Zweiter Weltkrieg:Warum Berlin Putin das Gedenken nicht überlassen darf

Barbarossa

Mit gewaltigen Zangenbewegungen kesselten die Deutschen große Truppenteile der Roten Armee ein. Hundertaussende kamen in deutsche Gefangenschaft - und wurden von den "deutschen Herrenmenschen" als "unwertig" behandelt. Unzählige verhungerten oder verreckten als Arbeitssklaven.

(Foto: Sueddeutsche Zeitung Photo)

Deutschland erinnert nicht an den Russland-Feldzug - das ist falsch. So kann Wladimir Putin das Geschichtsbild nach seinen Wünschen prägen.

Kommentar von Stefan Braun, Berlin

Wladimir Putin hat am 22. Juni gemacht, was man erahnen konnte. Er nutzte den 75. Jahrestag des Überfalls von Nazi-Deutschland auf die Sowjetunion, um seiner Politik historische Legitimation zu verschaffen. Er verglich den Angriff damals mit einer Bedrohung Russlands durch die Nato heute. Und er erklärte, dass er sein Land aufrüsten müsse, weil der Westen die historischen Herausforderungen nicht erkenne. Angesichts dieser Vereinnahmung von Geschichte könnte man den Reflex haben, dem Ereignis bloß nicht zu viel Aufmerksamkeit zu widmen.

Das aber wäre nicht klug, sondern ein großer Fehler. Putins Auftritt zeigt, wie falsch es ist, die Erinnerung ihm zu überlassen. Und deshalb ist es auch falsch gewesen, dass Bundespräsident, Bundesregierung und Bundestag diesem verheerenden Kapitel des Krieges nicht ein umfassenderes Gedenken gewidmet haben. Eine Rede hier, eine Ausstellungseröffnung dort, eine kurze Debatte im Bundestag - das ist zu wenig. Gedenken heißt gerade nicht, sich Putin zu ergeben. Gedenken heißt, sich mit Empathie für die Opfer der Geschichte dieses Krieges ausführlicher zuzuwenden.

Gräuel des Russland-Feldzugs - viel zu wenig Erinnerung

Der euphemistisch als "Unternehmen Barbarossa" umschriebene Vernichtungskrieg war nicht nur ein Angriff auf Russland. Er war ein heimtückischer Feldzug gegen alle im Vielvölkerstaat Sowjetunion. Und er hatte eine Vorgeschichte. Ihm ging eine Absprache zwischen den Nazis und Stalin voraus, der vor allem die Polen zum Opfer fielen.

Was also wäre gewesen, wenn in einer Gedenkstunde im Bundestag Veteranen aus all diesen Ländern von ihren Erlebnissen, Ängsten, Schmerzen erzählt hätten? Was wäre geschehen, wenn vor dem Brandenburger Tor auf Einladung von Joachim Gauck Persönlichkeiten aus Polen, der Ukraine, Russland, dem Baltikum, auch Deutschland aus Walter Kempowskis "Echolot" gelesen hätten? Jener durch ihre Nüchternheit so schmerzhaften Komposition aus damaligen Tagebucheinträgen? Und was wäre passiert, wenn Schulen den Tag zu einem Gedenktag mit Ausstellungen und Vorträgen gemacht hätten?

Es wäre richtig und wichtig gewesen, weil über diesen Feldzug bis heute viel weniger bekannt ist als über die meisten anderen Kapitel des Zweiten Weltkriegs. Und es wäre die beste Antwort auf alle, die Geschichte verkürzen und fälschen möchten. So verharmlost man nicht, was Putin auf der Krim und in der Ostukraine anstellt. Das Gegenteil ist richtig: Wer die Geschichte des Nazi-Überfalls kennt, weiß genau, warum Moskaus Aggression so falsch ist.

Erhard Eppler, der alte Sozialdemokrat und Flakhelfer der letzten Kriegstage, sagte am Mittwoch in einer klugen Rede, wer diesen Krieg erlebt habe, komme nie mehr in die Versuchung, über "Russen" aus der Position moralischer Überlegenheit heraus zu urteilen. Damit lenkte er den Blick auf die gefährlichste Stelle: Die Russen! Die Ukrainer! Die Deutschen! Die Juden! Die Ausländer! Die Fremden! So fängt es an. Der Krieg, der vor 75 Jahren begann, zeigt die zerstörerische Kraft, die mit Abgrenzung beginnt und im Hass endet.

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