Bildung
Ausgesiebt
An einem Dezembermorgen zwischen Deutsch und Mathe stehe ich vor Nikos Tisch. Er vergräbt die Hände in den Taschen seiner dicken, schwarzen Daunenjacke, die er im kalten Klassenzimmer nicht auszieht, und rutscht auf seinem Stuhl herum. Was er eigentlich werden wolle, frage ich ihn. „Keine Ahnung“, sagt Niko, 14 Jahre, Hauptschüler, und zuckt mit seinen riesigen Jackenschultern. Ich denke an die wenigen Berufe, die man heute mit Hauptschulabschluss überhaupt noch machen kann, und schlage vor: „Gleisbauer?“ Er sagt: „Keine Ahnung.“ Ich frage: „Chemikant?“, er sagt: „Keine Ahnung.“ Ich frage: „Friseur?“ Aylin, seine Sitznachbarin, sagt: „Dafür braucht man jetzt Realschule.“
Niko ist ein Junge ohne Plan. Keinen Bock auf dies, keinen Bock auf das. Ein bisschen aggro auch. Ein typischer Hauptschüler, vielleicht. Ja, doch, es stimmt: Niko ist ein typischer Hauptschüler.
„Worauf hättest du denn so richtig Bock?“, frage ich ihn, er sagt: „Keine Ahnung, schlafen“, und Aylin lacht jetzt. „Digga, die arme Frau, die heult gleich!“ Sie lacht mich an und schlägt Niko auf den Hinterkopf.
Niko ist einer von vielen Schülern, die ich in meinen drei Schuljahren als Vertretungslehrerin auf der Haupt- und Realschule nach der neunten Klasse ins Ungewisse entlassen habe. Und er ist einer der Schüler, die bei mir mehr Fragen als Antworten hinterließen. Allen voran: Wie kann Schule Kinder wie ihn vor dem Scheitern bewahren?
Auf der Suche nach Antworten grabe ich in meiner Erinnerung und lande bei einer 15-jährigen Realschülerin, die plan-, ziel- und orientierungslos durch ihre Kleinstadt zog, rumhing, rauchte, auf den Boden spuckte: bei mir selbst. Was ich werden wollte, fragte man mich damals. Lange zuckte ich als Antwort darauf mit den Schultern. Genau wie Niko. Doch irgendwann entstand aus einem Tagtraum ein vorsichtiger Wunsch: Grundschullehrerin. Als ich einem Lehrer davon erzählte, lachte er und zählte auf, was ich dafür brauchen würde (gute Noten, Abitur, ein Studium), was ich alles nicht hatte (Disziplin, Ausdauer, Struktur), was ich tun sollte (die Realschule beenden und lieber eine Ausbildung machen).
Ich schämte mich für meinen vermessenen Traum. Dann eben in die Fußstapfen meiner Familie treten und eine Ausbildung zur Krankenschwester machen. Ausgerechnet ich, die flüchtete, sobald es eklig wurde, eine schwache Drei in Bio hatte und im Rollenspiel alles mimte, aber nie die Krankenschwester. Doch weil mir Vorbilder fehlten, konnte ich mir kein anderes realistisches Berufsfeld vorstellen und schickte meine fragwürdigen Ambitionen (was mit Menschen?) als Bewerbungsschreiben an mehrere Krankenhäuser. Einen Ausbildungsplatz bekam ich nicht. Trotz Pflegenotstand.
Fast wäre ich in meinem Hoodie versunken und ins Nichts gelaufen, da zog mich jemand an der Kapuze zurück.
Ob ich mir mal mein Zeugnis angeguckt hätte, sagte mein Stiefvater, der in unsere Familie gekommen war und, neben einem Faible für Ordnung und Struktur, als Einziger in der Familie die Erfahrung eines abgeschlossenen Studiums mitbrachte. Sei doch gar nicht so schlecht ... Sein dringender Rat an mich: auf jeden Fall das Abitur dranhängen, statt nichts zu tun. Der Pensionär und ich – seine pubertierende Stieftochter – waren damals alles andere als auf einer Wellenlänge. Aber wir teilten hier einen für mich weichenstellenden Moment: den Moment, in dem jemand an mich geglaubt hat. Ihm habe ich es zu verdanken, dass ich diesen Text heute als studierte Gymnasiallehrerin schreibe.
Damit Jugendliche den für sie richtigen Weg finden, braucht es dringend jemanden, der nah dran ist, hinguckt und in den richtigen Momenten an der Kapuze zieht. In bildungsbürgerlichen Milieus übernehmen das meist die Eltern. An sogenannten Brennpunktschulen fällt diese Rolle dagegen oft den Lehrkräften zu. Doch das ist fatal. Denn obwohl ich dort unzählige engagierte Menschen kennengelernt habe: Niemand kann 30 orientierungslose Kinder gleichzeitig ermutigen und quasi nebenher noch so etwas wie Unterricht halten.
Viele meiner neuen Schüler vermuteten, ich sei strafversetzt worden
An der Kapuze ziehen bedeutet auf einer Hauptschule oder Mittelschule oder Gesamtschule ohnehin etwas ganz anderes als auf dem Gymnasium im schönen Stadtteil mit den sanierten Altbauten. Das wurde mir kurz nach meinem Referendariat an einem Gymnasium klar. Ich war damals gerade seit ein paar Tagen als Vertretungskraft an einer Haupt- und Realschule in Rheinland-Pfalz, in einem Betonklotz-Stadtviertel mit verranzten Kneipen. Dort begrüßte mich ein Schüler mit: „Oha, die Schlaue!“ Er hatte mitbekommen, dass ich eigentlich Gymnasiallehrerin bin. Wie so viele meiner neuen Schüler vermutete er, dass ich strafversetzt worden sei. Er konnte sich nicht erklären, wieso jemand freiwillig an seiner Schule arbeiten wollte. Einer „Asischule“, wie er sie selbst nannte. Denn meine Schüler waren sich ihres Stigmas sehr wohl bewusst. Sie verorteten sich wie selbstverständlich dort, wo sie von der Gesellschaft hingedrängt, wo sie von unserem Bildungssystem geparkt wurden: ganz unten. Sie spürten das, was das Bildungssystem mit seinen leeren Behauptungen über die eigene Durchlässigkeit zu kaschieren versucht: dass es ein Oben und ein Unten gibt und dass diejenigen, die unten starten, in der Regel auch dort bleiben.
Während die Elternschaft auf dem Gymnasien zu mehr als 60 Prozent aus Akademikern besteht, sind es auf Hauptschulen gerade mal 17 Prozent. Mehr als die Hälfte der Eltern an Hauptschulen haben selbst einen Hauptschul- oder gar keinen Schulabschluss. Es ist, als hätten die Eltern magnetische Kräfte, die die Kinder entweder auf der einen oder anderen Seite halten. Nur wenige schaffen es, sich zu lösen – nach oben wie nach unten. Denn auch Akademikerkinder, die später Gleisbauer oder Friseur werden, sind rar.
Es wird „ausgesiebt“, um im Gymnasiallehrerjargon zu sprechen
Schafft es ein Kind nach der vierten Klasse aufs Gymnasium, kann man davon ausgehen, dass es ein sozioökonomisch stabiles Elternhaus hat. Kommt ein Kind – unwahrscheinlicherweise – trotz häuslicher Probleme aufs Gymnasium, wird es dasselbe vermutlich bald wieder verlassen. Es wird „ausgesiebt“, um im Gymnasiallehrerjargon zu sprechen.
Die Bedürfnisse von Kindern aufzufangen, die sich selbst schon lange aufgegeben haben, erfordert also mehr als ein paar Gespräche im Türrahmen nach Unterrichtsschluss. Das persönliche Engagement vereinzelter Lehrkräfte kann unmöglich das Fundament eines gerechten und erfolgreichen Bildungssystems sein. Doch genauso läuft es derzeit. Unser Bildungssystem vertraut darauf, dass Lehrerinnen und Lehrer an sogenannten Brennpunktschulen Erziehungs- und Bildungsauftrag in Personalunion stemmen – und gibt ihnen gleichzeitig kaum strukturelle Hilfen an die Hand. Das funktioniert nicht. Kann nicht funktionieren.
Aber wie geht es besser?
Hier die schnellen Lösungen, die ich selbst als Lehrerin an einer „Schule in herausfordernder sozialer Lage“ ausprobiert habe, aus Mangel an Alternativen:
1. Geld aus eigener Tasche „leihen“, damit alle Kinder am Ausflug teilnehmen können.
2. Hotspot zu Recherchezwecken anbieten, weil kein Internet.
3. Schülerin jeden Morgen auf dem Handy anrufen, damit sie zur Schule kommt.
4. Fünfe gerade sein lassen.
Meine Ohnmacht, die ich als Lehrerin oft verspürte, betäubten solche Akutpflaster höchstens für ein paar Minuten. Egal, Hauptsache, ich konnte das Ding irgendwie am Laufen halten.
Etwas nachhaltigere Abhilfe erhoffte ich mir, als ich mich im Rahmen eines speziellen Förderprogrammes der Bundesländer für sogenannte Brennpunktschulen engagierte. Klingt doch super, oder? Das dachte ich auch. Ich zögerte also nicht lange und wurde an meiner Schule selbst Teil einer Steuergruppe. Unser Ziel: die Gelder eines Förderprogramms sinnvoll nutzen. Unsere Aufgaben: neben dem Unterricht Konzepte erstellen, aus denen hervorgeht, wie genau die Mittel eingesetzt werden sollen.
Welchen Brand sollte die Brennpunktschule zuerst löschen?
Die Steuergruppe fragte sich also, welchen Brand sie an unserer kleinen Brennpunktschule mit dem Geld löschen sollte. Am Ende floss das Fördergeld in einheitliche Lehrmaterialien für die etwa fünfzig Kinder ohne Deutschkenntnisse, die jährlich an der Schule eintrudeln. In ein Regal auf Rollen mit Tablets, mit deren Hilfe einige von ihnen erst einmal alphabetisiert werden müssen. Eine Stadtführung für diese Kinder, deren unfreiwillige neue Heimat also die „sozial herausfordernde Lage“ ist, in der sich auch ihre neue Schule befindet. Kurz gesagt: Die Schule erhielt Geld für grundlegende Selbstverständlichkeiten. Ein Großteil der Schüler aber hat davon keinen Cent gespürt.
Ähnlich verhält es sich mit dem Digitalpakt, jenen 6,5 Milliarden Euro, mit denen der Bund aktuell die Länder bei der Digitalisierung unterstützt. Einzelne Schulen können Mittel beantragen, um zum Beispiel Laptops für Schülerinnen und Lehrer anzuschaffen und die digitale Infrastruktur auszubauen. Oder überhaupt erst mal aufzubauen. Auch nach drei Jahren ist aber gerade mal die Hälfte der 6,5 Milliarden Euro verplant. Ausgezahlt wurden sogar erst 600 Millionen Euro. Warum das so ist, versteht man, wenn man sich genauer ansieht, wohin das Geld fließt: Vom Digitalpakt profitieren nämlich jene Schulen am meisten, deren Schülerinnen und Schüler ohnehin schon auf der Überholspur unterwegs sind, also vor allem Gymnasien mit engagierten Eltern, mit technikaffinen Lehrkräften und einer Schulleitung, die genügend Kapazitäten für diese Themen hat. Weniger privilegierte Schulen und ihre Schüler stellt schon die Beantragung der Gelder vor Probleme, denn die Schulleitung ist zum Beispiel damit beschäftigt, Löcher im Stundenplan zu stopfen. Und die Lehrer, die noch da sind, sind überlastet. Zu diesem Ergebnis kommt auch eine Studie des Berliner Wissenschaftszentrums für Sozialforschung. Die Wissenschaftler untersuchten die Umsetzung des Digitalpakts und folgerten im Mai 2022, dass dieser durch die ungleiche Verteilung der Gelder zur „Reproduktion und Verstärkung von Ungleichheiten sowohl zwischen unterschiedlich finanzstarken und engagierten Kommunen als auch zwischen den Einzelschulen beiträgt“. Autsch.
Diese mittelfristigen Lösungen sollen also ernsthaft das Beste sein, was wir derzeit aufbieten, um unser Bildungssystem zu retten? Sechs Milliarden Euro? Nur mal so zum Vergleich: Das Sondervermögen, mit dem die Bundeswehr aufgerüstet werden soll, umfasst 100 Milliarden Euro. 200 Milliarden Euro schwer ist der Abwehrschirm für Entlastungen in der Energiekrise. Mit Akutpflastern und irgendwelchen Paketen kommen wir nicht mehr weiter. Im Gegenteil, diese Mitteldinger führen vor allem dazu, dass viel Geld (und Energie) am eigentlichen Problem vorbeifließt: Unser Bildungssystem manifestiert soziale Ungerechtigkeit. Jeden Sommer taumeln Jugendliche wie Niko aus der Schule heraus, einer tristen Zukunft entgegen, weil sich unser Bildungssystem allein auf die Kinder konzentriert, die wortwörtlich schon von Haus aus so viel mehr Chancen im Schulranzen haben. Für ein reiches Land wie Deutschland ist das nicht nur beschämend, sondern angesichts des steigenden Fachkräftemangels auch ganz einfach: dumm.
Wir haben genug an unserem kränkelnden Bildungssystem herumgedoktert
Was Niko und mit ihm Millionen anderen Bildungsverlierern fehlt, ist eine Zeitenwende. Ein Neuanfang. Ein richtiger Doppelwumms für unser Bildungssystem. Es bräuchte einen Booster, ein Ereignis, das das Thema Bildung in der Prioritätenliste der Politik ganz nach oben spült. Ein Ereignis, das zum großflächigen, bundesweiten Handeln zwingt.
Der nächste Pisa-Schock reicht dafür leider nicht aus. Ebenso wenig das unermüdliche Engagement vieler, vieler Menschen – Lehrerinnen, Sozialpädagogen, Psychologinnen, Schüler, Eltern, Hausmeister, aber auch Bildungswissenschaftler. Weil zu viele bedürftige Kinder auf zu wenige Lehrkräfte kommen. Weil es an Schulen keinen Platz und kein Geld für ausreichend Sozialarbeiter und erst recht nicht für Psychologinnen und andere nötige Fachkräfte gibt. Weil Haupt- und Realschulen, gerade die in ökonomisch schwachen Regionen, systematisch benachteiligt werden. Aufgrund der fehlenden politischen Unterstützung ist der Verschleiß an Lehrkräften dort extrem hoch. Sie stellen Versetzungsanträge oder treten die Stellen gar nicht erst an, weil sie von den Zuständen gehört haben. Die Folge: Die Schulen laufen chronisch unterbesetzt immer irgendwie weiter, eingebunden in ein Mangelmanagement.
Wir müssen der Tatsache endlich ins Auge sehen: Wir haben genug an unserem kränkelnden Bildungssystem herumgedoktert. Lasst es uns komplett abreißen und nach finnischem Vorbild neu aufbauen: Eine Schule für alle von der ersten bis zur neunten Klasse. Talentförderung und kulturelle Teilhabe unter dem Dach einer echten Ganztagsschule, statt die Nachmittage allein den so unterschiedlich ausgestatteten Elternhäusern zu überlassen. Dazu: mehr Lehrkräfte, sanierte Schulgebäude, multidisziplinäre Teams aus Psychologinnen, Sozialarbeiterinnen und medizinischem Fachpersonal. Die können große Teile der sozialpsychologischen Arbeit von den Schultern der Lehrkräfte nehmen. Sie können die Kinder begleiten, fördern und unterstützen – unabhängig vom Kontostand, der psychischen Gesundheit und dem kulturellen Hintergrund der Eltern. Doppelwumms, wann kommst du endlich?
Lisa Graf ist Gymnasiallehrerin und Autorin des Buches „Abgehängt. Von Schule, Klassen und anderen Ungerechtigkeiten“ (Heyne Verlag).