Kafka – der moderne Mensch 

Ich bin der Mensch

Vor 100 Jahren, am 3. Juni 1924, starb Franz Kafka. Sein absoluter Anspruch an die Literatur ist bis heute nicht wieder erreicht worden. Ein Glück.

 Kafka – der moderne Mensch 

Ich bin der Mensch

Vor 100 Jahren, am 3. Juni 1924, starb Franz Kafka. Sein absoluter Anspruch an die Literatur ist bis heute nicht wieder erreicht worden. Ein Glück.

16. Mai 2024 - 8 Min. Lesezeit

Franz Kafka war die große Ausnahmefigur und der Leitstern der Literatur. In loser Folge haben Schriftstellerinnen und Autoren von heute für uns über ihre denkwürdigsten Kafka-Momente geschrieben. In der 21. und letzten Folge: der SZ-Journalist, Literaturkritiker und Autor Willi Winkler. Im September kommt sein Buch „Kissinger & Unseld. Die Freundschaft zweier Überlebender“ bei Rowohlt Berlin heraus.

„Kafka, ein Rechtsbeistand,
Bürger von Prag,
zog sich Schwindsucht zu
im metaphysischen Nebel.
Hustend vor Lachen veralberte er
die erbärmliche Lage,
in der die Angeklagten allesamt
des SCHICKSALS schuldig waren.“
John Updike, übersetzt von Uwe Johnson

Er hat seine Sachen gern vorgelesen, wenn auch nicht öffentlich. Nach dem Auftritt 1916 in der Kunsthandlung Goltz in München, dem einzigen neben einer Lesung in Prag, maulten die Journalisten, nannten ihn einen „Lüstling des Entsetzens“. „In der Strafkolonie“, scheußlich, was sich da einer ausdenkt. Aber es war doch Krieg, Krieg im dritten Jahr, selbst im eben noch heiteren München ahnte man, dass die Männer draußen nicht bloß totgeschossen, sondern zerfetzt, verstümmelt, vergiftet wurden.

Keine Schellackscherbe hat sich von dieser Lesung erhalten, es kann also niemand hundert Jahre später darüber staunen, dass seine Stimme vielleicht viel tiefer war als erwartet oder dass der Prager Jude Franz Kafka, wie der Sprachwissenschaftler Boris Blahak nachgewiesen haben will, feinstes Ostmittelbairisch sprach.

Am liebsten las er den Schwestern vor, Elli, Valli und Ottla, manchmal mit solchem Genuss, dass es abends für ihn zu spät zum Schreiben wird. Und er muss doch schreiben, und nie gelingt es, nie genügt es seinem Anspruch. Dann schreibt er auf einmal, in acht Stunden, in einer einzigen Nacht „Das Urteil“, die Geschichte von dem jungen Kaufmann Georg Bendemann, den er zum Tod durch Ertränken verurteilt. Seine eigene Geschichte und auch wieder nicht.

Gegen die Familie, den Lärm, die Schreibangst gelingt es ihm zu schreiben, nur zu schreiben

In seinem Triumph kann sich Kafka kaum fassen, als er morgens am 23. September 1912 verwandelt aus seinem Zimmer kommt. Ganz anders als Gregor Samsa erschreckt er die Schwestern nicht mit seinem veränderten Aussehen, sie müssen ihn bewundern. Sogar dem Dienstmädchen muss er es sagen, dass er die ganze Nacht geschrieben hat und das Bett deshalb unberührt ist.

Dann liest er, liest, wie der Vater den Sohn vernichtet. „Aus dem Tor sprang er, über die Fahrbahn zum Wasser trieb es ihn. Schon hielt er das Geländer fest, wie ein Hungriger die Nahrung. Er schwang sich über, als der ausgezeichnete Turner, der er in seinen Jugendjahren zum Stolz seiner Eltern gewesen war. Noch hielt er sich mit schwächer werdenden Händen fest, erspähte zwischen den Geländerstangen einen Autoomnibus, der mit Leichtigkeit seinen Fall übertönen würde, rief leise: ‚Liebe Eltern, ich habe euch doch immer geliebt‘, und ließ sich hinabfallen.“ Und dann dieser Satz: „In diesem Augenblick ging über die Brücke ein geradezu unendlicher Verkehr.“

Die Erzählung „Das Urteil“ steht im Tagebuch, und die Kafka-Philologen haben die Geschichte, wie es die Aufgabe der Kafka-Philologen ist, herausgelöst aus dem Tagebuch, froh, eine abgeschlossene Erzählung zu haben, einen präsentablen Kafka mit Hand und Fuß und Handlung. Aber sie geht ja weiter, weil sie, bei aller Vollkommenheit, nur ein Strudel im unendlichen Kafka-Wortstrom ist. In diesem Augenblick, so endet doch die Erzählung, „ging über die Brücke ein geradezu unendlicher Verkehr“. Die Brücke – die Kafka-Forscher wissen, dass es die Niklasbrücke sein muss – kommt im Nachsatz gleich wieder vor, wenn Kafka seine Leistung und seinen Text selber einordnet. Bebend vor Autorenstolz muss er festhalten, dass es ihm, allen üblichen Widrigkeiten zum Trotz gegen die Familie, den Lärm, die Schreibangst gelungen ist, zu schreiben und nur zu schreiben.

„Niemals würde ich durch die erste Volksschulklasse kommen, dachte ich, aber es gelang.“

„Diese Geschichte ‚Das Urteil‘ habe ich in der Nacht vom 22. bis 23. von zehn Uhr abends bis sechs Uhr früh in einem Zug geschrieben. Die vom Sitzen steif gewordenen Beine konnte ich kaum unter dem Schreibtisch hervorziehn. Die fürchterliche Anstrengung und Freude, wie sich die Geschichte vor mir entwickelte, wie ich in einem Gewässer vorwärtskam. Mehrmals in dieser Nacht trug ich mein Gewicht auf dem Rücken. Wie alles gesagt werden kann, wie für alle, für die fremdesten Einfälle ein großes Feuer bereitet ist, in dem sie vergehn und auferstehn. Wie es vor dem Fenster blau wurde. Ein Wagen fuhr. Zwei Männer über die Brücke gingen.“

Da ist kein unendlicher Verkehr, das Tosen, der Lärm, alles hat aufgehört. „Die bestätigte Überzeugung, daß ich mich mit meinem Romanschreiben in schändlichen Niederungen des Schreibens befinde. Nur so kann geschrieben werden, nur in einem solchen Zusammenhang, mit solcher vollständigen Öffnung des Leibes und der Seele.“

Über zwei Verlobungen und eine Trennung kann er sie mit seinem Geschriebenen an sich binden: Franz Kafka und seine Verlobte Felice Bauer im Jahr 1917.
Über zwei Verlobungen und eine Trennung kann er sie mit seinem Geschriebenen an sich binden: Franz Kafka und seine Verlobte Felice Bauer im Jahr 1917.

Im Tagebuch muss er sich als letzter Instanz Mitteilung machen von dem, was er da geleistet hat. Zum ersten Mal ist er überzeugt von der „Zweifellosigkeit der Geschichte“ und hat die Gewissheit des Schreibens gefunden. Sonst nagte nur immer der Zweifel, an sich, am Schreiben, also an sich: „Niemals würde ich durch die erste Volksschulklasse kommen, dachte ich, aber es gelang, ich bekam sogar eine Prämie; aber die Aufnahmeprüfung ins Gymnasium würde ich gewiß nicht bestehn, aber es gelang; aber nun falle ich in der ersten Gymnasialklasse bestimmt durch, nein, ich fiel nicht durch und es gelang immer weiter und weiter“, referiert er im „Brief an den Vater“ seinen Bildungsgang, bei dem er sich immer sicher war, dass es nur schlimm ausgehen konnte. „Oft sah ich im Geist die schreckliche Versammlung der Professoren (…), wie sie, wenn ich die Prima überstanden hatte, also in der Sekunda, wenn ich diese überstanden hatte, also in der Tertia und so weiter zusammenkommen würden, um diesen einzigartigen, himmelschreienden Fall zu untersuchen, wie es mir, dem Unfähigsten und jedenfalls Unwissendsten gelungen war, mich bis hinauf in diese Klasse zu schleichen, die mich, da nun die allgemeine Aufmerksamkeit auf mich gelenkt war, natürlich sofort ausspeien würde, zum Jubel aller von diesem Albdruck befreiten Gerechten.“

Wie für jeden richtigen Autor kann es neben ihm keinen anderen geben

Erlösung ist ihm nur denkbar durch das Schreiben, und nur das Schreiben würde ihn annähern an andere. „Wenn es wahr wäre, dass man Mädchen mit der Schrift binden kann?“, fragt er seinen Freund Max Brod, dem das Schreiben so leicht fällt. Mit Felice Bauer gelingt es, er kann sie über zwei Verlobungen und eine Trennung mit seinem Geschriebenen an sich binden. Auf die denkbar seltsamste Art bringt er sich ihr fünf Wochen nach der ersten Begegnung bei Max Brod in einem Brief in Erinnerung. „Ich heiße Franz Kafka“, stellt er sich ihr vor, „und bin der Mensch, der Sie zum erstenmal am Abend beim Herrn Direktor Brod in Prag begrüßte, Ihnen dann über den Tisch hin Photographien von einer Thaliareise, eine nach der andern, reichte und der schließlich in dieser Hand, mit der er jetzt die Tasten schlägt, ihre Hand hielt, mit der Sie das Versprechen bekräftigten, im nächsten Jahr eine Palästinareise mit ihm machen zu wollen.“

Sie ist bereits eingefangen, allein durch den Hinweis auf die Tasten der mechanischen Schreibmaschine. Der Bürokrat Kafka ergreift ihre Hand ergreift und bahnt eine Geschäftsbeziehung an, und gegen die dürfte, wie er meint, „nichts Entscheidendes von vornherein einzuwenden sein und Sie könnten es wohl mit mir versuchen“. Felice Bauer macht den Fehler, sie versucht es, auch wenn es nicht gerade eine Okkasion ist. Ihre Beziehung müsste sich, wie er in einem ausgefeilten Stundenplan darlegt, nach ihm richten, nach dem, wie der Angestellte der Arbeiter-Unfallversicherungs-Anstalt für das Königreich Böhmen in Prag nebenher schreiben kann. „Von 8 bis 2 oder 2 2/3 Bureau, bis 3 oder ½4 Mittagessen, von da ab Schlafen im Bett (…) bis ½8, dann zehn Minuten Turnen, nackt bei offenem Fenster, dann 1 Stunde Spazierengehn (…) dann um ½11 (oft wird aber auch sogar ½12) Niedersetzen zum Schreiben und dabeibleiben je nach Kraft, Lust und Glück bis 1, 2, 3 Uhr einmal auch schon bis 6 Uhr früh. Dann wieder Turnen, wie oben, nur natürlich mit Vermeidung jeder Anstrengung, abwaschen und meist mit leichten Herzschmerzen und zuckender Bauchmuskulatur ins Bett.“

Unweigerlich versagt Felice Bauer vor dem Anspruch dieses Schreibmonsters. Er schickt ihr das erste Buch, „Betrachtung“, aber sie lobt ihn nicht. Er ist furchtbar eifersüchtig auf ihren literarischen Umgang, auf die Autoren, die sie liest, Sophokles oder Eulenburg, oder Schnitzler, dessen „Professor Bernhardi“ sie sieht, wie für jeden richtigen Autor kann es neben ihm keinen anderen geben.

Es geht nichts über Kafka, zum Glück ist ihm niemand nachgefolgt

Kafka hält, wie’s der Brauch, beim Vater um die Hand von Felice an und bringt das Kunststück fertig, dem künftigen Schwiegervater auseinanderzusetzen, dass er seinen Beruf, mit dem er doch die Frau ernähren soll, einfach nur hasst, weil er ihn von der Literatur, vom Schreiben abhält, dass er ein „ungeselliger, unzufriedener Mensch“ sei, dem für ein Familienleben jeder Sinn fehle und der in Besuchen „gegen mich gerichtete Bosheit“ sehe. „Eine Ehe könnte mich nicht verändern“, wie er dem Brautvater versichert. Kafka hat seine Bestimmung in der Literatur gefunden, er kann sich endlich „im Innersten meines Romanes bewegen und darin leben“. Für Felice Bauer, die dieses brutale Schreibexperiment wunderbarerweise überlebt hat, ist da kein Platz.

Mit diesem absoluten Anspruch ist er zu einem weltlichen Heiligen geworden, der sich für die Literatur geopfert hat, ein Leidensmann, zuletzt auch noch der Tuberkulose erlegen. Nebenbei hat er es auch noch zum Schutzpatron des unterdrückten Angestellten gebracht. Aber er konnte sich nicht vorstellen, dass ihm jemand nachfolgt, dafür war er zu sehr von sich und seinem Schreiben überzeugt. Weil er Kafkas Wunsch, alles Nichtveröffentlichte zu verbrennen, missachtete, hat ihn Max Brod zum größten Schriftsteller des 20. Jahrhunderts gemacht. Ohne Brod gäbe es den „Process“ so wenig wie das „Schloss“ oder noch den „Verschollenen“.

Der heute leider vergessene Schriftsteller Reinhard Lettau, der in Kalifornien Germanistik unterrichtete, begnügte sich damit, den amerikanischen Studenten den „Heinrich von Ofterdingen“ und Kafkas Erzählungen vorzusetzen, das Beste in der deutschen Literatur. „Er durchlebte ein unendlich buntes Leben“, heißt es bei Novalis, „starb und kam wieder, liebte bis zur höchsten Leidenschaft, und war dann wieder auf ewig von seiner Geliebten getrennt. Endlich gegen Morgen, wie draußen die Dämmerung anbrach, wurde es stiller in seiner Seele, klarer und bleibender wurden die Bilder.“ Es sind die Kafkas, morgens, wenn es vor dem Fenster blau wird, ein Wagen fährt, zwei Männer über die Brücke gingen.

Kafka hat Erlösung im Schreiben gefunden, es war fürchterliche Anstrengung und Freude zugleich. Es geht nichts über Kafka, zum Glück ist ihm niemand nachgefolgt. Seine Schwestern, Ottla war ihm die liebste, sind in Kulmhof oder Auschwitz umgebracht worden. Ihr Bruder starb vor hundert Jahren, am 3. Juni 1924, in Kierling bei Wien.

Weitere Folgen der Serie „Kafka – der moderne Mensch“ finden Sie hier.

Editorial Design & Collagen: Stefan Dimitrov, Fotos Collagen: imago