Die Nachtigall auf Techno

Was ist es nur, das uns daran so fasziniert? Sarah Darwin weiß es. Eine Begegnung mit der Künstlerin, Botanikerin und Ur-Ur-Enkelin von Charles Darwin im Museum für Naturkunde in Berlin.

Die Nachtigall auf Techno

Was ist es nur, das uns daran so fasziniert? Sarah Darwin weiß es. Eine Begegnung mit der Künstlerin, Botanikerin und Ur-Ur-Enkelin von Charles Darwin im Museum für Naturkunde in Berlin.

28. März 2025 | Lesezeit: 6 Min.

Drücken Sie auf den braunen, runden Audio-Knopf, um während der Lektüre den Gesang der Nachtigall zu hören. 

Noch schöner wäre jetzt nur ein Spaziergang durchs nächtliche Berlin. Vom Friedhof St. Emmaus zum Friedhof St. Simeon, diesem breiten Grünstreifen unweit des Tempelhofer Feldes. Durch die Parkanlagen von Schloss Charlottenburg mit ihrem uralten Baumbestand. Den Tiergarten am Brandenburger Tor, mein Gott, was wäre das für ein Soundtrack: das Flüstern der Liebespaare, das Lallen der Bekifften und Besoffenen, die Boom-Boom-Boxen der Partykids, eingebettet ins Rauschen und Hämmern und Gellen der Stadt, und über alldem – Nachtigallengesänge. In der Abschrift des Naturforschers Johann Matthäus Bechstein: Spe tui squa. Tio, tio, tio, tio, tio, tix. Qutio, qutio, qutio, qutio. Zquo, zquo, zquo, zquo. Tzü, tzü, tzü, tzü, tzü, tzü, tzü, tzü, tzü, tzi. Quorror tiu squa pipiquisi. Zozozozozozozozozozozozo, zirhading!

Doch leider, es ist Ende März. In Ghana bereiten sich die Berliner Nachtigallen gerade erst auf die Rückreise vor, zunächst die Herren. Wenn sie Ende April in der Hauptstadt ankommen, machen sie sich auf die Suche nach einem herausragenden Performance-Platz, von dem aus sie die etwas später eintreffenden Damen vom Himmel singen, nein, sagen wir ruhig: sie mit Techno-Klängen von bis zu 95 Dezibel (das WRRUUUUmmmm einer Kettensäge) so lange beschießen werden (bis zu 20 Stunden am Tag), bis die Girls quasi willenlos ins Grünzeug fallen und Sex wollen.

Stattdessen: ein „Küche“ genannter Raum im Berliner Museum für Naturkunde an einem stillen Montagnachmittag im März. Sarah Darwin, 60, kocht Tee. Johannes Vogel, 61, isst am Tisch ein Sandwich. Das in der „Küche“ vorhandene Wissen über das globale Ökosystem, dessen herzzerreißende Schönheit und beklemmende Fragilität übertrifft damit mutmaßlich alles, was man in anderen Räumen an anderen Orten bisher vorgefunden hat. Er ist Botaniker, seit 13 Jahren Generaldirektor des Museums für Naturkunde, eine Koryphäe in Sachen Artenschutz; niemals komplett ohne die Erwähnung seines Schnurrbarts (25 Zentimeter von Spitze zu Spitze, grob geschätzt). Sie ist Künstlerin, Botanikerin, Britin und die Ururenkelin von Charles Darwin. Zusammen sind sie, wie die SZ mal schrieb, „so etwas wie das Traumpaar der Naturforschung“. Miteinander verheiratet, das auch.

Gemeinsam haben sie bei Ullstein soeben „Das Parlament der Natur“ veröffentlicht, eine Sammlung von Interviews, die der SZ-Reporter Boris Herrmann mit ihnen geführt hat über, mal hoch gegriffen: die Rettung der Welt. Klug, aufrüttelnd, oft witzig. Darwin: „Aber Sie wollten über Nachtigallen sprechen, nicht wahr?“ Vogel, Sandwich kauend: beifälliges Grunzen. Darwin: „Wundervoll! Ich könnte den ganzen Tag lang über Nachtigallen sprechen.“

Wo anfangen: Bei dem Gutenachtlied, das ihr die Mutter damals vorgesungen hat, in dem die Nachtigall einen Auftritt hatte? Bei diesem Abend kurz nach ihrem Umzug von England nach Berlin, als sie im Garten das charakteristische Schmettern hörte, ein Kinderzelt hinausschleppte und so eine Nacht lang ausharrte, gebannt, ihre Beine durch die Einstiegsluke ragend, Aufnahme-App des Handys aktiviert? Oder doch die größeren Zusammenhänge, um nicht zu sagen: die Verwandtschaft?

Sarah Darwin, das hat sie hundertmal erzählt, glaubte als Kind, nach der australischen Stadt Darwin benannt zu sein – bis sie als Teenager herausfand, dass es sich eher umgekehrt verhielt: Die Stadt war auf den Namen des Großvaters ihres Großvaters getauft worden, des berühmtesten Naturforschers der Welt. Sie studierte erst mal Kunst und reiste später nach Galapagos, um als Pflanzenillustratorin zu arbeiten. Dort stieß sie auf eine noch unbekannte Tomatenpflanze, über die sie schließlich ihre Doktorarbeit schrieb. 

Dies alles zusammengefasst im Innenfutters ihres Mantels, das sie selbst entworfen hat: eine ganze botanische Sammlung von Pflanzen, der Tomatenstrauch ist auch dabei.

Dies alles zusammengefasst im Innenfutters ihres Mantels, das sie selbst entworfen hat: eine ganze botanische Sammlung von Pflanzen, der Tomatenstrauch ist auch dabei.

Und die Nachtigall? War als Zaungast in ihrem Leben immer vorhanden. Man wird de facto lange suchen müssen, um einen Menschen zu finden, der von diesem unscheinbaren braunen Vogel ähnlich besessen ist wie Sarah Darwin. Sie besitzt eine Wanduhr, die Schlag zehn Uhr Nachtigallenträllern abspielt. Ihr Handy-Klingelton ist Nachtigallengesang, sie hat eine Playliste von Songs auf Spotify, in denen das Wort „Nightingale“ vorkommt. Sie weiß, dass auf der Fähre von Harwich nach Hoek van Holland und am Flughafen von Miami Nachtigallenlieder aus den Lautsprechern kommen. Sie hat diesen Gesang sogar mal live vor Publikum performt, nach dem Transkript der Aufnahme damals im Garten.

Es hat etwas Schicksalhaftes, dass Sarah Darwin am Ende ausgerechnet nach Berlin gezogen ist, Hauptstadt der Nachtigallen. In England ist der Bestand zuletzt um 90 Prozent gesunken, in Berlin aber gibt es heute mehr als 1500 Brutpaare, Tendenz sogar steigend. Die Nachtigallen schätzen die verwahrlosten Parks der Stadt, das wuchernde Gestrüpp, ihr Freudengesang über all die Unordnung ist ohrenbetäubend. Was also könnte eine Künstlerin und Wissenschaftlerin mit diesem Chor anstellen?

Sie startete ein Citizen-Science-Projekt. Die Berlinerinnen und Berliner waren aufgerufen, über die eigens entwickelte Naturblick-App Gesänge aufzuzeichnen und der Allgemeinheit zur Verfügung zu stellen. Im Frühling 2018 und 2019 kamen so rund 7000 Aufnahmen zusammen. Am Museum für Naturkunde werteten zwei Wissenschaftlerinnen diese Lieder aus, verglichen sie mit der Gesangsbibliothek des Hauses: Nachtigallenträllern aus aller Welt, seit den 1940er-Jahren gesammelt. Die Erwartung war, auf unterschiedliche regionale Dialekte zu stoßen, dies aber bestätigte sich nicht wirklich. Was in sich auch wieder höchst erstaunlich war: Dass einzelne Liedstrophen im Repertoire der Nachtigallen über Zeiten und Ländergrenzen hinweg unverändert geblieben sind. Kadenzen, wie in Stein gemeißelt.

„Ein einzelnes Männchen beherrscht bis zu 190 Strophen, können Sie sich das vorstellen?“, sagt Sarah Darwin begeistert. „Alle Nachtigallen zusammen bringen es nach unseren Erkenntnissen auf etwa 2000 unterschiedliche Gesänge, darunter auch Lautfolgen, die man besonders häufig hört. So eine Art Top Ten der Sexy-Songs.“ Frage an die in der „Küche“ vorhandene Jury: Ist der Gesang der Nachtigall so lieblich, wie die meisten Menschen glauben? „Nein“, knurrt Vogel von der anderen Tischseite herüber. „Nicht lieblich, aber theatralisch“, sagt Darwin. „Wegen der Pausen. Sie singen zwei bis drei Sekunden. Dann Stille. Du sitzt da und wartest, wie es weitergehen wird, es baut sich diese Spannung auf. Dann folgt die nächste Strophe. Es ist wie bei einem Gedicht.“

Für die künstlerische Seite des Projekts war sie zuständig. Was in erster Linie bedeutete: Kommunikation auf allen Kanälen. Berliner bildende Künstler, Fotografinnen und DJs lieferten Nachtigallen-Werke ab. Sarah Darwin lädt Interessierte bis heute an Frühlingsabenden zu Nachtigallen-Exkursionen an die Hotspots des Chores: Tempelhof, Hasenheide, Friedrichshain. Vor der Pandemie waren es Picknicks: Teilnehmende wurden gebeten, Essen aus ihrem Kulturraum mitzubringen, gespeist wurde nach Sonnenuntergang zu Tisch, auf einer Tischdecke, die Darwin mit ornithologischen Motiven und Nachtigallen-Zitaten aus Literatur und Lyrik selbst bestickt hatte.

Es nahmen besonders viele Flüchtlinge aus Syrien an diesen Picknicks teil, nicht zufällig. „Menschen mit den furchtbarsten Erfahrungen. Ihre Familien sind ausgelöscht worden, sie haben ihr Zuhause verloren, sie sind mit nichts als einem Koffer in diese fremde Stadt gekommen. Plötzlich hören sie die Nachtigall – und es ist der Klang der Heimat.“ Im Persischen, erzählt Sarah Darwin, symbolisiert die Rose die Schönheit des paradiesischen Gartens, die Nachtigall ihre Liebhaberin. Auf einer anderen, politischeren Ebene können Nachtigallen aus Syrien nach Deutschland einreisen, wie es ihnen gefällt. Keiner fragt, ob sie in Berlin womöglich irregulär Singende sind.

Womit wir beim Mythos Nachtigall wären, in so vielen Kulturen über Jahrhunderte, manchmal Jahrtausende überliefert. In der antiken griechischen und römischen Poesie hat sie fünf Bedeutungen: den Dichter; die Liebe; den Lobgesang auf Gott; die Kunst; und die traurige Klage. Sarah Darwin hat nicht zu viel versprochen, als sie sagte, sie könne über Nachtigallen einen Tag lang reden, denn in Windeseile ist man nun bei Shakespeares „Romeo und Julia“, bei Oscar Wildes „Die Nachtigall und die Rose“, Hans Christian Andersens „Des Kaisers Nachtigall“, bei Erzählungen aus der griechischen Mythologie.

Die vielleicht anrührendste Geschichte aber ist noch nicht alt, sie stammt aus dem Berliner Museum für Naturkunde, wo Sarah Darwin an einem schiefergrauen Novemberabend eine Frau beobachtete, die vor dem Präparat der Nachtigall stand. Sie hatte ihr Baby auf den Bauch geschnallt und sang ihm ein Schlaflied vor. Ganz zärtlich und in sich versunken: „Abendstille überall / Nur am Bach die Nachtigall / Singt ihre Weise klagend und leise durch das Tal ...“

Wenn die kommende Generation im Wissen um die Nachtigall heranwächst, das kann schon mal nicht verkehrt sein.

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Die Nachtigall gehört zu den Sperlingsvögeln und ist in Teilen Europas, Asiens und Nordamerikas heimisch. Als Zugvogel überwintert sie im tropischen Afrika südlich der Sahara. Äußerlich ist sie eher unscheinbar mit brauner Ober- und heller Unterseite. In vielen Kulturen wird sie seit jeher gefeiert für ihren Gesang, wobei nur die Männchen singen, um die Weibchen anzulocken. Charakteristisch ist die hohe Varianz aus lauten und leisen, kurzen und lang gezogenen Tönen, Trillern, Zwitschern und Crescendos. Forscher haben herausgefunden, dass Männchen mit besonders komplexem Gesang auch die aktiveren Väter sind. Nachtigallen besiedeln bevorzugt dichtes Gebüsch und Waldstücke. Die Brutzeit dauert von April bis Juni, das Gelege besteht aus vier bis sechs grünbrauen Eiern. In Deutschland gilt die Nachtigall bisher als nicht gefährdet.
Text: Tanja Rest; Entwicklung: Stefan Kloiber; Testing: Malte Hornbergs; Audio: Sarah Darwin; Digitales Storytelling: Birgit Kruse

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