Süddeutsche Zeitung

Zweiter Weltkrieg:Todesmutig - die Geschichte des Monsieur Loinger

Als Frankreich von Nazi-Deutschland besetzt ist, rettet Georges Loinger jüdische Kinder vor der Deportation nach Auschwitz. Besuch bei einem 105 Jahre alten Helden, der kein Held sein will.

Von Christian Wernicke, Paris

Georges Loinger spricht fließend Deutsch. Das mag man für selbstverständlich halten, schließlich kam er als Deutscher zur Welt. Nur, das ist lange her: Anno 1910 war's, damals gehörten das Elsass und Georges Loingers Heimatstadt Straßburg noch zum Kaiserreich.

Das Ende des Ersten Weltkriegs machte den kleinen Georges dann zum Franzosen, seit einer halben Ewigkeit lebt Loinger in Paris. Und dennoch gibt es bis heute Momente, in denen der alte Herr meint, er könne die rechten Worte nur en allemand finden. Auf Deutsch.

Beinahe absurdes Glück

Dann klingt seine Stimme strenger. Und er atmet kürzer, wegen der Aufregung. Georges Loinger hat an dem alten Holztisch Platz genommen, in der Ecke am Fenster des hellen Appartements, das er mit seinem Sohn Daniel teilt, der 80 ist.

Monsieur Loinger schiebt ein paar Papiere beiseite, das Lächeln in seinem hageren Gesicht verfliegt, jetzt erinnert er sich: An den Augenblick, als er 1925 im Radio die Rede eines gewissen Adolf Hitler hörte. "Ich glaubte damals, da spräche ein Riese - so gewaltig klang der", erzählt Loinger auf Französisch.

75 721 Juden

wurden zur Zeit der deutschen Besatzung aus Frankreich deportiert, darunter etwa 11 000 Kinder. Nach den Recherchen des Anwalts Serge Klarsfeld wurden die Opfer zwischen März 1942 und August 1944 in 79 Eisenbahnzügen nach Osten gebracht, die meisten starben im Vernichtungslager Auschwitz. Nur etwa 2500 der Verschleppten überlebten. Milizen des Vichy-Regimes halfen den Deutschen bei der Deportation. Die meisten Opfer waren Europäer, die zuvor vor den Nazis nach Frankreich geflohen waren.

Er holt tief Luft, wechselt ins Deutsche, rezitiert den Nazi: "Die Juden, die Juden - ich werde sie ausrotten!" Nie hat Loinger diese Tirade vergessen, genauso wenig wie jene drei deutschen Worte, die ihm 1944 - im Angesicht eines deutschen Unteroffiziers mit Schäferhund - das Leben retteten: "Ich bin Jude!"

Das halbe Leben des Georges Loingers ist geprägt von solchen Geschichten. Von Angst und Schrecken - und von beinahe absurdem Glück. Der 105-jährige Greis nennt sich selbst stolz einen "Kämpfer", einen Résistant. Mehr will er nicht sein. "Nein, ich bin kein Übermensch", sagt er. "ich war mutig, ja - aber das war's." Kein Held also: "Ich bin ein einfacher Mensch, der nicht einverstanden war, dass man jüdische Kinder ermordet."

Also hat Georges Loinger gehandelt - und während der deutschen Besatzungszeit von 1940 bis 1944 mindestens 350 jüdischen Jungen und Mädchen Kindern das Leben gerettet, indem er sie vor der Deportation nach Ausschwitz bewahrte und über die Grenze in die sichere Schweiz brachte.

Dafür haben ihn Frankreichs Republik und der Staat Israel mehrfach ausgezeichnet. Jetzt endlich, am 12. Juli, zog Deutschland nach: Berlins Botschafter Nikolaus Meyer-Landrut verlieh Georges Loinger in Paris das Bundesverdienstkreuz.

Georges Loinger ahnt früh, dass der Krieg kommen wird. Hitlers Radio-Rede 1925 hat den Sohn einer gutbürgerlichen Familie aufgeschreckt, und ein älterer Freund warnt: "Was dieser Hitler sagt, das tut er auch." Auf Zuraten eines jüdischen Mentors gibt Loinger sein Ingenieur-Studium auf. Er zieht nach Paris, wird Sportlehrer.

Eher unbewusst beginnt schon hier die Mimikry, die ihn (und andere) später retten wird. "Ich wirkte nie so, wie sich die Menschen einen Juden vorstellten," sagt Loinger und grinst, "ich war muskulös, kräftig, immer elegant gekleidet". Er heiratet Flore, die Liebe seines Lebens. Zusammen helfen sie beim Aufbau eines jüdischen Gymnasiums.

1939 zettelt Hitler den Zweiten Weltkrieg an. Loinger gerät als französischer Soldat 1940 in Kriegsgefangenschaft. Er flieht, aus einem Lager in Bayern schlägt er sich im Winter zu Fuß bis nach Paris durch. Nahe der Hauptstadt leitet Flore, seine Frau, inzwischen ein Heim mit 123 Kindern jüdischer Internierter. Loinger beginnt ein riskantes Doppelleben.

Er verheimlicht seine jüdische Herkunft, verdingt sich als Animateur einer Jugend-Organisation der Vichy-Regierung, die mit den deutschen Besatzern kollaboriert. Zugleich engagiert sich Loinger im Kinderhilfswerk OSE (Œuvre de Secours aux Enfants), das bis Kriegsende 5000 jüdische Kinder vor dem Holocaust bewahren wird.

Was Loinger seit 1925 als Drohung im Kopf nachhallte, wird im Januar 1943 zur Gewissheit: Hitler organisiert den Massenmord, allen Juden in Frankreich droht die Deportation. Loinger erhält den Auftrag, jüdische Kinder außer Landes zu bringen. Und er findet einen Weg: In Annemasse, einem Städtchen an der Grenze zur Schweiz, verspricht der Bürgermeister Hilfe.

Anfangs organisiert Loinger am Grenzzaun Fußballturniere, nach jedem Spiel fehlen ein paar Jungs. Dann heuert er Fluchthelfer an, zahlt Bares für Schlepper, die nachts seine Kinder über die Grenze bringen. Die italienischen Soldaten, die im Auftrag der deutschen Achsen-Alliierten auf Posten stehen, sehen weg. "Nach ein paar Wochen", so erinnert sich Loinger, "kam dann deren Kommandant zu mir. Der sagte: Wir fangen keine Kinder. Und auch keine Juden. Machen Sie weiter, wir sehen weg."

Loinger machte weiter, todesmutig. Im Sommer 1943 sitzt er wieder im Zug, zusammen mit drei Dutzend jüdischen Kindern nach Annemase. Da steigt ein Gruppe deutscher Soldaten ins Abteil. "Ich hatte den Kindern eingebläut, sich nicht zu bewegen", erzählt er, "aber dann finden die Deutschen an, Bonbons zu verteilen."

Nach einer unendlich langen Stunde endet die Bahnfahrt. Aber der deutsche Offizier besteht darauf, "all die netten Kinder" zu ihrem vermeintlichen Ferienheim zu führen "Wir gehen vorweg, Sie folgen!", befiehlt er. Zum Abschied salutiert er. Und merkt nichts.

Georges Loinger erinnert sich bis heute an die Furcht der Kinder. Von der eigenen Angst redet er nicht. "Kinder zu retten, das war mein Handwerk", sagt er, "ich kannte die Gefahr - und ich habe mich durchgeschlagen." Er macht eine Atempause, lächelt: "Es hat ja funktioniert."

"Dem alten Deutschland kann ich nicht vergeben"

Dann, im Frühjahr 1944, geht nichts mehr. Die Résistance erteilt dem Fluchthelfer den Befehl, seine eigene Frau und seine beiden Söhne zu retten. Wieder mogelt sich Loinger per Zug nach Annemasse durch, in einer kalten Nacht will er rübermachen in die Schweiz. Da steht plötzlich eine deutsche Patrouille vor ihm.

Es ist einer dieser Momente, die Georges Loinger nur auf Deutsch erzählen kann. "Wer sind Sie?", habe der Unteroffizier gefragt. "Ich bin Jude." - "Was? Nein..." Noch heute sieht Loinger vor sich, wie der Deutsche staunt, dann zögert. Und wie er ins Grübeln kommt. "Stehen bleiben", wiederholt Loinger dessen harschen Befehl.

Der Soldat gibt seinem Schäferhund ein Zeichen, die vier Gefangenen zu bewachen. Das Tier knurrt. Loinger schwant das Ende. "Doch dann", erzählt er am Holztisch in Paris, sei "ein Wunder geschehen." Un vrai miracle. Der Soldat geht weg - und pfeift seinen Hund zurück. Die Loingers können fliehen, schaffen es am nächsten Morgen über die Grenze.

Bis heute begreift der Retter nicht, warum er gerettet wurde. "Ich bin Jude", damit hatte er eigentlich sein Todesurteil gesprochen. "Vielleicht habe ich es aus Müdigkeit gesagt", sagt Loinger. Und weshalb ließ der Soldat ihn laufen? Schulterzucken: "Vielleicht hat er nur gedacht: Diese Juden hol' ich mir nicht", rätselt Loinger, "Es war ein Mensch. Und nicht alle Deutschen waren Mörder."

Georges Loinger hat neu angefangen nach dem Krieg. Er nennt es "mein wahres Leben". Er hilft Holocaust-Überlebenden nach Palästina, wird Direktor einer israelischen Schifffahrtslinie. Und findet Versöhnung. "Dem alten Deutschland kann ich nicht vergeben - aber heute ist dies ein anderes Land", sagt Loinger auf Französisch. Und wiederholt es auf Deutsch.

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Quelle:
SZ vom 09.07.2016/odg
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