Zwischenbericht des NSU-Untersuchungsausschusses:Erschreckende Bilanz auf 554 Seiten

Tausende Akten, Dutzende Zeugen: Thüringens Behörden haben im Kampf gegen Neonazis versagt. Rechtsextreme, insbesondere die Terrorzelle NSU, seien verharmlost worden. Das Land müsse gar "die Verantwortung dafür übernehmen, dass sie zu Mördern wurden."

Von Tanjev Schultz, Erfurt

Die Behörden in Thüringen haben in den neunziger Jahren im Kampf gegen Neonazis versagt. Der Rechtsextremismus sei teilweise verharmlost worden, zwischen Polizei und Verfassungsschutz habe eine schädliche Rivalität geherrscht. Zu diesem Ergebnis kommt der Zwischenbericht, den der NSU-Untersuchungsausschuss des Thüringer Landtags am Montag vorlegte. Seit mehr als einem Jahr untersuchen die Abgeordneten in Erfurt die Vorgeschichte der Terrorzelle "Nationalsozialistischer Untergrund" (NSU).

Tausende Akten haben die Parlamentarier ausgewertet, mehr als 50 Zeugen angehört und nun auf insgesamt 554 Seiten eine erste erschreckende Bilanz gezogen. Die Ausschussvorsitzende Dorothea Marx (SPD) spricht von "schwerwiegenden Fehlern" der Behörden, der Grünen-Politiker Dirk Adams von einer "unheilvollen Unentschlossenheit" im Kampf gegen Rassismus. Das Land Thüringen habe bei den aus Jena stammenden NSU-Terroristen eine besondere Rolle gespielt, sagte Adams: "Wir müssen in Thüringen die Verantwortung dafür übernehmen, dass sie zu Mördern wurden."

Über Fraktionsgrenzen hinweg wirft der Ausschuss dem Landesamt für Verfassungsschutz vor, es habe durch seinen damaligen V-Mann Tino Brandt "wenigstens mittelbar die Struktur gestützt, in der sich das spätere NSU-Trio radikalisiert hat". Das Gremium weist die Behauptung von Verfassungsschützern zurück, Brandt sei eine "Top-Quelle" gewesen. Im Wesentlichen habe dieser nur Informationen zu Veranstaltungen der Neonazis geliefert, aber keine Hinweise, die zur Strafverfolgung geeignet gewesen wären. Die Abgeordneten kritisieren zudem, dass der Geheimdienst mit Brandt eine "Führungsperson" der Rechtsextremisten angeworben habe.

Der Fall Brandt zeige "eine fatale Innensicht" des Thüringer Verfassungsschutzes, heißt es in dem Zwischenbericht. Die Parlamentarier gehen davon aus, dass Brandt auch vor Ermittlungen der Polizei gewarnt wurde; dies wäre der Versuch einer Strafvereitelung gewesen.

Die problematische Rolle der Polizei

Doch auch die Rolle der Polizei erscheint den Abgeordneten problematisch. Ein Verfahren gegen die Neonazi-Gruppe "Thüringer Heimatschutz" (THS) wegen Bildung einer kriminellen Vereinigung sei nicht konsequent genug geführt worden. 1997 wurde es eingestellt. "Damit verstrich die Chance, ein mögliches Verbot des THS zu erreichen", heißt es in dem Bericht. Die Neonazis des NSU waren bis zu ihrem Untertauchen 1998 im THS aktiv gewesen.

Anders als der NSU-Untersuchungsausschuss des Bundestags wird das Erfurter Gremium die Zeit nach dem 26. Januar 1998, als das Trio untertauchte, erst in den kommenden Wochen in den Blick nehmen. Es hat sich bisher auf die Phase davor konzentriert - und kommt nun zu dem Schluss, "dass die Radikalisierung des Trios auch durch ein in den 1990er Jahren vorherrschendes Klima des Wegschauens, mangelnder Gegenwehr und der Verharmlosung rechtsradikaler Aktivitäten gefördert worden" sei. Wegen der langen Verfahrensdauer seien Strafen bei den noch jungen Neonazis "überhaupt nicht oder oft nicht auf dem Fuße" gefolgt.

Die beiden Abgeordneten der Linken im Untersuchungsausschuss, Katharina König und Martina Renner, gaben ein Sondervotum zu dem Zwischenbericht ab, in dem sie noch schärfere Urteile fällen. Sie beklagen, das Problem der Neonazi-Gewalt sei von den Thüringer Behörden auf ein allgemeines Problem des Extremismus reduziert worden. Es habe eine "verheerende Gleichsetzung von Links- und Rechtsextremismus" gegeben.

Als "deutlich dramatischer" stelle sich ihnen zudem das Gebaren des Verfassungsschutzes dar, schreiben König und Renner in ihrem Sondervotum. Der Geheimdienst habe die Polizei nur unzureichend oder so spät über Neonazi-Aktivitäten unterrichtet, dass eine effektive Abwehr von Gefahren nur eingeschränkt möglich gewesen sei. Die Dienst- und Fachaufsicht über das Landesamt für Verfassungsschutz habe nicht funktioniert. Der Geheimdienst habe sich abgeschottet, und im damaligen Erfurter Innenministerium habe man die Ansicht vertreten, man dürfe gar nicht so genau wissen, was der Dienst machte. "Quellenschutzfetischismus und Geheimdienstgläubigkeit" hätten es den Akteuren erlaubt, "das Eigenleben des Dienstes bis an den Rand der Strafbarkeit und darüber hinaus zu treiben", schreiben die Linken.

Im Gegensatz zur Ausschussmehrheit vertreten sie die Ansicht, der Aufstieg des V-Mannes Brandt in Führungsfunktionen und das Erstarken des THS gehe "maßgeblich" auf das Wirken des Verfassungsschutzes zurück. Dieser habe keine Probleme darin gesehen, mit Straftätern zusammenzuarbeiten.

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