



Manchmal fühlt es sich für Anna Visser an, als hätte sie ihr eigenes „Eat Pray Love“ kreiert. Ebenso wie Julia Roberts im Film, hat sie sich in der Mitte des Lebens auf die Reise gemacht, um ihren Platz in der Welt zu suchen.
Gefunden hat sie ihn in einem kleinen spanischen Dorf namens Pendueles, etwa 80 Kilometer westlich von Santander, an der Atlantikküste. Mit überkreuzten Beinen sitzt sie auf einer grünen Couch, unter ihrem Sommerrock mit Leopardenmuster blitzen Cowboyboots hervor. Die Couch steht vor einer Pilgerherberge. Ihrer Pilgerherberge.
Im Januar hat die gebürtige Niederländerin ihren fünfzigsten Geburtstag gefeiert. Jetzt ist sie ein Jahr älter als ihr Partner, bevor er starb.
Der Tod ihres damaligen Lebensgefährten kam plötzlich und unerwartet. Herzinfarkt. „Ich wusste nicht, was ich machen sollte. Wie mein Leben aussehen würde oder wie ich das Leben wieder genießen könnte“, sagt Visser. Man merkt ihr auch vier Jahre später noch an, wie schwer diese Zeit für sie war. Der Gedanke daran, von nun an allein durchs Leben zu gehen, war unerträglich.

Die Mutter dreier Kinder hat damals nur ein Ziel: den Alltag bestehen, irgendwie nach vorne blicken. Sie erinnert sich an den Jakobsweg, den sie früher schon einmal gelaufen ist. Dort muss sie wortwörtlich einen Fuß vor den anderen setzen.

Als sie das erste Mal seit langer Zeit wieder richtig lacht, erschrickt sie. Endlich fühlt sie wieder etwas anderes als Trauer. „Der Camino hat mir mein Leben wiedergegeben.“
Sie liebt alles am Pilger-Leben. Nur das Nötigste auf dem Rücken zu tragen, Menschen aus der ganzen Welt zu treffen.

Jedes Jahr machen sich knapp eine halbe Million Pilger aus der ganzen Welt auf den Weg nach Santiago. Und von Jahr zu Jahr werden es mehr. Allein der Bestseller „Ich bin dann mal weg“ von Hape Kerkeling stand 100 Wochen auf Platz 1 der Bestseller-Liste, verkaufte sich fünf Millionen Mal.
Die Route, so wie sie heute noch auf dem Hauptweg Camino Francés begangen wird, entstand in der ersten Hälfte des 11. Jahrhunderts und war ursprünglich ein religiöser Pfad zum angeblichen Grab des Apostels Jakobus. Heute sind es vor allem kulturelle und spirituelle Erfahrungen, die auch Pilger ohne christliche Prägung in Scharen anlocken. Die Dichte der Sinnsuchenden in persönlichen Umbruchphasen ist hoch.
Am liebsten will sie für immer auf dem Jakobsweg bleiben
Auch Anna Visser schenkten die gelben Pfeile vor allem eines: Orientierung. Denn die hatte sie zeitweise verloren. Am liebsten wäre sie nach ihrer Reise einfach auf dem Camino geblieben.

Zurück in den Niederlanden sträubt sich alles in ihr dagegen, einfach weiterzumachen wie zuvor. Wieder als Moderatorin und Medienmanagerin arbeiten? Auf keinen Fall!
Im Internet beginnt sie, nach Pilgerherbergen zu suchen, die zum Verkauf stehen. In Spanien zu leben, davon hatte sie immer schon geträumt. Sie nimmt Kontakt zum Besitzer einer Herberge in Asturien auf und fährt noch in derselben Woche zur Besichtigung.

Die Unterkunft liegt direkt am Jakobsweg Camino del Norte. Er führt von Irun an der spanisch-französischen Grenze knapp 850 Kilometer entlang der Nordatlantikküste Spaniens bis ganz in den Westen des Landes.
Sofort verliebt sie sich in die schneebedeckten Berge und das wilde Meer.

„Zumindest für jetzt bin ich wirklich an dem Ort angekommen, an dem ich sein will.“
Drei Jahre ist es jetzt her, seit sie das ziegelrote Haus mit dem gelben Schriftzug „Albergue Aves de Paso“ übernommen hat. „Herberge der Zugvögel“ heißt der Name übersetzt.



Traditionelle Pilgerunterkünfte sind häufig eher spartanisch eingerichtet, aber der Hospitalera Anna Visser ist es wichtig, dass die Pilgernden sich in ihrer Herberge wohlfühlen.

Die Tür der Herberge ist offen, leise dringt Indie-Musik nach draußen. Die Vögel zwitschern, in der Ferne hört man die Autos auf der Schnellstraße. Für die heutige Nacht haben sich sechs Pilgerinnen und Pilger angekündigt.



Dafür andere Dinge. Zum Beispiel wertvolle Begegnungen mit Menschen aus der ganzen Welt. Manchmal entstehen daraus auch Freundschaften.
Francesco zum Beispiel, der an diesem Nachmittag als einer der ersten Pilger am großen Holztisch Platz nimmt, hat schon öfter hier übernachtet.

Und noch etwas hat sie, wie Julia Roberts im Film, auf dem Camino gefunden. Etwas, wonach sie gar nicht mehr zu suchen gewagt hat: eine neue Liebe.
Es ist ein Tag im Juni, Visser hat die Herberge gerade seit zwei Monaten eröffnet, da steht auf einmal ein Pilger aus Belgien vor der Herbergstür.

Fragt man den großen schönen Mann selbst, erzählt Sébastien Janssens seine Ankunft vor zwei Jahren so: Er habe sich damals auf die grüne Couch vor dem Haus fallen lassen, dort, wo er auch heute wieder sitzt. Zu seiner Mitreisenden habe er in seinem nicht perfekten Englisch gesagt, dass er hier immer sitzen wolle.

Die beiden verstehen sich auf Anhieb, er macht viele Witze, bringt sie zum Lachen. Im Gespräch finden sie heraus, dass sie ihre Begeisterung für das spanische Leben und den Camino teilen. Auch Janssens ist bereits mehrfach nach Santiago gelaufen.
Anna Visser spürt seit Längerem erstmals wieder eine Verbindung, fühlt sich von ihm angezogen. Am nächsten Morgen bricht der Belgier jedoch wieder auf, pilgert weiter. „Als er ging, habe ich gedacht: Mir gefällt nicht, dass ich diesen Mann nie wiedersehen werde“, sagt Anna Visser.
Aber Pilger und Hospitalera – kann das gutgehen? Sollte sie nicht Distanz wahren, so wie ein Arzt zu seinem Patienten? Absurd, aber solche Gedanken gehen ihr damals durch den Kopf. Die sonst so selbstbewusste Frau ist plötzlich verunsichert. Sie fragt eine Freundin um Rat. Dann nimmt sie ihren Mut zusammen und schickt ihm eine Nachricht.
Einige Tage später treffen sie sich in der 120 Kilometer entfernten Stadt Oviedo. Nach einem gemeinsamen Abend trennen sich ihre Wege erneut. Janssens hat nur noch wenige Tage, bevor sein Urlaub endet. Er verzichtet darauf, den Camino in Santiago zu beenden, schaut stattdessen noch mal bei Anna Visser vorbei.
Zwei Monate später kehrt Sébastien Janssens nach Spanien zurück, die beiden verbringen einige schöne Tage miteinander. Kurz vor der Abreise, als sie zusammen vor der Herberge stehen, da fällt es ihnen auf: Auf dem blauen Schild über der Eingangstür sind genau die beiden Zeichen abgebildet, die sie bereits auf der Haut tragen - sie ein Vogel-Tattoo auf dem Handgelenk, er eine Jakobsmuschel auf seinem Unterarm.

Für eine Frau, mit der er bis dahin gerade mal acht Tage verbracht hat, kündigt Sébastien Janssens seinen Job in Belgien und zieht zu ihr in das 250-Einwohner-Dorf Pendueles. „Eigentlich bin emotional eher verschlossen“, sagt Janssens über sich selbst.
Er habe sehr mit sich gerungen. Aber dann hörte er einfach nicht auf die Stimme der Angst in ihm. Anna habe ihm die nötige Sicherheit und das Vertrauen gegeben, es trotzdem zu versuchen. „Wenn du die Augen schließt und das Licht irgendwo siehst, musst du dahin gehen.“ Also ging er.
Die Welt jeden Tag aufs Neue bereisen
Am nächsten Morgen steht Anna Visser um kurz nach sieben schon in der Küche. Draußen ist es noch dunkel. Zu spanischer Musik summt sie leise vor sich hin, während der Kaffee in der Maschine blubbert. Über ihr knarzen die Holzdielen unter den Füßen der erwachenden Pilger.


Sie hält kurz inne, sagt, dass sie sich immer noch als Pilgerin sehe. „Auch wenn ich nicht auf dem Camino laufe, bin ich immer noch auf dem Camino.“ Ihr Traum, für immer auf dem Jakobsweg zu sein, er hat sich tatsächlich erfüllt. „Zumindest für jetzt bin ich wirklich an dem Ort angekommen, an dem ich sein will.“
Nach und nach kommen die Pilger herunter, setzen sich zu Anna an den Tisch.


Nachdem sich alle wieder auf die Reise gemacht haben, räumt sie die Spülmaschine ein. „Life is good, life is good“, singt sie. Sie könnte sich keine schönere Tätigkeit vorstellen.

Sébastien Janssens tritt zur Tür herein, holt sich einen Kaffee, gibt seiner Freundin einen Kuss auf die Wange. Die setzt sich nach getaner Arbeit draußen auf das grüne Sofa. Wenn ihr Leben ein Film wäre, dann würden jetzt die ersten Sonnenstrahlen auf ihr Gesicht scheinen.
