muss ihn Orsolya Ionescu immer wieder erzählen. Orsolya ist Gerichtsvollzieherin, sie war schon einige Zeit hinter Ion her, er soll in ein Heim, sie will ihm dabei helfen. Als Orsolya ihm ein paar Minuten gibt, um seine Sachen zusammenzupacken, geht sie mit den Gendarmen, die sie begleiten, einen Kaffee trinken. Als sie zurückkommen, ist Ion tot. Die Gendarmen unterstützen ihren Wiederbelebungsversuch, indem sie „Staying Alive“ singen. „Kontinental ’25“ ist ein böser, sarkastischer Film über das Rumänien der Gegenwart, über Rassismus, Ressentiments und Selbstmitleid.
Serie
Remnick
Ein Flugzeug über den endlosen schneebedeckten Wäldern von Alaska. Eine Explosion an Bord, die Maschine kommt ins Schlingern, die Menschen drin werden auf und nieder geschleudert, sie kracht zu Boden, brennend, nahe der kleinen Stadt Fairbanks. Eine Gruppe Sträflinge war an Bord, 52 insgesamt – 23 sind nach dem Aufprall tot, elf werden geschnappt, 18 sind in die Wälder entflohen. Da hat Marshal Frank Remnick (Jason Clarke) eine Menge zu tun, um die Bürger seiner Stadt vor diesen unberechenbaren, brutalen Gestalten zu schützen. Die Serie pickt einige der Sträflinge auf der Flucht heraus, die trickreich und gemein nichts ahnende Bürger überwältigen und ausnutzen, es sind kleine filmische Novellen, die sich in die ganz große Geschichte einpassen.
Komödie
Good Fortune
Das Leben in Los Angeles kann sehr schön sein, wenn man Geld hat. Nur hat Arj nicht genug. Eigentlich würde er am liebsten Dokumentarfilme drehen, stattdessen macht er Gelegenheitsjobs, die andere Leute bequem an eine App outsourcen: Garagen ausmisten, Regale aufbauen, solche Sachen. Weder Geld noch göttlicher Beistand helfen, der Tretmühle zu entfliehen. Der Komiker Aziz Ansari hat eine charmante Komödie über die Absurditäten der Arbeitskultur gedreht.
Serie
House of Guinness
Als Kreuzung aus „Succession“ und „Peaky Blinders“ ist diese Historienserie beworben worden. „House of Guinness“, wieder von Steven Knight, beginnt mit dem Tod von Benjamin Guinness 1868. Unter ihm wurde Guinness groß, seine Familie reich und zu einer der vordersten in Dublin. Als er stirbt, brodelt es in Irland: Zur Beerdigung gibt es also erstmal eine anständige Straßenschlacht. In der Serie geht es um den Aufstand gegen die britischen Besatzer, um Exportpläne in die USA und verbotene Liebe. All den Intrigen und Leidenschaften der Guinnesses folgt man gern und leicht. Auch wenn man sich nach ein paar Stunden in dieser Welt fühlt, als bräuchte man doch noch etwas Anständiges zu essen zu all dem süßlichen Bier.
Zum Lesen
Zeitdiagnose
Angststillstand
Richard David Precht, der prominenteste, erfolgreichste und allgegenwärtige Intellektuelle der Republik, nimmt den „gefühlten“ allgemeinen Freiheitsverlust und die Verengung des Meinungskorridors zum Ausgangspunkt seines neuen Essays. Bereits der Titel „Angststillstand“ illustriert die Sorge um eine Republik, die das Streiten verlernt hat und Meinungsdifferenzen nicht mehr produktiv bearbeiten kann. Mit anderen Worten: Die Lage der Nation ist schlimm, schlimm, schlimm.
Sachbuch
Sechs Millionen, wer bietet mehr? Judenhass an deutschen Schulen
Was passiert, wenn man an deutschen Schulen über Antisemitismus aufklärt? Der Rapper Ben Salomo tut das seit knapp sechs Jahren mit Kindern und Lehrern. Zunächst erzählte er vor allem biografisch über seine Erfahrungen in der Rap-Szene. Und wie er sich zurückzog, weil er die antijüdischen Anfeindungen der Szene nicht mehr ertrug. Mit den Jahren wurden seine Vorträge theoriebasierter und bekamen mehr historische Einordnungen. Über seine Erfahrungen bei alldem hat er sein zweites Buch geschrieben. „Sechs Millionen, wer bietet mehr? Judenhass an deutschen Schulen“ ist kluge, kenntnisreiche, beklemmende und vehement lebendige Aufklärung – und sehr wütend.
Roman
The Life of Violet
In diesen Tagen veröffentlicht der sehr kleine, renommierte amerikanische Verlag Princeton University Press drei Geschichten, die Virginia Woolf 1907 schrieb, fast zehn Jahre vor ihrem ersten Roman. Herausgegeben hat die Texte einschließlich Vorwort und einem sehr ausführlichen Nachwort mit Bildern und biografischen Informationen die Virginia-Woolf-Gelehrte Urmila Seshagiri, Professorin an der Universität Tennessee. „The Life of Violet“ ist verspielt und versponnen, komisch, spöttisch, romantisch, der Ton ist leicht und ausgelassen, nur manchmal etwas bitter, da scheint die spätere Feministin durch. Überhaupt zeigen die Texte schon viel von der Virginia Woolf, die wir kennen.
Zum Hören
Hörspiel
Die Welt schaukelt und du willst glücklich sein
Herta Müller hat aus alten Texten das lyrisch-bedrohliche Hörspiel „Die Welt schaukelt und du willst glücklich sein“ komponiert. Vor allem sind es Collagen, die darin Eingang gefunden haben: Herta Müller sammelt Gedrucktes aus Zeitungen, Magazinen und Prospekten, schneidet Wörter aus und archiviert sie in Zettelkästen. Diese optische Dimension fällt nun weg für das Hörspiel. Dafür tritt eine andere Qualität dieser Texte in den Vordergrund: Sie verweben sich ineinander in größere Zusammenhänge, in so etwas wie Geschichten. Und Erzählerin Valery Tscheplanowa bringt es zum Schweben.
Hörspiel
Für immer seh ich dich wieder
Die todtraurige, tragische Erzählung „Für immer seh ich dich wieder“ von Yannic Han Biao Federer ist autobiografisch. Sein Sohn ist wenige Wochen vor Geburtstermin im Mutterleib gestorben. Vollkommen unerwartet, das Kind war gesund – die Plazenta hatte sich gelöst. Ein intimes medizinisches Detail, das Federer jedoch selbst thematisiert in seinem Text, den Cordula Dickmeiß nun für den NDR als Hörspiel adaptiert hat. Es ist eine bemerkenswerte Erzählung, kaum zu ertragen und zugleich tröstlich. Hochemotional und andererseits von faszinierender Klarheit.