Iran

„Ich war neun, als meine Eltern mich zum ersten Mal zwangen, einen Hijab zu tragen“

Zahra führte lange ein Doppelleben. Aufgewachsen in einer religiösen Familie in Teheran, legte sie ihren Hijab an der Kunsthochschule heimlich ab. Die Angst davor aufzufliegen, machte sie krank. Doch dann fasste sie einen mutigen Entschluss. Heute protestiert sie gegen das iranische Regime.

Protokoll von Ekaterina Bodyagina
19. Januar 2023 - 8 Min. Lesezeit

Seit Jina Mahsa Amini im September in Polizeigewahrsam starb, halten die Proteste gegen das Regime in Iran an. Viele Protestierende wurden festgenommen oder auf der Straße von Vertretern der iranischen Regierung getötet. Seit Mitte Dezember hat das Regime vier junge Männer hingerichtet: Sayed Mohammad Hosseini, Mohammad Mehdi Karami, Mohsen Shekari und Majidreza Rahanvard.

Zahra, 34, lebt in Teheran. Sie protestiert gegen das Regime, obwohl bei einer Demonstration schon eine Freundin von ihr angeschossen wurde. Hier erzählt sie von der Unterdrückung während ihrer Kindheit und der Freiheit, die sie durch das Studium an der Kunsthochschule erfuhr. Sie berichtet, wie sie mit ihrer Familie in Konflikt geriet und wieso sie auf die Straße geht.

Zahra, 34, Teheran

„Ich war nicht in Teheran, als ich die Nachricht vom Tod von Mahsa Amini hörte. Das Internet war dort, wo ich mich aufhielt, sehr schwach. Im iranischen Fernsehen wurde nichts über ihren Tod gesagt. Aber die Nachricht erreichte mich über Instagram und Twitter. In dem Moment, als ich von Mahsas Tod las, fragte ich mich: Was hat sie gefühlt, als sie im Auto der Islamischen Religionspolizei saß? Hatte sie Angst? Hat sie gelitten? Ich spürte eine schwere Traurigkeit in meinem Herzen. Ich fühlte mich, als hätte ich einen Teil von mir verloren. Dann erfüllte mich eine sehr starke Wut.

Ich war neun Jahre alt, als meine Eltern mich zum ersten Mal zwangen, einen Hijab zu tragen. An diesem Tag gingen wir in die Moschee Imamzadeh Saleh in Nord-Teheran. Wenn ich an diesen Tag denke, bin ich traurig. Damals habe ich meine Freiheit verloren. Von da an habe ich den Hijab gehasst.

Mein Vater hat sehr strenge Regeln für mich aufgestellt. Meine Brüder dagegen durften machen, was sie wollten: Freundinnen haben, allein reisen, auf Partys gehen, wo Jungen und Mädchen zusammen abhingen, bis Mitternacht feiern. Wenn wir mit meiner Familie an den Strand gingen, konnten sich meine Brüder ausziehen und ins Wasser rennen. Ich musste mit einem Hijab am Strand sitzen und zusehen, wie sich ihr Glück vor meinen Augen entfaltete. Sie konnten zusammen Fußball spielen – ich durfte nicht mit Jungen spielen, nicht einmal mit meinen eigenen Brüdern. Sie durften ins Stadion gehen, um Fußball zu sehen – ich nicht.

Mädchen werden in Iran sehr früh erwachsen. Der Tschador, ein Ganzkörperschleier, schränkt die Bewegungsfreiheit stark ein und man hat das Gefühl, dass einen ständig etwas stört. Als Kind war ich hyperaktiv, und es war eine Qual, die ganze Zeit eingeschränkt zu sein. Ich durfte auch keine bunte Kleidung tragen, die mir gefiel. Es musste immer schwarz sein. Ich hasse diese Farbe.

Meine Eltern kontrollierten andauernd, ob ich den Hijab richtig trug und betete. Sie schickten mich auch auf eine religiöse Schule. Sie wurde das größte Trauma meines Lebens. Ich musste die ganze Zeit den Koran lesen. Unsere Lehrerin sagte, dass der Körper eines Menschen, der den Koran vergisst, mit Schlangen gefüllt werde. Als ich das zum ersten Mal hörte, war ich zehn Jahre alt. Ich bin jetzt 34, und wenn ich Albträume habe, sind sie voller Schlangen. In der Schule wurden wir täglich einer Gehirnwäsche unterzogen. Egal, was wir taten: Es hatte angeblich immer Auswirkungen darauf, ob wir in den Himmel oder in die Hölle kommen würden. Und nach diesen Maßstäben fühlte ich mich immer wie eine Sünderin. Das hat mein Selbstvertrauen zerstört. Ich kann meinen Lehrerinnen immer noch nicht verzeihen. Sie haben meine Kindheit zerstört.

Als ich aufwuchs, habe ich regelmäßig gemalt und Skulpturen angefertigt. Obwohl meine Familie religiös ist und die in Iran vorherrschende Ausprägung des Islam Kunst nicht befürwortet, unterstützte sie mich, indem sie mir alle notwendigen Kunstmaterialien zur Verfügung stellte. Ich fühlte mich entspannt und vor allem wie mein wahres Ich, wenn ich Kunst machte. Deshalb beschloss ich, nach der Sekundarschule eine Kunstschule zu besuchen. Zuerst war meine Familie nicht einverstanden. Aber ich bestand darauf. Als ich die Kunstschule am ersten Tag betrat, flippte ich völlig aus. Ich sah nicht-religiöse Mädchen, die keinen Hijab trugen. Mir kam es vor, als kämen sie von einem anderen Planeten. Ich wollte mich mit ihnen anfreunden, aber ich wusste nicht, wie. Wir kamen aus zwei verschiedenen Welten. Ich schämte mich zu sagen, dass ich aus einer religiösen Familie stammte. Ich wollte mich vor meinen Kommilitoninnen beweisen, indem ich großartige Kunstwerke schuf. Nach und nach fanden wir eine gemeinsame Sprache. Ich hatte das Gefühl, eine Welt betreten zu haben, die mir jahrelang verwehrt geblieben war.

Nach einigen Wochen meines Studiums beschloss ich, an der Universität keinen Hijab mehr zu tragen. Das war ein Sieg für mich – ich hatte mich über die Regeln hinweggesetzt. Aber in diesem Moment wurde mein Leben in zwei Welten geteilt. Ich hatte ein schlechtes Gewissen meiner Familie gegenüber, der ich nichts von meiner Entscheidung sagte. Wenn ich von meiner Familie getrennt war, hatte ich eine tolle Zeit. Aber solange ich bei meiner Familie war, musste ich zu einer Version von mir selbst zurückkehren, die ich hasste – in Hijab und Tschador. Sie gelten im Islam als heilig, und eine Frau, die sie trägt, soll nicht laut lachen, kein Make-up oder Parfüm tragen oder rauchen, während sie sie trägt. Mein Vater drohte mir, er lasse mich nicht mehr auf die Universität gehen, sollte ich meine Haare offen tragen und mich nicht verhüllen. Ich hatte ständig Angst, dass ich nicht mehr zur Universität gehen könnte, wenn er mich eines Tages ohne Hijab sehen würde.

Nach meinem Abschluss fühlte ich mich erschöpft und deprimiert. Ich konnte mein Doppelleben nicht mehr ertragen. Ich musste mich entscheiden. Und meine Wahl war damals, einen Hijab zu tragen. Ich fühlte mich leer und konnte nicht mehr für meine Wünsche kämpfen. Da lernte ich meinen Mann kennen. Er stammt ebenfalls aus einer religiösen Familie und arbeitete in einer Buchhandlung, in der ich Kundin war – unsere Eltern kannten sich. Wir waren zwei Jahre lang zusammen und haben dann geheiratet. Ich war damals 26 Jahre alt – und fühlte mich zum ersten Mal in meinem Erwachsenenleben frei.

Mein Mann ist ein wunderbarer Mensch, der die offizielle iranische Sichtweise auf Frauen nicht teilt. Sobald wir geheiratet hatten, gingen wir zu einem Notar, damit ich alle meine Rechte in der Ehe zurückerhielt. Im Gegensatz zu vielen iranischen Frauen habe ich jetzt das Recht, mich scheiden zu lassen, einen Pass zu bekommen und das Land zu verlassen.

Ich arbeite und habe mein eigenes Einkommen. Der einzige Ort, an dem ich mich einem Mann ebenbürtig fühle, ist in meiner Ehe. Und trotzdem bekam ich ein Jahr nach unserer Hochzeit eine schwere Depression. Ich konnte nicht mehr schlafen, war ständig ängstlich und hatte sehr starke Herzschmerzen. Ich ging zu einer Psychologin. Ihre Diagnose lautete: Weil ich jahrelang ein Doppelleben führte, mein wahres Ich verleugnete und meine wahren Gefühle unterdrückte, bekam ich eine Depression und eine Angststörung. Ich bekam auch Panikattacken. Eines der Gefäße meines Herzens ist aufgrund der vielen Panikattacken beschädigt. Deshalb muss ich für den Rest meines Lebens Medikamente nehmen. Ich kann keine hektischen Aktivitäten ausüben. Denn eine hohe Herzfrequenz ist nicht gut für meine Gesundheit. Ich befinde mich seit vier Jahren in psychologischer Behandlung.

Irgendwann habe ich meiner Familie verkündet, dass ich den Islam nicht annehme und auch keines der Gebote dieser Religion mehr befolgen würde. Diese Entscheidung traf ich gemeinsam mit meinem Mann. Zwei Jahre lang haben uns unsere Familien nicht akzeptiert. Wir haben uns ständig gestritten. Als letzten Ausweg sagten wir ihnen, dass wir sie für immer verlassen würden, wenn sie uns nicht so akzeptieren würden, wie wir sind. Wir haben eine Zeit lang nicht mit ihnen gesprochen. Dann hat mich meine Familie akzeptiert.

Jetzt geht der Kampf auf den Straßen in Iran weiter. Ich begann nach Mahsas Tod, auf Instagram und Twitter über ihren Tod zu posten. Dann wurde das Internet abgeschaltet und ich ging zu den Demonstrationen. Am 21. September ging ich um 20 Uhr in das Viertel Tadschrisch in Teheran. Ich war wütender und aufgeregter als verängstigt. Und das, obwohl die Zahl der Sicherheitskräfte sehr groß war. Es war wie ein Schlachtfeld. In dieser Nacht hatten die Demonstrant:innen nur Steine. Die Sicherheitskräfte hatten Gewehre und Tränengas. Nach den heftigen Zusammenstößen zwischen den Sicherheitskräften und den Demonstrant:innen setzten die Sicherheitskräfte Tränengas ein, um die Demonstrant:innen zu vertreiben. Nachdem sie Gas verschossen hatten, griffen sie an. Ich bin mit meinen Freund:innen weggelaufen. Wir mussten eine Mauer hochklettern und dann herunterspringen. Aber da das Tränengas meine Sicht beeinträchtigte, verletzte ich mich beim Sprung von der Mauer schwer an der rechten Hand. Alle Gassen in diesem Gebiet waren voll von Sicherheitskräften. In dieser Nacht sind wir nur knapp entkommen.

Als ich an diesem Abend nach Hause kam, war ich müde und hatte Schmerzen. Aber ich hatte keine Angst. Von diesem Tag an nahmen meine Freund:innen und ich jeden Samstag an Demonstrationen teil. Normalerweise suchen wir uns einen Ort, an dem es noch keine Sicherheitskräfte gibt. Nach und nach versammeln sich die Leute und wir beginnen zu skandieren: ,Frau, Leben, Freiheit‘ und ,Tod dem Diktator‘. Nach 15 Minuten kommen in der Regel die Sicherheitskräfte und greifen die Demonstrant:innen an. Neben den Sicherheitskräften gibt es noch andere Kräfte, die wir ,Zivilkräfte‘ nennen, eine Gruppe von Männern und Frauen, die sich freiwillig bei den Basidsch-Milizen und der Iranischen Revolutionsgarde für das Überleben der iranischen Regierung einsetzen. Sie sind sehr gefährlich. Denn man kann sie nicht an ihrem Aussehen erkennen. Sie treten in jeder Rolle auf – Taxifahrer, Verkäufer, Ladenbesitzer – und sind der Regierung ständig unterstellt. Diese Gruppen sind überall in der Stadt zu finden. Und sie greifen auch Demonstrant:innen an.

Vor einem Monat wurde eine meiner engen Freundinnen angeschossen. Wir konnten sie nicht in ein Krankenhaus bringen. Denn die Sicherheitskräfte verhaften diejenigen, die bei Demonstrationen angeschossen werden, direkt vor den Krankenhäusern. Also brachte ich sie zum Haus eines Freundes, einem Arzt, und er entfernte die Kugel aus ihrem Bein. Ich habe in diesen Tagen gemischte Gefühle. Manchmal bin ich wütend, manchmal traurig und müde. Ich versuche mein Bestes, um die Hoffnung nicht zu verlieren. Ich versuche, jeden Tag etwas für diese Revolution zu tun. Ich poste in den sozialen Medien, gehe auf die Straße. Aber am Wichtigsten ist, dass ich im öffentlichen Raum keinen Hijab mehr trage. Ich habe keine Angst. Diese Regierung hat uns alle unsere Rechte genommen – sie tötet uns. Warum sollte ich leben, wenn ich nicht die Dinge tun kann, die den Sinn meines Lebens ausmachen? Was ist dann der Unterschied zwischen mir und einem toten Menschen? In gewisser Weise gibt es nichts zu verlieren. Diese Regierung muss weg – koste es, was es wolle.“

Team
Text Ekaterina Bodyagina
Illustrationen FDE
Digitales Storytelling SZ Jetzt