Schule

„Unterricht ist Zeitverschwendung“

Jedes Kind hat sein eigenes Tempo beim Lernen, sagt der ehemalige Rektor Stefan Ruppaner.

Wie er seine Schule radikal umgebaut hat und was sich andere Einrichtungen davon abschauen können.

Schule

„Unterricht ist Zeitverschwendung“

Jedes Kind hat sein eigenes Tempo beim Lernen, sagt der ehemalige Rektor Stefan Ruppaner.

Wie er seine Schule radikal umgebaut hat und was sich andere Einrichtungen davon abschauen können.

Interview von Lilith Volkert
11. Februar 2025 | Lesezeit: 8 Min.

Fast zwanzig Jahre hat Stefan Ruppaner die Alemannenschule in Wutöschingen geleitet, einem kleinen Ort im Schwarzwald. In dieser Zeit hat er die einstige Grund- und Hauptschule zu einer Gemeinschaftsschule mit gymnasialer Oberstufe umgebaut, an der etwa 900 Schülerinnen und Schüler eigenverantwortlich lernen. Den oft holprigen Weg dorthin beschreibt Ruppaner in seinem Buch „Das könnte Schule machen“, das am 18. Februar erscheint (mit Anke Willers, Rowohlt). Im Videotelefonat erklärt er, warum Unterricht vom Lernen abhält und was es stattdessen braucht. Am Handgelenk trägt er ein Stoffbändchen mit der Aufschrift „Ruppanerair 2024“. Es stammt von der Abschiedsgala, die seine Schülerinnen und Schüler organisiert haben, als der Flugfan im vergangenen Sommer in den Ruhestand ging.

SZ: Herr Ruppaner, vor mehr als zehn Jahren haben Sie die Innenwände Ihres Schulhauses herausreißen lassen, um die Klassenzimmer abzuschaffen. Warum?

Stefan Ruppaner: Weil sie beim Lernen gestört haben. Wir haben unsere Schülerinnen und Schüler in den Jahren davor nach und nach immer selbständiger arbeiten lassen. Irgendwann haben wir gemerkt: Es braucht einen Raum, in dem die Jugendlichen für sich lernen können, ganz in Ruhe. Es braucht aber auch einen Ort, an dem sie zusammenarbeiten, herumlaufen und leise miteinander reden können. Und die Lehrkräfte sollten alle gut im Blick behalten können. Das hat mit den Klassenzimmern nicht funktioniert. Wir haben dann ein Lernatelier für individualisiertes Lernen eingerichtet und den sogenannten Marktplatz für kooperatives Lernen.

Ein radikaler Schritt.

Aber ein wichtiger. Der Raum ist der dritte Pädagoge: Neben den Lehrkräften und den Mitschülern beeinflusst er maßgeblich, wie jemand lernt. Inzwischen hat die Alemannenschule vier Gebäude. In allen gibt es offene Lernlandschaften.

Wo findet der Unterricht statt?

Es gibt sogenannte Inputräume, in denen die Lehrkräfte – bei uns heißen sie Lernbegleiter – neue Themen erklären. Das aber nur in den Hauptfächern und nur in wenigen Stunden pro Woche. Ansonsten gibt es an der Alemannenschule keinen Unterricht.

Warum nicht?

Unterricht ist Zeitverschwendung. Für alle. Er macht den Lehrkräften unnötige Arbeit bei der Vorbereitung. Viel schlimmer ist aber: Er verhindert, dass sich Schülerinnen und Schüler in ihrem Tempo mit dem Stoff beschäftigen können. Der Grundgedanke von Unterricht ist ja, dass einer vorn steht und alle im Gleichschritt durch bestimmte Gedankengänge und Erkenntnisprozesse führt. So funktioniert nachhaltiges Lernen aber nicht.

So funktionieren Schulen seit 150 Jahren.

Das hatte ja auch mal seine Berechtigung. Aber inzwischen weiß die Wissenschaft viel mehr darüber, wie man nachhaltig lernt. Nehmen Sie die Hattie-Studie von 2009. Der Bildungsforscher John Hattie aus Neuseeland hat dafür mehr als 800 Meta-Analysen aus aller Welt ausgewertet, die über 50 000 Einzelstudien umfassen. Das Ergebnis: Großen Einfluss auf das Lernen hat, wenn sich Kinder abwechselnd gegenseitig etwas beibringen können, der Fachbegriff dafür ist reziprokes Lernen. Und wenn jeder nach Lust und Laune Gas geben kann, das nennt man Akzeleration. Das kann ich im klassischen Unterricht gar nicht umsetzen.

Wie sieht ein Schultag ohne Unterrichtsstunden aus?

Wer will, kann den Tag um halb acht mit Musik, Kunst oder Sport beginnen. Der Vormittag gilt den Kernfächern und dem Vertiefen. Wir nennen das „Selbstorganisiertes Lernen“. Dafür holen sich die Kinder die entsprechenden Materialpakete von unserer digitalen Lernplattform auf ihre iPads. Nachmittags sind die Nebenfächer dran. Hier wird fächerübergreifend in sogenannten Clubs gelernt, etwa im Heimat- oder Bienenclub, oder an eigenen Projekten gearbeitet. Das Konzept dahinter heißt „Lernen durch Erleben“. Das findet oft in der Gemeinschaft und auch außerhalb der Schule statt. Wir haben unser Gesamtkonzept Schmetterlingspädagogik genannt, nach dem Wappentier von Wutöschingen, das auch Teil unseres Schullogos ist. Der eine Flügel steht für Selbstorganisiertes Lernen, der andere für Lernen durch Erleben.

Kommen die Kinder und Jugendlichen mit so viel Freiheit klar?

Ja, sehr gut sogar. Bei uns wird auch niemand alleingelassen. Jeder Lernpartner – so nennen wir die Schülerinnen und Schüler – trifft sich einmal pro Woche mit seinem Lerncoach, einer Lehrkraft. Dann wird besprochen, was er oder sie erledigt hat und was er sich für die nächste Woche vornimmt. Für jedes Fach gibt es ein Kompetenzraster, eine Tabelle mit den Fähigkeiten und Kenntnissen, die man in den einzelnen Fächern erreichen kann. Dort wird festgehalten, welche Lernziele das Kind schon erreicht hat. Damit sich alle an die Regeln halten, haben wir ein Graduierungssystem. Es gibt vier Stufen, vom „Neustarter“ bis zum „Lernprofi“. Davon hängt ab, wie eigenständig man arbeiten darf. Neustarter werden eng betreut, Lernprofis bekommen einen Schlüssel der Schule. Sie dürfen dann auch abends oder am Wochenende rein. Wer zuverlässig ist, steigt auf, wer Mist baut, wieder ab.

Und was, wenn jemand keine Lust hat zu lernen?

Dann akzeptieren wir das. Als Lerncoach habe ich dann aber schon irgendwann nachgefragt: Willst du immer noch Tierärztin werden? Dann solltest du langsam mal was tun, denn für den Beruf muss man studieren. Ansonsten wäre Tierpflegerin vielleicht die bessere Wahl. Ich sehe uns Lehrkräfte gern als Gastgeber, die Schülerinnen und Schüler als Gäste: Wir stellen das Büfett bereit und decken den Tisch, aber essen muss jeder selbst. Die Alemannenschule ist kein Institut für Zwangsernährung, wir stopfen niemandem was rein. Ich kann Ihnen aber versichern, dass die allermeisten Kinder und Jugendlichen lernen wollen.

Woher kommt ihre Motivation? Viele Lehrer und Eltern haben den Eindruck, dass vor allem Jugendliche ohne Druck gar nichts für die Schule machen.

Wir hatten anfangs eine Chill-out-Ecke mit Sofas, für alle, die keine Lust haben zu lernen. Die ersten Tage war es dort richtig voll, aber nach zwei Wochen war da keiner mehr. Die Kinder und Jugendlichen haben erkannt: Keiner zwingt mich, es kommt allein auf mich und meine Entscheidung an. Wir haben ihnen die Zeit gelassen, ihren eigenen Antrieb wiederzufinden. Jedes Kind hat einen eingebauten Lernmotor. Es ist faszinierend zu sehen, wie sie den mit ihrer Energie auf Hochtouren bringen können. Leider verlieren sie diese Freude oft, wenn sie in die Schule kommen. Weil Lernen dort mit Druck, Angst und Prüfungsstress zu tun hat.

Wie wird an der Alemannenschule geprüft, wenn jeder in seinem eigenen Tempo lernt?

Es gibt Gelingensnachweise. Das sind Tests, für die sich jeder individuell anmeldet, wenn er sich gut auf ein bestimmtes Themengebiet vorbereitet hat. Wer nicht besteht, hat zwei weitere Versuche. Gelingensnachweise gibt es auf drei verschiedenen Niveaus: dem Mindeststandard, dem Regelstandard – das können viele Kinder schaffen, müssen aber nicht unbedingt. Und den Expertenstandard für besonders Interessierte. Weil wir auch die Klassenstufen aufgelöst haben – wir reden stattdessen von Phasen – sind die Kinder noch flexibler. Wem Mathe leicht fällt, der kann schon Gelingensnachweise aus Phase acht erbringen, auch wenn er oder sie in den anderen Fächern noch in Phase sieben ist. Das ist das Gute am individualisierten Lernen: Jeder kriegt das Futter, das er gerade braucht.

Klingt gut, aber würden Ihre Schülerinnen und Schüler auch in konventionellen Prüfungen bestehen?

Natürlich, sogar mit sehr guten Ergebnissen. Sie machen regelmäßig bei den sogenannten VERA-Tests mit. Das sind Vergleichsarbeiten, die bundesweit in den dritten und achten Klassen geschrieben werden. Unsere Lernpartner liegen regelmäßig über dem Durchschnitt. Die Achtklässler sind zum Beispiel besonders gut beim Rechtschreiben und beim Lesen, dabei haben sie gar keinen Deutschunterricht mehr. Und unser erster Abiturjahrgang 2022 hatte einen Durchschnitt von 1,7. Der Durchschnitt in Baden-Württemberg lag bei 2,17, also fast eine halbe Note darunter. Man braucht also keine Angst haben, dass die Leistungen einbrechen, wenn man nach unserem System arbeitet. Im Gegenteil.

Ihre Schule hat inzwischen mehr als 900 Schüler, liegt aber in einer sehr ländlichen Umgebung.

Trotzdem ist Wutöschingen keine Bildungsbürgeridylle. Wir haben zwar nur 7000 Einwohner, wegen der Aluminiumwerke leben hier aber auch viele bildungsferne Familien. Was die Alemannenschule macht, funktioniert auch anderswo.

Seit Sie 2019 und 2021 mit dem Deutschen Schulpreis ausgezeichnet wurden, haben Sie viel Besuch von Lehrkräften und Schulleitern, die Ihr Konzept kennenlernen wollen. Was kann man sich bei Ihnen abschauen, wenn man nicht gleich die Wände einreißen möchte?

Viele Schulen haben das Selbstorganisierte Lernen übernommen und lassen ihre Schülerinnen und Schüler in einigen Stunden pro Woche so arbeiten. Das heißt, sie kriegen Material, mit dem sie sich Themenbereiche im eigenen Tempo selbst aneignen. Das ist nicht schlecht, doch meiner Meinung kann das nur ein Schritt auf dem Weg zur Abschaffung des Unterrichts sein. Es ist schwierig, gebundenen Unterricht und ergänzende Freiarbeit zu verbinden. Damit wird man einer heterogenen Schülerschaft einfach nicht gerecht. Ich verstehe aber alle, die nicht sofort alles über den Haufen werfen wollen oder es wegen der Vorschriften nicht können. Auch ich musste mich da schrittweise rantasten.

Sie waren knapp 50, als Sie sich auf diesen Weg gemacht haben.

Ich bin 2007 beim Zappen an der Dokumentation „Treibhäuser der Zukunft“ hängen geblieben. Der Regisseur Reinhard Kahl hat dafür Schulen mit alternativen Ansätzen besucht. Eine davon liegt in Friedrichshafen, nicht weit von hier. Das hat mich neugierig gemacht. Ich habe die Schule besucht und war begeistert, wie selbständig und konzentriert die Kinder und Jugendlichen dort arbeiteten. Gleichzeitig konnte ich mir nicht vorstellen, dass das mit unseren Schülern auch funktioniert. Ich hatte nicht besonders viel Vertrauen in sie, muss ich zugeben.

Trotzdem haben Sie es ausprobiert.

Am Anfang ging es mir gar nicht ums Lernen. Ich wollte nur, dass die Stimmung besser wird und wir respektvoller miteinander umgehen. Der erste Schritt war, dass wir die Schultür nicht erst um fünf vor acht aufgemacht haben und sich alle reindrängeln mussten, worüber wir uns wiederum geärgert haben. Ich habe die Lehrkräfte gebeten, morgens zehn Minuten früher im Klassenzimmer zu sein und die Kinder so freundlich wie Gäste zu begrüßen. Die haben gedacht, ich spinne.

Sie haben die Lehrerrolle in den folgenden Jahren immer weiter verändert, man könnte auch sagen demontiert.

Wenn einem Macht und Status wichtig sind, dann trifft das zu. Unsere Lehrkräfte stehen nicht vor der Klasse und belehren die Schüler. Sie begleiten und unterstützen sie, dafür muss man einen großen Teil der Kontrolle abgeben. Außerdem arbeiten sie eng mit ihren Kolleginnen und Kollegen zusammen. Daran muss man sich erst gewöhnen.

Wie haben Sie es geschafft, eine öffentliche Schule so fundamental zu verändern?

Wir haben einfach die Spielräume im System genutzt, in den ersten Jahren sind wir dabei unter dem Radar des Kultusministeriums geflogen. Ab 2011 gab es eine grün-rote Landesregierung, die sich für mehr Bildungsgerechtigkeit eingesetzt hat. Damals wurden wir zur Gemeinschaftsschule, an der Schüler gemeinsam lernen und unterschiedliche Schulabschlüsse machen können. Der Schweizer Schulgründer Peter Fratton hat uns begleitet und mir klargemacht, dass es mehr auf die innere Haltung ankommt als auf detaillierte Konzepte. Später habe ich aber auch ziemlichen Gegenwind aus der Schulverwaltung bekommen. Manches davon habe ich als persönliche Schikane empfunden.

Dabei bestreitet niemand, dass das Schulsystem reformbedürftig ist. Immer mehr Kinder und Jugendliche lernen Studien zufolge in der Schule nicht einmal vernünftig Lesen und Rechnen. Warum wird Ihr Konzept nicht im großen Stil kopiert?

Die Verantwortlichen in unseren Schulämtern und Kultusministerien haben kein Erkenntnisproblem, sondern ein Erkenntnis-haben-wollen-Problem. Sie wollen es einfach nicht wissen. Es ist für mich schwer auszuhalten, dass wir die Kinder mit einem System quälen, das so viele von ihnen nicht mitnimmt und keine guten Ergebnisse bringt. Ich glaube übrigens, dass die Zeit für kleine Veränderungen längst vorbei ist. Es gibt nichts mehr zu reformieren, wir brauchen eine Revolution. Der Unterricht, die starren Hierarchien, das steht der Entwicklung von Kindern zu selbständigen, selbstbewussten und kreativen Erwachsenen im Weg.

Interview: Lilith Volkert; Redaktion: Julian Gerstner; Digitales Storytelling: Daniela Gorgs

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