Wenn es an einem gefehlt hat im Krisen- und Erschöpfungsjahr 2022, dann am Mangel. Schon klar: Es hat auch an Hustensaft gefehlt, an Dämmplatten, freien Betten in Kinderkliniken und natürlich an Gas. Das sind messbare Mängel, manchmal nur Lieferkettenprobleme der Amazon-Gesellschaft. Aber wirklich gemangelt hat es an Mangel: an der Leere, der Ödnis, dem emotionalen Vakuum, dem Nichts. Der Mangel an Mangel – vielleicht ist es das beherrschende Phänomen dieser Zeit und ganz bestimmt dieser Jahreszeit. Wie gerne also würde man wieder den Mangel spüren, die Unterforderung, die Langeweile des Lebens.
Kann niemand behaupten, dass es langweilig gewesen wäre in einem Jahr, das vom Krieg bis zu Winnetous identitätspolitscher Unverträglichkeit unendlich viele Ereignis- und Erregungszyklen bereithielt, die keine menschliche Sensorik verkraften kann. Praktischerweise hat die Psychologie dafür ein neues Krankheitsbild geschaffen: die Medien-Müdigkeit oder News-Fatigue, die Überladung des menschlichen Gehirns mit der Krisenlast, was zu Erschöpfung und Apathie führen kann. Die Symptome: Stress, empathische Dysfunktion, ein Nachrichten-Burnout, ein Abschaltbedürfnis von dieser Welt.
In diesem Jahr wurde Apokalypse nicht mehr in Toilettenpapier bemessen, sondern in Ster Holz
Auch die Zahlen unterstützen die Diagnose: Übers Jahr betrachtet ging in den Medienhäusern die digitale Lesequote zurück, der Umsatz bei Sachbüchern sank. Donald Trumps Wütereien und die Pandemie wurden vor zwei, drei Jahren noch gierig aufgesaugt, jetzt verweigert sich das Publikum. Krisen-Overload, maximale Zuladung erreicht.
Es macht die Sache nicht leichter, dass mit der Ereignisdichte die Hysterie wächst, dass der Puls also viel zu rapide nach oben schnellt. Bis hin zum Weltuntergang gibt es ja hinreichend viele Erregungsoptionen: Impfzwang, Genderei, Katar, Baerbocks Barfüßigkeit. In außenpolitischen Fachzeitschriften wird ein „Zeitalter der Unsicherheit“ ausgerufen – als ob es jemals das Zeitalter des ewigen Friedens gegeben hätte.
Bei allem Respekt vor den Tagesnöten: Krisenjahre gab es immer, stets wurden sie in Echtzeit als bedrückend und unübertroffen empfunden, in der Erinnerung aber verklärt. Der Umgang mit dem weltpolitischen Grunddröhnen scheint besonders den Deutschen schwerzufallen, die in den Disziplinen Selbstmitleid und Endzeitfantasie besondere Fähigkeiten entwickelt haben, auch wenn die Apokalypse in diesem Jahr weniger in Toilettenpapierrollen als in Ster Holz bemessen werden musste.
Zur Besonderheit der deutschen Diskussionsgesellschaft gehört jedenfalls, dass der Anflug von Krise mit der Zahl der Parteivorsitzenden und Sonderbeauftragten der Bundesregierung multipliziert, anschließend von Verbänden und Interessensgruppen in Potenz genommen und zum Schluss durch eine glücklicherweise noch immer üppig vorhandene Medienlandschaft in die Breite gespült wird. So findet selbst die Internationale Vereinigung für den Kombinierten Verkehr Schiene-Straße (UIRR) ihr Plätzchen im Meinungsgetöse („fordert Vorrang für Energie-Züge“), und auch der Verband der Diagnostica-Industrie darf nicht fehlen (verlangt nach einem flächendeckenden Abwassermonitoring, zur Eindämmung der Pandemie). Da wird also gefordert, gemahnt, verlangt und kritisiert, bis das Internet voll ist – angeführt vom Bundespräsidenten, der von Amts wegen der größte Forderungsbagger im Tagebau der Klagegesellschaft sein darf („Steinmeier fordert mehr Mut zur Demokratie“).