80 Jahre Süddeutsche Zeitung

„Was gibt es Besseres als eine Zeitung, die einem Heimat ist?“

80 Jahre SZ, das ist auch eine lange Geschichte von Vertrauen und Glaubwürdigkeit. Über eine Zeitung im Wandel, die sich selbst treu bleiben muss.

80 Jahre Süddeutsche Zeitung

„Was gibt es Besseres als eine Zeitung, die einem Heimat ist?“

80 Jahre SZ, das ist auch eine lange Geschichte von Vertrauen und Glaubwürdigkeit. Über eine Zeitung im Wandel, die sich selbst treu bleiben muss.

Ein Essay von Kurt Kister
3. Oktober 2025 | Lesezeit: 9 Min.
Kaum einer, der je zu einem Jubiläum der SZ gedankenschwer über diese Zeitung schrieb oder sprach, hat die Geschichte mit Hitler und dem Bleisatz ausgelassen. Sie ist so etwas wie der Gründungsmythos der Süddeutschen Zeitung. Zuletzt erinnerte Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier bei einer vorgezogenen 80-Jahr-Feier der SZ im Juli daran: Aus dem eingeschmolzenen Bleisatz von Hitlers „Mein Kampf“ wurden am 6. Oktober 1945 die Druckplatten der ersten Ausgabe der SZ gegossen. Zwar gab es, wie das in Redaktionen immer der Fall ist, Leute, die hinterher sagten, alles sei ganz anders gewesen und es habe sich gar nicht um das Hitlerblei gehandelt. Allerdings existiert eine Reportage des späteren SZ-Chefredakteurs Werner Friedmann, der dabei war und sah, wie das Naziblei von US-Offizieren, von den Lizenzträgern der Zeitung, aber auch vom frisch ernannten Ministerpräsidenten Wilhelm Hoegner in den Gießofen geworfen wurde.

Für die US-Militärregierung war diese Transformation von Hitlers Buch zur ersten Ausgabe einer freien Zeitung in Bayern ein wichtiges Symbol. Für etliche Deutsche war es das möglicherweise auch. Allerdings empfanden sich die allermeisten Deutschen im Oktober 1945 nicht als befreit, sondern als besiegt – zumal in München, der „Hauptstadt der Bewegung“, in der Hitlers Karriere begonnen hatte. München war, trotz der Weißen Rose und des widerständigen, couragierten Verhaltens Anderer, eine braune Stadt gewesen. Das änderte sich nicht über Nacht. Auch in der Redaktion der neuen SZ saßen einige Männer, die ihre eigene NS-Vergangenheit über Jahrzehnte verschwiegen. Das war in vielen Redaktionen damals genauso.

Und dennoch: Der Wille, die Demokratie zu fördern, die Freiheit mit den Mitteln des Journalismus zu erhalten und zu stärken, die Verantwortung, zu Information und Meinungsbildung der Leserschaft beizutragen – dies alles begann an jenem 6. Oktober vor 80 Jahren. Der Auftrag und die Bereitschaft, dies in der Zukunft fortzusetzen, bleiben bestehen. Sie sind Teil der Identität dieser Zeitung, die sich zwar immer wieder verändert hat, aber auf einem festen Fundament von Werten und Überzeugungen ruht.

Die Zeitung ist alles Mögliche.

Die Zeitung ist alles Mögliche.

Sie ist auch, sehr frei nach Friedrich Schiller, eine moralische Anstalt. Es gibt sie, selbst wenn das mancher Aufsichtsrat anders sieht, nicht in erster Linie, um Geld mit ihr zu verdienen. Die Zeitung ist nicht nur Ware, auch wenn sie in den goldenen Zeiten des Anzeigengeschäfts, etwa vor 40 Jahren, für viele in den Verlagen nur aus Texten zu bestehen schien, zwischen die man Anzeigen platzieren konnte. Auch die SZ war in den ersten sechzig Jahren ihres Bestehens immer wieder eine Lizenz zum Gelddrucken. Nichts gegen wirtschaftlichen Erfolg, solange der Reichtum der damaligen Verleger, der Herausgeber (die gerne auch „Herausnehmer“ genannt wurden), zum Teil auch wieder in Redaktion und Verlag zurückfloss. Das klappte oft, aber nicht immer – nicht zuletzt, weil der Verleger als solcher weniger moralische Anstalt ist als die Zeitung als solche.

Ohne die freie Presse, ohne die Freiheit der Meinungsäußerung, gibt es keine Demokratie

Fast alle Erben der Generation 1945 haben zu einem für sie sehr günstigen Zeitpunkt verkauft. Seit nun auch schon wieder fast zwanzig Jahren hat die SZ andere Verleger, was man durchaus merkt, die Zeitung ist heute „münchnerischer“ als ihre Verleger von Rhein und Neckar. Allerdings wurde die SZ groß, weil ihre Verleger, alte wie neue, immer wieder in sie investierten. Dass die Redaktion ihren Etat trotzdem stets als zu niedrig empfand, ist auch wahr.

Zwar sind „die“ Medien, wie Redenhalter gerne behaupten, nicht die vierte Gewalt im Staat (aus guten Gründen kennt das Grundgesetz nur drei solche Gewalten). Aber ohne die freie Presse, ohne die Freiheit der Meinungsäußerung, gibt es keine Demokratie. Zur Demokratie, zu ihrem philosophischen Überbau wie zur täglichen, schwierigen Umsetzung dieser Staats- und Gesellschaftsordnung, gehören etliche auch moralische Anstalten – die Parlamente, das Justizwesen, die Kunst im weiteren Sinne, soziale Institutionen und auch die Medien.

Nicht alle Medien verhalten sich dabei so, dass man mit ihnen einen Begriff wie „moralische Anstalt“ assoziieren möchte. Die SZ versucht dies seit 80 Jahren. Insgesamt war sie dabei so erfolgreich, dass Hunderttausende ihrer kritischen Leserinnen und Leser sie über Jahrzehnte hinweg als „ihre“ Zeitung empfunden haben. Die SZ ist vom Münchner Lokalblatt zu einer der beiden relevanten, seriösen Tageszeitungen geworden, die immer noch republikweite Bedeutung haben.

Um persönlich zu werden: Ich habe mehr als vierzig Jahre lang bei der Süddeutschen Zeitung gearbeitet. Ich war darauf stolz, die SZ war meine berufliche Heimat, die ich nie verlassen habe. Mein Beruf war mir manchmal wichtiger als mein Privatleben, was ich später bereut habe. Aber diese Zeitung war eben auch für viele Leserinnen und Leser ein Teil ihrer Heimat, jener Heimat, die man im Kopf und im Herzen herumträgt. Trotz mancher Misshelligkeiten habe ich die Arbeit bei der SZ nicht als „entfremdet“ empfunden und sie nie nur als „Job“ verstanden.

Was gibt es Besseres als eine Zeitung, die einem Heimat ist?

Was gibt es Besseres als eine Zeitung, die einem Heimat ist?

Das größte Kapital, das eine Zeitung haben kann, ist nicht der Anzeigenumsatz oder die Reichweite einzelner Texte oder textähnlicher Dinge im Netz. Das größte Kapital mit den besten Zinsen ist das Vertrauen ihrer Leserschaft. Der größte Fehler, den eine Zeitung machen kann, besteht darin, dass sie dieses gewachsene Vertrauen durch mehr oder weniger abrupte Kursänderungen journalistischer, verlegerischer oder scheinbar ökonomischer Natur aufs Spiel setzt. Digitale Reichweite kann man heute durch allerlei Machinationen vergrößern. Verlorenes oder verloren gehendes Vertrauen nicht. In Giuseppe Tomasi di Lampedusas Roman „Der Leopard“ rät der junge Neffe seinem melancholischen, sich von den neuen Zeiten bedroht fühlenden Onkel: „Wenn wir wollen, dass alles bleibt, wie es ist, dann muss sich alles verändern.“ In der SZ, der manchmal melancholischen Achtzigjährigen, wird in den nächsten zehn Jahren nicht viel bleiben können, was vor zehn Jahren noch war. Andernfalls wird es zum Hundertsten keine Jubiläumsartikel mehr geben.

Zeitung als Heimat, als moralische Anstalt, als Demokratieerhalterin? Es mag sein, dass solche Sätze in einer Zeit, in der alles benörgelt, alles ironisiert wird, altbacken, nostalgisch und moralisierend klingen. Und wahrscheinlich gibt es auch nicht wenige SZ-Leserinnen und -Leser, die Tests von Handmixern, Geschichten über Wandererlebnisse mit dem Hund, digitale Sex-Kolumnen oder Serien über „Kraftorte“ nicht unbedingt mit ihrer Vorstellung von „ihrer“ Zeitung vereinbaren können. Die Zeitung hat sich sehr verändert, angefangen damit, dass heute zu ihrer Existenz auf Papier stets die nüchterne Frage gehört: Wie lange noch? Wie lange noch jeden Tag gedruckt von Montag bis Samstag?

Die Zahlen sprechen eine deutliche Sprache. Vor zwanzig Jahren, da feierte die SZ ihren 60., lag die verkaufte Auflage im zweiten Quartal 2005 zwischen Montag und Samstag bei 444 440 Exemplaren. Täglich. Man verkaufte auch damals schon ein E-Paper, für das sich 4207 Käufer fanden. Zehn Jahre später, 2015, zählte man noch 344 406 Print-Abos; das E-Paper beziehungsweise die seit einigen Jahren neu gebaute digitale Zeitung war auf 38 397 gestiegen. Heute, 2025, liegt die Printauflage bei 150 474. Fast 300 000 Zeitungen weniger als vor 20 Jahren. Dafür kommt die SZ digital auf 300 578. Es ist schön, dass die digitale Auflage so steigt. Leider bringt ein Digitalabo deutlich weniger ein als ein Printabo. Eine Redaktion wie die der SZ zu unterhalten, ist teuer. Verkleinert man sie merklich, ist es nicht mehr die SZ.

Wie lange Zeitungen noch auf Papier gedruckt werden, weiß niemand. Die digitale Revolution hat viele Lebensgewohnheiten radikal verändert. Bis in die Nullerjahre des 21. Jahrhunderts war die Zeitung auf Papier Lebensbegleiter vieler Menschen – sei es in der Form des Boulevardblatts mit großen Lettern und kleinen Skrupeln, sei es als Lokalblatt mit Verwurzelung in einer Stadt und örtlicher Fußballberichterstattung, sei es als überregionale Zeitung mit viel Text, moralischen Bedenken gegen alles Mögliche und Büros in Berlin, Washington und Moskau. Man konnte, wenn man sah, was eine oder einer im Bus, im Café oder in der S-Bahn las, auch darauf schließen, welchem Milieu er angehörte, und manchmal auch darauf, wo er oder sie politisch stand.

Heute liest kaum jemand mehr Zeitungen in der Bahn oder im Café. Die Leute schauen in ihr Mobiltelefon, immer und überall. Das Smartphone ist das zentrale Kommunikationsgerät geworden. Mehr noch: Es ist der Tagesbegleiter und bei vielen der Tagesbestimmer. Manche beschäftigen sich ein paar Minuten lang auch mit den Webseiten der SZ, der FAZ oder der Zeit, der „Tagesschau“ oder des Spiegel. Das sind aber im unübersehbaren Chor dessen, was man alles aus dem Netz tönen lassen kann, nur einzelne Stimmen. Das Oligopol der Information, Themenauswahl, Bewertung und Erklärung, das Rundfunk und Fernsehen, Zeitungen und Magazine lange hatten, gibt es so nicht mehr. Jeder ist im Netz sein eigener Gatekeeper – wenn diese Aufgabe nicht längst ein Algorithmus übernommen hat.

Zwar ergeben Umfragen immer noch, dass die sogenannten etablierten Medien Glaubwürdigkeit und Vertrauen genießen. Das ist gut, und es ist wichtig für die Zukunft dieser Medien, auch für die der SZ. Und dennoch wird es deutlich schwieriger werden, in den nächsten zwanzig Jahren eine gute, anspruchsvolle und wirtschaftlich halbwegs erfolgreiche Zeitung zu „machen“, als es dies in all den Jahren zwischen 1950 und 2010 war. Nein, leicht war es in diesen Jahrzehnten auch nicht. Aber es gab die als sicher erscheinende Grundlage: Eine gut gemachte Zeitung, gedruckt auf Papier, lässt sich mit Anzeigen und Abonnements sowie den Erlösen aus dem Einzelverkauf finanzieren. Diese Grundlage ist perdu.

Eine Zeitung wie die SZ wird auch heute noch ökonomisch zu erheblichen Teilen von den Abonnements der Printleser getragen. Die meisten der Leser und Leserinnen mit Print-Abos gehören der sogenannten Boomer-Generation an; nicht wenige der Abonnenten sind älter als die SZ selbst. Sie sind als Printleserinnen und Zeitung-im-Briefkasten-Haber aufgewachsen und für sie gehört „ihre“ Zeitung immer noch zu ihrem Leben. Viele von ihnen nutzen die SZ auch digital, bleiben aber dem Gedruckten treu trotz mancherlei Unmuts (zu dünn, zu wenig Lokales, zu wenig Konzertkritiken, zu viel Betroffenheitsgelaber). Möge Gott, der älter ist als alle Boomer und selbst als Jürgen Habermas und auch deswegen ein Zeitungsleser sein könnte, dafür sorgen, dass die Boomer noch lange leben. Und möge er den Verlagsgeschäftsführern und Digitaltransformationsoffizieren die Erkenntnis schenken, dass man trotz allem bei einer Vernachlässigung der gedruckten Zeitung etwas verliert, was man nie wieder gewinnt.

Die Art der Verbreitung entscheidet nicht über die Qualität des Verbreiteten

Aber die Zukunft der Zeitung kommt nicht aus den Druckmaschinen. Zwar wird es die gedruckte Zeitung noch länger geben, als manche befürchten. Die Qualität dessen, was die SZ all die Jahrzehnte ausgemacht hat, hängt glücklicherweise nicht davon ab, ob man einen Text auf Papier, auf dem Tablet oder auf dem Telefon präsentiert. Eine gut geschriebene Reportage, ein präzise argumentierender Leitartikel, eine originelle Analyse, eine ironische Glosse, ein Feuilletonaufsatz, bei dem nicht der Autor, sondern die Idee im Mittelpunkt steht – all diese Texte bleiben interessant, lesenswert, auch unterhaltsam, egal ob sie mit dem Federkiel, der Schreibmaschine oder dem Laptop geschrieben wurden. Und dasselbe trifft auf das Medium zu: Ein Bildschirm ist eine Zeitungsseite ist ein E-Reader und wird demnächst irgendetwas sein, von dem wir noch nicht wissen, dass wir in sieben Jahren mit ihm Texte lesen.

Das digitale Denken und Arbeiten ist anders, als es lange in den analogen Jahren der Fall war. Die Zeitung aber – und damit ist alles vom Gedruckten über das E-Paper bis zur Zeitung auf Social Media gemeint – ist nicht analog oder digital. Sie ist beides.

Das digitale Denken und Arbeiten ist anders, als es lange in den analogen Jahren der Fall war. Die Zeitung aber – und damit ist alles vom Gedruckten über das E-Paper bis zur Zeitung auf Social Media gemeint – ist nicht analog oder digital. Sie ist beides.

Die Art der Verbreitung entscheidet nicht über die Qualität des Verbreiteten. Allerdings müssen Redaktionen aufpassen, dass sie sich von den Besonderheiten einzelner Verbreitungswege nicht zu Dingen verleiten lassen, die nicht zum Image oder gar zur Identität der Zeitung passen. Eine bei Tiktok tanzende Chefredakteurin, ein Aufsatz zu Habermas’ Alterswerk in Einfacher Sprache oder die „Erklärung“ komplexer Zusammenhänge in Schnipsel-Videos mögen kurzfristig Reichweite schaffen, mittelfristig aber beschädigen sie die Besonderheit der Zeitung. Man darf nicht alles machen, was geht. Und vor allem nicht das, was alle machen.

Die SZ ist 80 Jahre alt geworden, weil sie anders war als viele andere. Sie ist seriös, aber etwas gelassener. Sie ist anspruchsvoll, will aber auch, dass ihre Leserschaft lächelt, manchmal sogar lacht. Sie bietet auch Texte an, die nicht auf Reichweite geschrieben sind. Sie kann schrecklich belehrend sein, was man ihr nur verzeiht, weil man als regelmäßiger Leser weiß, dass ihre Zeigefingerschüttler auch anders können, die meisten jedenfalls. Sie ist in ihrer manchmal grandiosen Unvollkommenheit das, was man lesen möchte. Nicht nur, weil man wissen will, was los ist, sondern weil man gerne liest.

Das alles ist die SZ. Egal in welcher Darreichungsform.

Text: Kurt Kister; Digitales Storytelling: Christian Tönsmann; Illustration: Dirk Schmidt

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