Zwischenbilanz der NSU-Ermittlungen:Einer lügt

Mehrere Untersuchungsausschüsse wollen das Versagen der Behörden rund um die NSU-Terroristen aufklären - doch die Parlamentarier sehen sich mit Aussagen von Zeugen konfrontiert, die sich gegenseitig die Schuld in die Schuhe schieben. Das Gesamtbild zeigt einen Staat in schlechter Verfassung.

Von Tanjev Schultz

Tausende Akten, Sitzungen bis in die Nacht und immer neue Fragen: Die Untersuchungsausschüsse, die das Versagen der Behörden rund um die Terrorgruppe "Nationalsozialistischer Untergrund" (NSU) aufklären wollen, tagen in einer Intensität, die den Parlamentariern und Zeugen viel abverlangt. Man wolle sich nicht dem Vorwurf aussetzen, "unmenschliche Vernehmungsmethoden" anzuwenden, hat Dorothea Marx, die Vorsitzende des Thüringer Ausschusses, einmal gescherzt, als sie zu später Stunde eine Befragung vorläufig beendete.

Ende Februar will das Gremium in Erfurt eine Zwischenbilanz ziehen. Zuvor wird sich auch der Ausschuss des Bundestags erneut mit den Zuständen befassen, die zur Jahrtausendwende in Thüringen herrschten, als die drei Neonazis aus Jena untertauchten. Das Bild, das die Zeugen zeichnen, zeigt einen Staat in denkbar schlechter Verfassung.

Die Polizei

Die Polizeieinheiten, die bei politischen Straftaten ermitteln sollten, waren chronisch unterbesetzt. Beim Landeskriminalamt (LKA) war jede vierte Stelle vakant. Auch Polizisten mit wenig Erfahrung schoben Dienst. Ein Kollege "beherrschte nicht mal die Grundregeln der deutschen Rechtschreibung", sagt ein leitender Beamter.

Als die Polizei im Januar 1998 die Garagen des Neonazi-Trios durchsuchte, hatte sie angenommen, man könne sie gleichzeitig öffnen. Doch die von Beate Zschäpe angemietete Garage, in der die Beamten Material für Bomben fanden, war durch ein zusätzliches Schloss gesichert, das erst umständlich geknackt werden musste. In der Zwischenzeit konnte das Trio fliehen.

Während andere wortkarg sind, ist der LKA-Beamte Mario Melzer vor den Ausschüssen kaum zu bremsen. Er hatte gegen Zschäpe und ihre Kameraden schon Mitte der Neunzigerjahre ermittelt. Bei der Polizei sah Melzer immer wieder Dilettanten am Werk. Er schildert, wie ein leitender Beamter in Jena einer mutmaßlichen Bombenattrappe, die auch eine echte Bombe sein konnte, einen Fußtritt versetzte. Schließlich sei doch ein Sprengstoffhund geholt worden, und der habe angeschlagen: "Da stand ich dann ganz alleine da."

So sei es bei der Polizei damals zugegangen, sagt Melzer, der mit seinem Eifer immer wieder aneckte. Mit dem Verfassungsschutz hatte er nicht weniger Probleme. Einmal habe er sich in größerer Runde beschwert und "ungefähr gesagt, dass es für mich als Polizist ein unhaltbarer Zustand ist, dass spielende Kinder in Jena eine Bombe finden und der Täterkreis vermutlich aus der Szene kommt, die letzten Endes geführt wird von einer Quelle des Verfassungsschutzes". Die Anspielung auf einen V-Mann sei empört zurückgewiesen worden. Ein Vorgesetzter habe ihm gesagt, solche Diskussionen seien nicht erwünscht.

Der Staatsanwalt

Die Zusammenarbeit von Polizei und Verfassungsschutz habe "offensichtlich nicht so gut geklappt", sagt Oberstaatsanwalt Gerd Michael Schultz, der für die Ermittlungen gegen Thüringens Neonazis zuständig war. Und wie war seine eigene Rolle? Ein Staatsanwalt soll eigentlich Herr des Verfahrens sein. Doch offenbar gingen Männer des Geheimdiensts bei Schultz im Büro ein und aus und versorgten sich mit Informationen. "Damals war ich ja noch jünger", sagt der Staatsanwalt. "Man hat sich unterhalten und hat sich positiv etwas erhofft." Im Laufe der Zeit habe er gemerkt: "Das war eine Einbahnstraße."

Angeblich hat sich Schultz in Ermittlungen nicht ausbremsen lassen, auch nicht bei dem Neonazi Tino Brandt, der später als V-Mann enttarnt wurde. Allerdings wurden die meisten Verfahren früher oder später eingestellt. Die Beweislage sei schwierig gewesen, sagt Schultz.

"Dilettantismus auf allen Ebenen"

Bei der Durchsuchung der Garagen hatten die Ermittler zunächst auch nicht viel in Händen. Nach dem Bombenfund war jedoch klar, dass das Trio rasch gefasst werden musste. Das misslang, und 2003 wurde das Verfahren wegen Vorbereitung eines Sprengstoffverbrechens eingestellt, weil Verjährung eingetreten war. Doch die Abgeordneten im Untersuchungsausschuss des Bundestags kommen jetzt zu dem Ergebnis, dass dies zumindest bei dem NSU-Terroristen Uwe Mundlos ein juristischer Fehler war. Denn gegen ihn war noch im Jahr 2000 ein Durchsuchungsbeschluss ergangen, wodurch die Verjährungsfrist neu hätte beginnen müssen. Sie wäre demnach erst 2005 ausgelaufen. Bis dahin hätte nach Mundlos gefahndet werden müssen.

Es sei unbegreiflich, wie sich beim NSU "Fehler über Fehler aneinanderreihen", sagt die SPD-Abgeordnete Eva Högl. Bei der Suche nach dem Trio hätten nicht nur die Thüringer Polizei und der Verfassungsschutz, sondern auch die Justiz versagt. Högl spricht von "Dilettantismus auf allen Ebenen".

Der Geheimdienst

Für die Art, wie Verfassungsschützer und Polizisten miteinander umgingen, hat der Grünen-Politiker Wolfgang Wieland ein Wort gefunden: "Krieg". Allerdings wurde der Kampf die meiste Zeit eher subtil geführt. Die Beamten des Geheimdiensts tun als Zeugen sogar so, als seien sie überrascht vom Vorwurf, sie hätten die Polizei hintergangen. Es werde versucht, dem Landesamt für Verfassungsschutz den "Schwarzen Peter" zuzuschieben, sagt dessen Ex-Vizepräsident Peter Nocken. Angeblich seien dem LKA sehr wohl Informationen, die V-Leute über das Trio mitteilten, weitergeleitet worden - jedoch mündlich. Bei der Polizei heißt es dagegen, man habe fast nichts bekommen - eine Version, die eine Kommission unter Leitung des ehemaligen Bundesrichters Gerhard Schäfer für die richtige hält.

Angeblich wusste Nocken nicht, dass die Fahnder den Verfassungsschutz sogar verdächtigten, die drei Neonazis zu decken. Staatsanwalt Schultz sagt, wegen des Verdachts habe seine Behörde einen Fragenkatalog an das Landesamt geschickt. Daraufhin sei jemand aus der Leitungsebene des Geheimdiensts gekommen und habe alle Fragen mit "Nein" beantwortet. Während bei der Polizei Theorien von Verrat und Verschwörung kursieren, sieht Nocken das Problem woanders: in der Abschaltung des V-Mannes Tino Brandt. Wäre dieser nicht enttarnt worden und hätte der Verfassungsschutz "in Ruhe weiteroperieren können", so Nocken, hätte man gute Chancen gehabt, das NSU-Trio zu finden. Da müssen die Abgeordneten bitter lachen. Hans-Christian Ströbele (Grüne) und Eva Högl (SPD) rufen: "Unglaublich!"

Die Zielfahnder

Sven Wunderlich ist bestimmt kein ängstlicher Typ. Als Zielfahnder des LKA hat er jahrelang die finstersten Typen aufgespürt. Beim NSU-Trio hat er das Ziel verfehlt. Als er jetzt erfahren hat, dass dem Geheimdienst damals Hinweise vorlagen, dass sich das Trio Waffen beschaffte, hat ihn das offenbar sehr erschreckt, zumindest geärgert. Für ihn und seine Kollegen hätte die Fahndung also tödlich ausgehen können, sagt Wunderlich. Die Fahnder hätten damals ja nicht vermutet, dass sie es mit derart gefährlichen Neonazis zu tun hatten. "Man hat uns ausgetrickst. Wir haben viele Dinge nicht erfahren, die für uns lebenswichtig gewesen wären."

Fast 500 Überstunden im Jahr

Wunderlich behauptet, der Verfassungsschutz habe die Fahnder gebeten, in der rechten Szene keine Unruhe zu stiften. Deshalb sind dort Vernehmungen durch die Polizei zunächst unterblieben. Womöglich waren die Fahnder zumindest am Anfang gar nicht so unglücklich darüber. Denn ihre Suche nach dem Trio mussten sie zurückstellen, sobald sie andere, vermeintlich dringendere Fälle zu lösen hatten. Die Zielfahnder-Einheit bestand damals, "wenn wir Glück hatten", aus drei Beamten, sagt Wunderlich. Sie mussten während der Suche nach dem Trio noch 47 weitere Fälle bearbeiten. Jeder Fahnder habe fast 500 Überstunden im Jahr geleistet.

Im Jahr 2001 schreibt Wunderlich einen Vermerk, in dem er den Misserfolg beim Bombenbauer-Trio dem Verfassungsschutz anlastet. Einer der drei Gesuchten sei "mit hoher Wahrscheinlichkeit" eine Quelle des Geheimdiensts. Belege dafür hat der Zielfahnder nicht.

Das Bundeskriminalamt

Die Fahnder sind auch von den Kollegen in der Polizei schlecht informiert worden. Bei der Razzia 1998 fand die Polizei in der Garage eine Liste, die Uwe Mundlos angelegt haben soll. Darauf stehen die Namen und Telefonnummern etlicher brauner Kameraden, darunter solche, die mittlerweile als Helfer des NSU-Trios gelten. Zielfahnder Wunderlich hätte diese Daten damals gut gebrauchen können, um nach dem Trio zu suchen. Doch die Liste, sagt er, habe er erst nach dem Auffliegen des NSU zu Gesicht bekommen.

Zu der Liste hatte 1998 ein Beamter des Bundeskriminalamts (BKA) einen Vermerk geschrieben. Darin heißt es, die Adressen seien für das Ermittlungsverfahren "ohne Bedeutung". Zwei Beamte des BKA sollten damals das LKA unterstützen. Den Vermerk verfasste der BKA-Mann auf einem Papier mit LKA-Kennzeichnung.

Zwischen LKA und BKA ist nun ein Streit über das Schriftstück ausgebrochen. In einem Schreiben von Ende Januar 2013 weist das BKA darauf hin, dass der Beamte die Personen auf der sichergestellten Liste immerhin als "mögliche Kontaktpersonen" bezeichnet habe. Zudem sei nur die Rückseite der Liste, auf der einige Neonazi-Größen standen, als nicht relevant für das Thüringer Verfahren eingestuft worden. Das LKA sieht es anders. In einem Brief an das Ministerium in Erfurt vom 7. Februar 2013 wird dem BKA recht klar die Schuld dafür gegeben, dass die Liste nicht richtig ausgewertet wurde. Das BKA habe damals "konkrete Ansätze zur Fahndung" nach dem Trio entwickeln sollen, schreibt das LKA. Dies sei "leider nicht geschehen".

Epilog

Erst versagen die Beamten der Sicherheitsbehörden bei der Suche nach dem NSU-Trio. Dann geben sie sich gegenseitig die Schuld dafür. Jede Behörde ist darum bemüht, weniger mies auszusehen als die andere. Für die Untersuchungsausschüsse macht das die Arbeit nicht leichter. Als die Version des Verfassungsschützers so ganz anders klang als die des Zielfahnders, brachte es Sebastian Edathy, der Vorsitzende des Bundestagsausschusses, kühl auf den Punkt: "Einer lügt."

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