Offene Briefe
Jetzt haben Sie das Wort

„Leserbriefe sind in keinem Fall Meinungsäußerungen der Redaktion“, heißt es im Hinweis zu den Leserbriefen, die die Süddeutsche Zeitung seit mehr als 76 Jahren veröffentlicht. Ihre Briefe sind ein integrativer Bestandteil von unserem Journalismus. Sie kritisieren unsere Artikel, ergänzen sie durch Ihr Expertenwissen oder gehen auf einen von uns nicht beleuchteten Aspekt ein. Dafür möchten wir Ihnen danken.
Eine wichtige Vorgabe für Leserbriefe ist auch in dem oben beschriebenen Hinweis enthalten: „Bezugnahme auf die jeweiligen SZ-Artikel“. In dieser Silvesterausgabe verzichten wir auf diesen Passus und veröffentlichen Ihren offenen Brief auf der SZ-Leserbriefe-Seite – gedruckt und digital. Eine Mischung aus „Jetzt red i“ und Speakers’ Corner – aber aus Ihrer Sicht. Wir wünschen Ihnen ein frohes neues Jahr und Lesegenuss mit den veröffentlichten offenen Briefen.
Sehr geehrte urologische Gemeinschaftspraxis,
der Eingangsbereich in Ihrer Praxis von der Tür bis zum Tresen beträgt etwa 1,50 Meter. Dort stehen in kuscheliger Nähe die Patienten zur Anmeldung oder zur Abholung der verabreichten Rezepte oder medizinischer Utensilien. Dort ist ihr Kommunikationsmittelpunkt. Während wir gebannt auf das freundliche Personal hinter der Glastrennwand schauen, erfahren wir vieles aus der urologischen Praxis, sei es durch Telefonate oder Gespräche: „Ihr Urin ist in Ordnung, aber ihr PSA-Wert ist wieder angestiegen. Was wir da machen können? Ja, da müssen Sie noch mal mit dem Doktor sprechen. Ich kann Ihnen aber erst einen Termin in neun Wochen anbieten.“
Eine Dame vor mir klagt über Blasenprobleme und wird gefragt, „Was haben Sie denn für Beschwerden?“ Ein junger Mann holt sich am Tresen ein Röhrchen für die Spermaprobe ab. Ich erwarte neugierig die Aufklärung über die Handhabung derselben. Ein Mann holt die Urinprobe seiner Frau aus der Manteltasche. Ein anderer sichtlich nervös muss in gebrochenem Deutsch erklären, was ihm fehlt: Er kann nicht Wasser lassen. Ich hoffe, er wird schleunigst dem Arzt zugeführt. Passiert aber nicht. Telefonisch wird einem Anrufer erklärt, wie die Prostata-Abtastung bei der Vorsorgeuntersuchung abläuft. Mittlerweile habe ich enorme Kenntnisse aus der Urologie gewonnen. Die unterschiedlichen Verabreichungsformen bei der Viagra-Verordnung: „Wollen Sie sehr schnell den Effekt erzielen, oder etwas langsamer, aber dafür länger anhaltend?“
Trage ich selbst mein Anliegen vor, passiert es nicht selten, dass ich erklären muss, warum ich dieses oder jenes Material zur Katheterisierung bei meiner neurogenen Blasenentleerungsstörung benötige. Das voll besetzte Wartezimmer darf sich weiterbilden. Ja, liebe urologische Praxis. Ich schätze Ihre Arbeit sehr, aber ein bisschen mehr Intimität und Diskretion wünsche ich mir und den anderen Patienten schon.
Monika Seevaldt, Hamburg
Liebe SZ,
gern folge ich deiner Einladung zum Schreiben eines Offenen Briefes. Denn seit mehr als einem Jahr kriselt es in unserer Beziehung. Aus einer Jugendliebelei im Budapest der 80-er Jahre, als ich es genoss, dich wenn auch nur für einige Tage in den Händen zu halten, wurde vor 15 Jahren eine feste Beziehung. Die Kinder waren aus dem Haus, nun konnte ich meine morgendliche Aufmerksamkeit ganz dir widmen. Das wollte ich im vorigen Jahr noch ausbauen, als ich in Rente ging.
Hier beginnen unsere Probleme. Seit Juli 2023 findest du nicht mehr in aller Frühe den Weg in meinen Briefkasten. Kein örtlicher Zeitungsausträger steht mehr bereit für dich. Und die Post bringt dich erst kurz vor Mittag. Wir hatten es schon einmal besser miteinander. Wenn die Post dich wenigstens jeden Tag brächte. In den vergangenen fünf Wochen hatte ich sechs Mal Anlass, vor allem am Wochenende, dir dein Ausbleiben vorzuhalten. Du hast dich umgehend entschuldigt und versprochen, dass es besser wird. Warst du das, liebe SZ, oder eine herzlose KI? Die Antworten kamen sofort, immer die gleichen, nur mit neuem Datum.
Zu Beginn unserer Krise, dem Wegfall des Zeitungsausträgers, hast du mir ein Geschenk gemacht. Ich darf dich auch digital lesen, zwei Jahre sogar ohne Zusatzkosten für mich! Inzwischen dämmert mir, dass das ein vergiftetes Geschenk sein könnte. Du entziehst dich mir mit letztem Rascheln und willst nur noch als blasser Schatten deiner selbst auf dem Bildschirm zu mir kommen. Muss das sein? Sag mir, dass ich mich irre.
Bernward Credo, Erfurt
Liebe Männer,
jetzt kommt kein Gemecker über weiße Socken in Birkenstocks oder Holzfällerhemden in XXXL. Ein paar andere Sachen sollten mal angesprochen werden. Ich möchte, dass alle Männer zur Vorsorge gehen. Egal, ob Prostata oder Magen-Darmspiegelung. Geht hin. Nur so lassen sich Krankheiten rechtzeitig erkennen, verhindern und heilen. Keine Ahnung, warum Ihr nicht geht. Irgendeine abstruse Wahnvorstellung muss es aber sein.
Dann möchte ich, dass Ihr auf Euren Bauchumfang achtet. Nichts ist unsexier als ein Mann mit Bauch. Bei 102 Zentimetern Umfang ist wirklich Schluss, besser und gesünder sind 94 Zentimeter Umfang, sagt der Experte. Dicke Männer-Bäuche sind optische Körperverletzung.
Außerdem möchte ich, dass Ihr redet. Sagt, was Ihr wirklich wollt, fragt Eure Frau (w/m/d), was sie will. Sprecht – einmal im Monat, einmal im Quartal, vereinbart meinetwegen einen Jour fixe und erzählt über Eure Wünsche, Hoffnungen, Ängste. Zu zweit, aber redet auch mal mit einem Freund (m/w/d), um einen Blick von außen zu bekommen.
Noch ein Wunsch: Männer, geht einkaufen. Ganz alleine für Euch. Hier mal ein neues Hemd, da mal ein neuer Mantel, hier neue Schuhe. Alles, was Ihr tragt, ist Jahre alt. Und hört auf, so dermaßen übel gelaunt in der Ecke zu stehen, wenn Eure Frauen shoppen. Seid interessiert, nehmt Anteil.
Das mit dem Fahrstuhlknopf könnt Ihr auch lassen. Wenn eine Frau im Aufzug schon den Knopf für die Etage gedrückt hat, in die Ihr auch wollt, müsst Ihr nicht noch mal den Knopf drücken. Fahrstuhlknöpfe reagieren auch auf Frauen.
Anke Kronemeyer, Düsseldorf
Liebe Liberale, liebe Konservative,
rechts wie links verortet ihr eure politischen Gegner. Warum eigentlich ruft bei so vielen von euch die linke Seite so viel mehr Emotionen und rhetorische Inbrunst hervor als die rechte? Findet ihr Lastenfahrräder wirklich gefährlicher als Rassismus? Sind Veganer tatsächlich eine größere Gefahr für unser Land als rechtsradikale Gewalttäter? Fürchtet ihr Gendersternchen mehr als Holocaustleugner? In den 1930er-Jahren gab es in euren Milieus eine ähnliche Fehleinschätzung der Gefahren. Die Folgen sind bekannt. Setzt jetzt die richtigen Prioritäten für eine demokratische Kultur in Deutschland!
Nina Andreae, Weil am Rhein
Hallo Bundesnetzagentur,
schon lange will ich dich fragen: Wer genau bist du? Welche Aufgaben, welche Verantwortung hast du? Warum bist du so unsichtbar?
Bei meiner Recherche habe ich herausgefunden, dass es dich schon seit 26 Jahren gibt – vorher warst du ein Ministerium, das BMPT. Heute bist du eher ein Mysterium – mit immer mehr Themen und Aufgaben, aus dem Netz ist ein Gespinst geworden, undurchsichtig und für manche toxisch – wie beim Eichenprozessionsspinner. Von seinen Gespinsten soll man sich fernhalten – von deinen auch?
Du bist mächtig geworden, die zentralen Lebensadern unseres Landes sollst du sichern. Gelingt dir das? Welches der Netze ist stabil? Das der Post, der Telekommunikation, der Eisenbahn? Ich wünsche mir eine ehrliche Antwort.
Und ich finde, dass du die Verantwortung auch nicht völlig allein tragen musst: Wir, die BürgerInnen, wir sind auch noch da – viele von uns schon älter als du. Sag uns doch, wie wir dich unterstützen können. Weniger Pakete schicken und retouren zum Beispiel? Oder weniger Energie verbrauchen? Wie viel könnten wir denn z. B. einsparen, wenn wir nicht ständig chatten, auf Google-Antworten warten, die Mediatheken rauf- und runterstreamen? Sag es uns doch bitte!! Die riesigen Rechenzentren, die mit Strom gefüttert und mithilfe von Strom gekühlt werden – wo stehen sie denn? Wir brauchen mehr Transparenz, einen offenen Blick auf deine, unsere Netze. Dann können wir Verantwortung übernehmen. Also zeig dich. Bitte.
Angela Bentfeld, Rottenburg
Liebe Autoindustrie,
früher war nicht alles besser. Eine Sache aber doch: Man musste weder vier Semester Informatik noch 400 Seiten Bedienungsanleitung studiert haben, um die Lautstärke des Autoradios verstellen zu können, den Tageskilometerzähler zu nullen oder die Lüftung zu regulieren. Dafür gab es Knöpfe zum Drehen, Drücken oder Schieben, die sich beim Fahren gefahrlos bedienen ließen. Heute muss man sich erst durch digitale Menüs hindurchklicken. Als Carsharing-Nutzer fahre ich wechselnde Automodelle. Bei keinem verstehe ich zum Beispiel, wie ich den Tageskilometerzähler zurücksetzen kann. Ich finde ihn meist auch nicht im Stichwortverzeichnis der telefonbuchdicken „Bordbücher“. Vielleicht firmiert er dort unter „Distanzkalibrierungsmodul“?
Eckhard Stengel, Bremen
An alle Männer,
die Gendern für überflüssig halten. Bitte versetzen Sie sich einen Moment in Ihre Kindheit, stellen Sie sich die folgende Situation vor: Sie liegen in Ihrem Bettchen, Ihre Mutter singt Sie in den Schlaf: „Schlafe, Prinzesschen, es ruhn Schäfchen und Vögelchen nun ... schlafe, Prinzesschen, schlaf ein ... Die allmächtige Mutter im Himmel wacht über dir, sie hat ihre eingeborene Tochter gesandt, damit sie uns erlöst.“
Dann malt Ihre Mutter Ihnen die Zukunft aus: „Bald kommst du in die Schule, da wird dir eine nette Lehrerin viel beibringen, bis du einmal an die Uni kommst; da findest du dann bestimmt eine gute Doktormutter und machst bald deine Doktorin. Sicherlich hast du Kontakt zu netten Kommilitonen und Kommilitoninnen, mit denen du wie eine Frau zusammenstehen kannst. Und bestimmt stehst du im Studium und danach im Beruf deine Frau, bist Fraus genug, auch im Sinne von: eine Frau – ein Wort, und: selbst ist die Frau, denn denke immer daran, mein Junge: jede ist ihres Glückes Schmiedin. Und nun schlaf, Prinzesschen, schlaf ein... du weißt ja, du bist immer mitgemeint.“ Verstanden?
Hilde Fieguth, Fribourg/Schweiz
Liebe bürgerliche Parteien,
so dreist wie unhistorisch ist die Selbstzuschreibung von Mitte-Rechts-Parteien als „bürgerlich“. Dreist, weil der anderen Hälfte des politischen Spektrums damit ein gewisses Niveau der Lebensführung abgesprochen wird. Man möge erstaunt zur Kenntnis nehmen: Auch Mitglieder von SPD, Grünen oder Linken essen mit Besteck, lesen mitunter ein geistreiches Druckerzeugnis wie etwa die Süddeutsche Zeitung, haben den einen oder anderen Schulabschluss oder gar den Doktortitel, sparen in Aktienfonds und leben vielleicht in eigener Immobilie.
Noch mehr Gewicht hat der historische Einwand. Natürlich ist es originell, wenn sich CDU/CSU, Freie Wähler und FDP streng nach Karl Marx als Verteidiger der durch das Privateigentum an Produktionsmitteln definierten bürgerlichen Gesellschaft definieren. Doch genauso wie die Mitgliedschaft in diesen Parteien heute nicht nur durch Kapitalbesitz begründet ist, versammelt sich die vermeintlich proletarische Gegenseite längst nicht mehr um das Ziel der revolutionären Aufhebung dieses Privateigentums.
Kaum je wird das Paradoxon formuliert, dass die auf Parteitagen oder in Parlamenten über Energie, Steuern, Rüstung, Renten, Migration, Klimaschutz, Tierwohl, Krankenhäuser oder Altenpflege streitenden Menschen weitgehend Probleme lösen wollen, die sie selbst nicht haben. Die Professorin im Bundestag kämpft nicht für sich um bezahlbare Mietwohnungen. Der Rechtsanwalt im Landtag hat an den von ihm geforderten Bildungschancen benachteiligter Kinder kein ökonomisches Eigeninteresse. Die Zeit der klientelfixierten Mittelstands-, Kleinbauern-, Beamten- oder Arbeiterparteien ist vorbei.
Richtig gesehen gibt es heute im demokratischen Spektrum überhaupt nur noch bürgerliche Parteien, nämlich staatsbürgerliche Parteien, deren Mitglieder für ein über den eigenen Vorteil weit hinausreichendes Gerechtigkeitsideal werben. Nebenbei sei erwähnt, dass eine jahrzehntelange Parteimitgliedschaft viel mehr kostet, als sie etwa an Sitzungsgeldern für eine Zeit im Gemeinderat einbringt. Wer die Hälfte des demokratischen Spektrums aus solcher uneigennütziger Staats-Bürgerlichkeit herausdefiniert, hilft nur jener erstarkenden Bewegung, die zu einer rabiaten Interessendurchsetzung gerne auch mit Gewalt zurückkehren will.
Andreas Knipping, Eichenau
Lieber Wahlkämpferinnen und Wahlkämpfer,
wir Omas gegen Rechts Rosenheim sind besorgt und sagen: „Benehmt’s eich, alle miteinand!“ Wir sind zunehmend beunruhigt, wie abwertend und aggressiv sich manche WahlkämpferInnen über ihre MitbewerberInnen äußern. Wir haben uns auf die Fahne geschrieben, unsere Demokratie zu schützen. Dafür braucht es respektvolles Streiten.
Sprache schafft Wirklichkeit, und deswegen muss Sprache sorgfältig gewählt und eingesetzt werden – gerade im Wahlkampf. Leider konnten wir in den Landtagswahlkämpfen 2024 sehen, wie schnell inzwischen aus Verbalattacken Angriffe auf Menschen werden. Wenn es so weitergeht, wie es seit Wochen über die Medien und aus den Bierzelten schallt, sehen wir das demokratische Miteinander im Bundestagswahlkampf gefährdet. DemokratInnen streiten respektvoll miteinander. Und deswegen appellieren wir an alle Parteien: Bitte gehen Sie respektvoll mit politischen MitbewerberInnen um, unterlassen Sie abwertende Unterstellungen, persönliche Angriffe und Falschaussagen über MitbewerberInnen.
Madeleine Streiber, Rosenheim, Omas gegen Rechts
Liebes Prinzip Hoffnung,
ich muss Dir ganz dringend schreiben. Denn Du scheinst verloren zu gehen, obwohl Du doch so sehr gebraucht wirst in diesen dunkler werdenden Zeiten, in denen unsere hart erarbeitete demokratische Kultur auf so vielen Ebenen in Gefahr gerät.
Unsere Politiker verkommen in der öffentlichen Wahrnehmung zur „politischen Klasse“, gut gemeinte Regelungen müllen uns in Form von bürokratischen Hemmnissen zu, weil sich niemand daran macht, Dinge neu zu denken, sinnvolle Vorhaben werden zerrieben im Kleinklein des parlamentarischen Alltags, gesellschaftliches Miteinander wird zum mehr oder weniger organisierten, teilweise von außen gesteuerten Gegeneinander. Du glaubst mir das nicht? (Kein Wunder, Du heißt ja nicht umsonst „Prinzip Hoffnung“.) Beispiele gefällig? Sinnvolle Gesetzesvorhaben wie das Gewaltschutzgesetz sind in Gefahr, weil die jetzt nötige Mehrheit auch mithilfe der Opposition zustande kommen müsste. In Krankenhäusern hängt Wohl und Wehe der internen Kommunikation von Druckern und Faxgeräten ab; die Deutsche Bahn verliert Ausschreibungen zugunsten von Konkurrenten, deren Angebot sich als Luftnummer erweist, weswegen die DB dann einspringen muss, weil sie von Gesetz wegen dazu verpflichtet ist; unsere „Jugend von heute“ ist in Filterblasen gefangen, die sie selbst nicht als solche erkennt.
Und da kommst Du ins Spiel: Du musst uns dabei helfen, mutig und konsequent für die Grundlagen unserer freiheitlich demokratischen Grundordnung einzustehen. Wir müssen es wagen, Fake News und Lügen als solche zu benennen, Filterblasen zu durchstechen und Alternativen aufzuzeigen. Du musst den Verantwortlichen die Kraft dafür geben, ihrer Aufgabe nachzukommen und sich auf die Menschen zu besinnen, die sie als Verbündete haben.
Bitte steh uns bei in unserem wichtigen Kampf gegen die Resignation und die Verzweiflung, denn ohne Dich als Unterstützerin unseres Handelns gewinnen die Feinde eines demokratischen Miteinanders, die sich als Alternative gerieren!
Gisela Fuchs, Weitramsdorf