Die Serie heißt "Overlord" und hat Fans auf der ganzen Welt. Trotzdem ist sie bei Menschen jenseits eines bestimmten Alters so gut wie unbekannt. Sie ist ein "Isekai", gehört also zum Genre japanischer Animationsfilme, genannt Anime.
Die gezeichneten Figuren mit den großen Augen und den markanten Gesichtern sind ein wichtiger Bestandteil dessen geworden, was man die „Netzkultur“ nennt. Eine Kuratorin des British Museum nannte japanische Manga-Cartoons kürzlich „eine Weltsprache im Internet“. Vermutlich, weil sie ähnlich universell funktionieren wie Emojis, über Sprach- und Kulturgrenzen hinweg.
Das hat auch damit zu tun, dass deren Macher eine Zielgruppe entdeckt haben, die ihre Freizeit ohnehin im Internet verbringt: Gamer. Vor allem männliche Gamer. Darum geht es im Isekai-Genre.
Wörtlich übersetzt bedeutet "Isekai" auf Japanisch „Andere Welt“. Die Geschichten erzählen häufig von jungen Männern, die in die Welten von Computerspielen katapultiert werden, wo sie supermächtig und unbesiegbar sind. Was dort passiert, findet außerhalb des Radarbereichs der breiten Öffentlichkeit und der feministischen Kritik statt - in einem der letzten Refugien wunder Männlichkeit, wo man von unendlicher Stärke und devoten Mädchen träumt.
Level 1:
Die Gefangenen
Der Boom begann im Jahr 2012, mit „Sword Art Online“. Die Serie erzählt von einem neuen Virtual Reality-Game, in das man tiefer eintaucht als in alle Spiele, die es zuvor gegeben hat. Es wird direkt ins Gehirn projiziert.
"Sword Art Online" ist mit rund 1,2 Millionen verkaufter DVDs und Blurays weltweit eine der erfolgreichsten Animeserien überhaupt. Noch besser hat sich die Videospielreihe zur Serie verkauft, bislang rund 4,3 Millionen Mal. Die Gaming-Motive haben den Nebeneffekt, dass die Kasse häufig gleich zweimal klingelt: beim Game und der Serie. Diese Erfolgsformel reproduzieren die japanischen Manga-Verlage seither immer wieder.
Erzählungen, in denen Menschen in fantastische Welten katapultiert werden, gab es auch früher schon häufig in Anime und Manga. Zahlreiche Meisterwerke dieser Kunstform funktionieren nach diesem Schema, etwa „Chihiros Reise ins Zauberland“. Seit „Sword Art Online“ aber sind viele dieser "anderen" Welten Computerspiele - oder sie enthalten zumindest Anspielungen auf Games.
Etwa
"The Rising of the Shield Hero", wo die Hauptfigur Menüs einblenden
kann und im Kampf "Erfahrungspunkte" sammelt.
Früher waren diese Welten magisch, heute sind sie virtuell. Es geht nicht mehr um eine zeitweilige Realitätsflucht, wie im Fantasy-Genre. Sondern um Menschen, die buchstäblich in digitalen Welten gefangen sind.
Level 2:
Die Einsamen
Im Zentrum der Serie "No Game No Life" stehen zwei Teenager, Bruder und Schwester, beide legendäre, im Internet gefürchtete Gamer.
In der fiktiven Rahmenrealität sind die beiden Geschwister sogenannte Hikikomori, gehören also zu den schätzungsweise über eine Million Japanern, die, frustriert und verängstigt von der realen Welt, ihre Wohnungen nicht mehr verlassen. Stattdessen verbringen sie ihre Zeit in digitalen Fantasiewelten, häufig mit Anime, Manga und Computerspielen. So berichten es Betroffene in Internetforen. Im Kinofilm „No Game No Life: Zero“ sagen die Geschwister: "Wir sind Geister; und von Geistern wird nicht berichtet."
Die Serie stellt ihr Hikikomori-Dasein nicht als Problem dar, im Gegenteil: Mit einem normalen Sozialleben wären sie schließlich keine so guten Gamer geworden. Dass sie ihre Wohnung nicht verlassen, erscheint als Teil eines größeren Plans, der sie aus dem Alltag hinaus in die tiefere, magische Wirklichkeit des Spiels geführt hat. Als seien sie nicht im Griff einer besonders schweren psychischen Erkrankung. Sondern Auserwählte.
Wenn man "No Game No Life" ohne Anime-Vorkenntnisse guckt, hat man kaum eine Chance, das dichte Netz aus Zitaten zu durchdringen, das die Serie beinahe stärker strukturiert als eine Handlung im konventionellen Sinn. Alles ist darauf angelegt, einen selbständigen Eingeweihten-Kosmos zu schaffen, möglichst weit weg von der Realität.
In der vom Gott der Spiele beherrschten Welt von "No Game No Life" werden sämtliche Konflikte durch Spiele aller Art ausgetragen. Das finale Duell um das gesamte Königreich wird per Münzwurf entschieden.
Für die beiden Geschwister gibt es in der "anderen Welt" keine echten Prüfungen zu bestehen, keine tiefere Mission zu erfüllen, keine "Heldenreise" zu absolvieren, nach der sie geläutert nach Hause kehren würden - es ist alles ein Spiel. Also spielen sie einfach immer weiter.
Level 3:
Die Gefesselten
In "No Game No Life" ist diese Welt bunt und auf eine knuddelige Art überdreht.
"Sword Art Online" hingegen ist bisweilen ziemlich düster. Mehrere Staffeln enthalten Szenen, in denen gefesselte Frauen sexuell attackiert werden. Schon in einer der ersten Folgen gleiten die Tentakel einer Monsterblume am Wegesrand unter den Rock eines Mädchens, das schreit und sich wehrt. Der superstarke Held muss eingreifen und sie retten.
Sex, bei dem Tentakel eine Rolle spielen, hat einen festen Platz in der japanischen Pornografie. Das lässt die Tentakelszenen, zumindest teilweise, wie "Fanservice" wirken - also wie ein Zugeständnis an Fans, die so etwas mögen, ob es nun dramaturgisch in die Handlung passt oder nicht. Mit "Fanservice" sind bei Anime Szenen gemeint, die weibliche Figuren in sexy Posen und Situationen zeigen, obwohl dadurch nichts erzählt wird. Häufig werden sie als vermeintlich unschuldiger "Hoppla, jetzt hat man mein Höschen gesehen"-Spaß verkauft. Ein Klassiker, fast schon ein Running Gag: Vor dem Helden taucht irgendwo eine verschlossene Tür auf.
Nanu, was mag sich wohl dahinter befinden? Da weiß der Fan schon: Gleich wird eine der weiblichen Figuren kreischen und sich errötet bedecken. Gleich gibt’s Brüste zu sehen.
So verwandeln sich Frauenfiguren, die zuvor selbständige Wesen waren, Anliegen und Probleme hatten, urplötzlich in keusch kichernde Sexobjekte.
Nerds mit Allmachtsphantasien und erniedrigte Frauen - das sind die Schnittstellen in die sogenannte chan-Kultur, einen mitunter toxischen Sonderbezirk des Internets. Er findet hauptsächlich auf den Plattformen 4chan oder 8chan statt. Anonyme Nutzer tauschen sich dort aus, häufig junge Männer, die sich als Nerds empfinden und damit kokettieren, dass sie noch zuhause im Keller bei den Eltern wohnen, ohne richtiges Leben, ohne Freundin, mit einer Ersatzexistenz aus Computerspielen und Onlinepornos. So das Klischee, aber die chan-Kultur selbst erhält es am Leben. Man ist stolz darauf.
Der Ton der Diskussionen ist bisweilen zynisch, menschenverachtend, vor allem frauenverachtend. Viele der Nutzer wollen aus den Gaming-Welten im Internet das raushalten, was ihnen Angst macht: Frauen. Feministinnen erleben sie als Bedrohung. Weibliche Figuren akzeptieren sie nur in Gestalt halbnackter Sidekicks.
4chan begann als - und ist teilweise immer noch - ein Forum für Manga und Anime. Später kamen andere Themen dazu, schließlich Politik. Die Alt-Right-Bewegung, eine digitalaffine Truppe rechter Internettrolle und Neonazis, formierte sich auf 4chan. Die Szene radikalisierte sich auf dem Klon 8chan weiter.
Wer einmal in dieser Welt landet, für den bietet sie verlockende Ersatzbefriedigungen. Während sie sich andernorts verachtet fühlen, bekommen die anonymen Nutzer hier Anerkennung für ihren Hass. In den düsteren Ecken dieser Boards ist alles ein Spiel, weil die Regeln der verachteten "Normalos" hier nicht mehr gelten. Einige rutschen ab, in eine "andere Welt". No Game, no life.
Level 4:
Die Ohnmächtigen
Im Isekai-Genre werden all diese problematischen Tendenzen erzählerisch ausformuliert - und dann mit einer Ladung quietschbunter Heiterkeit übergossen.
Aber das Genre bedient männliche Eskapismusfantasien nicht nur. Bisweilen thematisiert es sie auch subtil.
Er ist als letzter User überhaupt eingeloggt, als die Server eines veralteten Online-Games abgeschaltet werden. Wehmütig denkt er an die schönen Zeiten, die er dort verbracht hat. Aber als es schließlich soweit ist und die Server offline gehen, wird er nicht etwa aus dem Spiel befördert. Stattdessen erwachen die zuvor von künstlicher Intelligenz gesteuerten Nebenfiguren um ihn herum zum Leben.
Er aber behandelt sie weiterhin wie seelenloses Spielzeug, das er nach Belieben befehligen und töten kann, denn sie sind ja nicht echt, es ist nur ein Spiel - oder etwa doch nicht? Die Serie verwendet im weiteren Verlauf immer wieder viel Raum darauf, die Geschichten dieser Nebenfiguren zu erzählen, ihre Ängste und Hoffnungen zu schildern - bis der Dämonenlord sie kaltherzig in den Tod schickt, weil sie ihm bei seinen Eroberungszügen nicht mehr nützen.
Er verhält sich also nicht anders als ein menschlicher Computerspieler in der Welt eines Offline-Games, die schließlich nur für ihn geschaffen wurde: Die künstliche Intelligenz muss sterben und leiden, wenn es dem Herrn gefällt. So lange, bis er abgestumpft und selbst ein seelenloser Untoter geworden ist. Ein Dämonenlord.
Game Over
Die Isekai-Formel wurde inzwischen in so vielen Anime-Serien kommerziell ausgeschlachtet, dass sich die Figuren in aktuellen Titeln schon gar nicht mehr wundern, wenn sie plötzlich in fremde Fantasywelten gebeamt werden. Man spart sich die Erklärungen und legt einfach los.
Ähnlich wie etwa bei Zombiefilmen, kippt die ewige Wiederholung desselben Musters zunächst in die unfreiwillige und schließlich in die bewusste Selbstparodie. An diesem Punkt befindet sich das Isekai-Genre seit einiger Zeit.
Inzwischen gibt es auch Serien, in denen die Hauptfigur als Schleim oder, kein Witz, als Verkaufsautomat in einer anderen Welt wiedergeboren wird.
Auch die realen Onlinegames müssen sich männliche Gamer längst mit einer breiten Öffentlichkeit - mit Frauen - teilen. Der Kosmos maskuliner Allmachtsfantasien bröckelt. Er parodiert und zerlegt sich selbst. Vielleicht endet so die Geschichte des großen männlichen Helden, dem im Internet keiner was anhaben kann.