Schwerpunkt Zuversicht

„Man kann ja nicht die ganze Zeit Angst haben“

Sophie von der Tann berichtet als Auslandskorrespondentin der ARD über die Krise in Nahost und die humanitäre Katastrophe in Gaza. Ein Interview über journalistische Unabhängigkeit, Stressresilienz in Kriegszeiten und ihren Alltag in Tel Aviv. 

Ein Interview in Video und Text von Franka Bals
30. April 2025 | Lesezeit: 8 Min.

Wenige Tage vor ihrem Urlaub nimmt sich Sophie von der Tann eine Stunde Zeit, um mit der Süddeutschen Zeitung über ihren Alltag als Kriegskorrespondentin zu sprechen.

Vormittags ist sie am besten zu erreichen, am Nachmittag könne jederzeit ein Auftrag der „Tagesthemen“ dazwischenkommen, sagt die 34-Jährige. Überpünktlich schaltet sie sich in den Videocall zwischen Tel Aviv und München.

SZ: Seit fünf Jahren sind Sie Nahost-Korrespondentin der ARD. Seit anderthalb Jahren herrscht dort Krieg – waren Sie selbst seit dem 7. Oktober 2023 im Gazastreifen?

Es ist also nicht immer so leicht, die Wahrheit zu ermitteln. Wem können Sie vertrauen?

Wir haben oft die Situation, gerade mit Blick auf den Gazastreifen, dass wir nicht genau wissen, was passiert ist, weil wir es nicht unabhängig überprüfen können. Wir haben zwar Mitarbeiter im Gazastreifen, aber die können nicht jederzeit überallhin, weil es zu gefährlich ist. Dann stehen wir oft vor der Situation, dass wir die verschiedenen Positionen abbilden, aber die Lage nicht selbst überprüfen können. Das ist total frustrierend. Hilfsorganisationen, mit denen wir in Gaza in Kontakt sind, können uns zum Beispiel bei der Einschätzung helfen.

Wissen Sie noch, was Sie gemacht haben, als Sie von dieser Tour zurückkamen?

Ich habe an dem Abend in Tel Aviv eine israelische Freundin getroffen, war mit ihr was trinken und habe ihr davon erzählt. Sie hat viele Fragen gestellt, und da habe ich dann erst angefangen, eigentlich zu verarbeiten, was ich gesehen habe. Wie krass das war, diese massive Zerstörung und diese Menschenleere in Gaza-Stadt. Ich hatte es vorher schon einmal ganz anders erlebt.

Begleiten Sie solche Eindrücke länger?

Krieg in Gaza, Feierabendbier in Tel Aviv – was macht diese Gleichzeitigkeit mit Ihnen?

Es ist hart, mit diesen Kontrasten zu leben. Dass ich mich tagsüber mit dem beschäftige, was im Gazastreifen passiert, mit dem immensen Leid dort und auch die Verzweiflung der Geiselangehörigen erlebe. Dass ich im Westjordanland unterwegs bin und dort auch viel Leid und Gewalt mitbekomme. Dass ich dann in Tel Aviv ein ziemlich privilegiertes Leben führe, wo ich – wenn ich wollte – alles ausblenden könnte.

Sie sprechen von einem privilegierten Leben in Tel Aviv. Wie kann man sich den Alltag in der Stadt gerade vorstellen?

Nach dem 7. Oktober waren die Stadt und das ganze Land natürlich in einem kompletten Schockzustand. Danach ging das Leben langsam weiter, jeder versucht, irgendwie klarzukommen, sich abzulenken. Mittlerweile ist die Stadt wieder pulsierend und lebendig, aber man sieht auch an vielen Orten Plakate, die an die Geiseln erinnern.

Sie scheinen die Schicksale der Menschen dort aber nicht auszublenden.

Sie scheinen die Schicksale der Menschen dort aber nicht auszublenden.

Das ist eine Balance, die man irgendwie halten muss. Empathisch sein, sich auf Gesprächspartner einlassen und gleichzeitig eine professionelle Distanz wahren. Das ist die größte Herausforderung.

Was ist Ihr Eindruck, wie blicken die Menschen vor Ort gerade in die Zukunft?

Und die große Frage nach einer Lösung des Konflikts, wie wird darüber gesprochen?

Das ist so weit weg. Das war allerdings auch vor dem 7. Oktober schon ganz weit weg. Es ging eher darum, den Konflikt zu verwalten, als ihn zu lösen. Begriffe wie Lösung, Frieden, Friedensverhandlungen, die kommen aus einer Zeit, als der Oslo-Prozess Anfang der 1990er-Jahre noch im Hinterkopf war (der Versuch, den Nahostkonflikt durch direkte Verhandlungen zwischen Israel und der Palästinensischen Befreiungsorganisation zu lösen; Anm. d. Red.). Da gab es mal ein Momentum für eine langfristige Perspektive. Besonders seit dem 7. Oktober und dem Gaza-Krieg erlebe ich auf beiden Seiten komplette Perspektivlosigkeit. Und die Zwei-Staaten-Lösung, um die es damals ging, ist quasi tot, sagen viele. Das israelische Parlament hat sich zuletzt auch mit großer Mehrheit dagegen ausgesprochen. Außerdem leben rund 500 000 israelische Siedler im Westjordanland. Wie soll da ein palästinensischer Staat entstehen? Gleichzeitig haben radikale Gruppen im Westjordanland Zulauf.

Mit einer scheinbar so aussichtslosen Perspektive – was, denken Sie, treibt die Menschen an, weiterzumachen?

Das menschliche Bedürfnis, zu leben. Man kann ja nicht die ganze Zeit Angst haben und denken, wie soll das denn hier alles weitergehen? Das beobachte ich auch hier: Die Menschen leben irgendwie weiter und versuchen, sich im Alltag einzurichten. So schwer es an manchen Orten sein mag. Ich erlebe aber auch, dass Menschen hier in Israel, gerade im linken, liberaleren Tel Aviv sagen: Ich sehe hier keine Perspektive mehr für meine Kinder, ich sehe keine Hoffnung auf eine gute Zukunft, der politische Rechtsruck macht mir Angst – ich verlasse das Land.

Gab es denn Momente der Zuversicht? Zwischenzeitlich wurden eine Waffenruhe und Geisel-Deals vereinbart.

 Glauben Sie noch an das Gute im Menschen?

Ich bin nicht mit dem Glauben hergekommen, dass innerhalb der fünf Jahre, die ich hier bin, alles besser wird. Als ich herkam, habe ich mir schon gedacht: Das ist ein ungelöster Konflikt mit sehr viel Gewaltpotenzial, und es ist gut möglich, dass es hier irgendwann mal komplett eskaliert.

Also blicken Sie jetzt genauso auf die Welt wie vor fünf Jahren?

Was mich mehr erschüttert, ist diese Ballung. Der Krieg in der Ukraine, der Krieg hier. Jeden Tag irgendwelche krassen Sachen, die Trump macht und damit die ganze Welt durcheinanderwirbelt. Das ist das, was mir eigentlich Sorgen macht. Auf eine gewisse Art und Weise habe ich den Glauben an die internationale Rechtsordnung verloren. Länder wie Deutschland pochen immer so sehr auf das Völkerrecht. Aber wir sehen an so vielen Orten und besonders auch hier, dass das in der Praxis immer wieder verletzt wird. Und das ist beängstigend. Ich habe das Gefühl, diese Nachkriegsordnung, in der ich aufgewachsen bin, zerfällt.

Gibt es Strategien, die Ihnen helfen, mit diesem Gefühl umzugehen?

Man muss sich Auszeiten nehmen. Auch wenn man sich da
vielleicht ein bisschen guilty fühlt und sich denkt: Gott, es passiert so viel Schlimmes – und ich sitze hier und trinke ein Glas Wein. Aber man braucht diese Auszeiten, um weiterzumachen. Das Handy weglegen, Sport machen, mit Freunden ausgehen.

Und wie gut schaffen Sie es jetzt wirklich, abzuschalten?

Und wie gut schaffen Sie es jetzt wirklich, abzuschalten?

Ich bin nicht so gut darin, komplett alles abzuschalten. Ich brauche ein paar Tage, um irgendwo anders anzukommen und mich rauszunehmen aus diesem Nachrichten-Hamsterrad, in dem ich sonst bin.

Besonders bei jungen Menschen zeichnet sich dieser Trend der Nachrichtenmüdigkeit ab. Kennen Sie das Gefühl?

Ich kann komplett nachvollziehen, dass man irgendwann nicht mehr die Kraft hat, sich diese Bilder die ganze Zeit anzuschauen. Und es geht mir manchmal auch so, wenn ich wieder einen Beitrag für die „Tagesschau“ schneiden muss mit fürchterlichen, auch sehr expliziten Bildern von Trümmern und Leichen. Dann kann man Momente haben, wo es einem wirklich nahegeht. Oder man schottet sich fast ein bisschen ab. Aber ich kann dann nicht sagen, das Thema blende ich aus. So wie auch Menschen, die betroffen sind, nicht sagen können, das interessiert mich nicht.

Als Korrespondentin in einem Krisengebiet produzieren Sie schlechte Nachrichten am laufenden Band. Sehen Sie sich auch als Teil des Problems, dass sich insbesondere junge Menschen von klassischen Nachrichten abwenden?

Es liegt leider oft in der Natur von Nachrichten, dass dann hingeschaut wird, wenn etwas Schlimmes passiert. Und in den kurzen „Tagesschau“-Beiträgen habe ich nicht den Raum, die vielschichtige Realität abzubilden: Da feiern Menschen gerade eine Hochzeit, dieses Café hat gerade aufgemacht. Ich versuche, über Social Media mehr zu zeigen, aber ich überlege mir sehr genau, was ich poste. Es käme komisch rüber, wenn ich Strandfotos aus Tel Aviv ohne Kontext posten würde.

Berichterstattung über den Nahen Osten wird viel kritisiert, ganz besonders auf Social Media. Wie sehr trifft Sie das?

Der Druck ist groß, weil das ein extrem polarisierendes Thema ist. Es gibt Lobbygruppen, die sehr laut sind und versuchen, sich viel Gehör zu verschaffen. Und man wird von sämtlichen Seiten immer wieder, gerade auch auf Social Media, angegriffen. Ich bin natürlich offen für Feedback. Aber der Hass auf Social Media und die Versuche, gezielt Berichterstattung zu beeinflussen, Journalisten einzuschüchtern, davor muss man sich schützen. Manchmal darf man sich das einfach nicht durchlesen.

Es gibt ja durchaus konstruktive Kritik.

Es gibt ja durchaus konstruktive Kritik.

Die nehme ich mir sehr zu Herzen. Von hier zu berichten, ist eine große Herausforderung, gerade wenn man komplexe Themen auf einen kurzen Fernsehbeitrag runterdampfen muss. Da muss man ganz viele Entscheidungen treffen, das ist nicht einfach. Wir beraten uns dabei auch im Kollegenteam. Und ich beschäftige mich schon seit Längerem intensiv mit dem Nahen Osten, habe Wissen und Erfahrung gesammelt, worauf ich zurückgreifen kann. Selbstverständlich bin ich offen für konstruktive Kritik. Aber man darf sich nicht von allem aus der Bahn werfen lassen, dann ist es sehr schwer, über dieses Minenfeld Nahostkonflikt zu berichten.

Sie haben Theologie, Orientalistik und Internationale Geschichte in Oxford, New York und London studiert. Sie sagen, es sei schon immer Ihr Traum gewesen, Korrespondentin zu werden. Gab es trotzdem einen Moment, an dem Sie mal bereut haben, nach Israel gegangen zu sein?

Es gibt natürlich Momente, wo man hadert, wo es sehr anstrengend ist, man vieles aushalten muss. Das hat nie dazu geführt, dass ich es bereut habe, auf gar keinen Fall. Aber klar, manchmal habe ich mir gedacht: Ich brauche eine Auszeit, ich muss mal raus.

Und Ihr privates Umfeld? Wissen Familie und Freunde ganz genau, was Sie jeden Tag machen, oder musste für die Eltern auch schon mal eine Notlüge her?

Während meine Eltern Weihnachten zu Besuch waren, bin ich für die Arbeit sehr spontan nach Tulkarem gefahren – das ist einer der gefährlichsten Orte im Westjordanland. Bei einer Beerdigung sind wir für ein Interview sehr nah an militante Palästinenser herangekommen. Das kann extrem gefährlich sein, weil sie gesucht werden und das israelische Militär jederzeit angreifen kann. Das habe ich meinen Eltern damals nicht in allen Einzelheiten erzählt. Das war auch ganz gut so. Aber in der Regel bin ich sehr offen. Meine Familie vertraut mir, die waren schon oft hier und können es dadurch ein bisschen besser einordnen.

Über Sie wird oft gesagt, dass Sie als junges Gesicht in der Berichterstattung auffallen. Nervt dieser Stempel?

Über Sie wird oft gesagt, dass Sie als junges Gesicht in der Berichterstattung auffallen. Nervt dieser Stempel?

Mich ehrt es natürlich, dass ich als junges Gesicht wahrgenommen werde, weil ich mittlerweile schon ein paar Falten bei mir entdecke, auch dank dieser intensiven Berichterstattung. Aber die Tatsache, dass das offenbar so wahrgenommen wird, spricht eher dafür, dass das wohl noch nicht normal ist in Deutschland – Frauen in meinem Alter in solchen Jobs. Wenn ich mich hier mit den anderen internationalen Korrespondentinnen und Korrespondenten vergleiche, sind viele in einem ähnlichen Alter. Interessanterweise sind es übrigens selten junge Menschen, die mich darauf ansprechen, dass ich angeblich jung bin und offensichtlich weiblich.

Wie geht es für Sie weiter?

Ich bin jetzt noch ein gutes Jahr hier in Israel. Obwohl ich nie mit der Perspektive hergekommen bin, hier mein Leben zu verbringen, wird es mir sicher schwerfallen zu gehen. Ich habe mir ein Leben aufgebaut und Freunde gefunden, Israelis und Palästinenser.

Projektteam
Text Franka Bals
Digitales Design & Storytelling Joana Hahn
Video Franka Bals
Redaktion Max Fluder, Torben Kassler, Christian Mayer
Schlussredaktion Konstanze Oesterheld

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