Zweiter Weltkrieg:Stalins roter Netzwerker

Iwan Maiski bei seiner Ankunft in Paris, 1939

Ivan Maiski vertrat Stalins Interessen von 1932 bis 1943 in London - hier bei einer Zwischenlandung am Pariser Flughafen, Foto undatiert.

(Foto: Scherl/SZ Photo)

Bis 1943 bastelte Stalins Botschafter Ivan Maiski an einer britisch-sowjetischen Annäherung. Seine nun veröffentlichten Tagebücher zeigen einen Hitler-Gegner, der gewitzt ist - und Polen verachtet.

Rezension von Jürgen Zarusky

Kurz nachdem Ivan Maiski im Herbst 1932 als Botschafter der UdSSR in London angetreten war, kamen in Deutschland die Nationalsozialisten an die Macht.

Damit war der Faktor etabliert, der die sowjetisch-britischen Beziehungen bis zu seiner Abberufung im Sommer 1943 und darüber hinaus bestimmte. Das britische Königreich war damals noch eine Weltmacht, die UdSSR noch keine. Das Verhältnis der beiden Flügelmächte war entscheidend für die Geschicke Europas.

Maiski befand sich in einer Schlüsselposition, wenn er als weisungsgebundener Diplomat auch keine Schlüsselfigur war. Er war aber auch alles andere als ein bloßer Briefträger des sowjetischen Volkskommissariats für Auswärtiges.

Schnell baute er sich ein weit gespanntes Netzwerk auf - in einem Rechenschaftsbericht von 1940 ist die Rede von 500 regelmäßig kontaktierten Personen - und reizte alle seine Möglichkeiten aus, um ein Zusammengehen Londons mit Moskau gegen die faschistischen Mächte zu befördern. Der Hitler-Stalin-Pakt von 1939 machte seine Brückenbauer-Aktivitäten zunichte, nach dem Angriff auf die Sowjetunion 1941 war diese Rolle aber wieder hochaktuell.

Eine Übersetzung einer Übersetzung erzeugt Unschärfen

Seit dem Sommer 1934 führte Maiski regelmäßig Tagebuch über seine Arbeit, seine Begegnungen und bisweilen auch über Privates - maschinenschriftlich, vielleicht hatte er schon spätere Leser im Blick.

Seine Eintragungen lesen sich wie ein "Who's who?" der britischen politischen Prominenz seiner Zeit: Ehemalige, aktive und künftige Premier- und Außenminister wie Lloyd George, Chamberlain, Churchill, Eden und Halifax bevölkern sie ebenso wie Könige, Journalisten, Verleger oder prominente Intellektuelle, etwa H. G. Wells oder Bernhard Shaw.

Maiski schrieb lebhaft und anschaulich. Am Ende kamen 1800 Seiten zusammen, eine faszinierende Quelle, auf die der israelische Russlandhistoriker Gabriel Gorodetsky 1993 im Archiv des russischen Außenministeriums stieß. Die 2015 in den USA erschienene Auswahlausgabe, die etwa ein Viertel des Textes umfasst, liegt jetzt auf Deutsch vor.

Ein Wermutstropfen ist, dass es sich um die Übersetzung (aus dem Englischen) einer Übersetzung (aus dem Russischen) handelt. Solche Umwege erzeugen Unschärfen. Man hätte sich auch auf die russische Gesamtausgabe aus den Jahren 2006/2009 stützen können.

Maiski kannte Großbritannien und die späteren sowjetischen Außenminister Tschitscherin und Litwinow schon aus seiner Zeit als politischer Exilant 1912 bis 1917. Der 1884 geborene Sohn eines Arztes polnisch-jüdischer Herkunft hatte wie viele seiner Zeitgenossen als Student die revolutionäre Laufbahn eingeschlagen.

Er war zunächst Menschewik, Sozialdemokrat, und in der Revolution sogar Minister einer kurzlebigen antibolschewistischen Gegenregierung - ein lebenslanger Makel, auch wenn er 1921 zum Kommunismus konvertierte und eine diplomatische Karriere einschlagen konnte. Vor seiner Berufung nach London war er Botschafter in Finnland. 1943 wurde er im Moskauer Apparat des Außenministeriums nahezu kaltgestellt. 1947 wechselte er als Historiker an die Akademie der Wissenschaften.

Stalins Tod rettete Maiski das Leben

Im Februar 1953 ereilte ihn mit der Verhaftung als angeblicher "britischer Spion" der Terror. Stalins Tod zwei Wochen später rettete Maiski wohl das Leben, aber er geriet im Zuge der Nachfolgekämpfe in die Affäre um Geheimdienstchef Berija, was ihm weitere zwei Jahre Haft eintrug. Seine beschlagnahmten Tagebücher wurden ihm später nur eingeschränkt zugänglich gemacht. 1975 starb er. Gorodetsky informiert auf breiter Quellengrundlage ausführlich über Maiskis Leben.

In den Vorkriegsjahren arbeitete Maiski unermüdlich für eine britisch-sowjetische Annäherung. Die größte Sorge der sowjetischen Außenpolitik war ein mögliches Arrangement der "Appeaser" mit den faschistischen Mächten und die Isolation der UdSSR.

Daher zielten seine Aktivitäten besonders auf die "Antiappeaser" im Establishment wie Lloyd George, Vansittart, Eden oder Churchill, und weniger auf die Linke, in deren Reihen er indes einigen Intellektuellen freundschaftlich verbunden war. Beatrice Webb, der Grande Dame des britischen Sozialismus, hat er 1937 sogar seine Vision eines "demokratischen Kommunismus" anvertraut, der auf Stalin folgen würde. In seinem eigenen Tagebuch findet sich davon natürlich nichts.

Allen Enttäuschungen zum Trotz hoffte Maiski noch Anfang August 1939 auf einen Erfolg der Moskauer Verhandlungen mit England und Frankreich, die indes durch den Abschluss des Hitler-Stalin-Pakts am 23. August hinfällig wurden. Die Verantwortung für diesen Ausgang sah Maiski bei den "Appeasern" und den Schwächen ihrer Gegner.

Dass die Sowjetunion mit ihren Schauprozessen und der Enthauptung der Armee auch nicht gerade als zuverlässiger und starker Partner lockte, wird im Tagebuch allenfalls indirekt thematisiert, mit der Schilderung besorgter Nachfragen Churchills, der die Notwendigkeit eines starken Russland betonte.

Maiski war nie um eine Rechtfertigung des Stalinschen Terrors verlegen, obwohl oder vielleicht auch weil er selbst gefährdet war. Gorodetsky führt Maiskis unermüdliche Aktivität auch auf das Ziel zurück, im sicheren London unabkömmlich zu bleiben.

Häme für die geschlagenen Polen

Das Tagebuch schweigt sich über die inneren Vorgänge in der UdSSR weitestgehend aus. Zwar wird der rätselhafte Mord am Leningrader Parteisekretär Kirov Ende 1934 erwähnt, den Namen des einstigen stellvertretenden Außenministers Krestinskij, der im März 1938 im dritten großen Schauprozess verurteilt wurde, wird man dagegen vergeblich suchen.

Gorodetskys Einschätzung, das Maiski-Tagebuch sei "kein typisches Sowjettagebuch", kann man vor diesem Hintergrund allenfalls mit Einschränkungen zustimmen. Auch dass Maiski 1943 seine Frau Agnia im "Fall der Fälle" darauf verpflichtete, das Tagebuch Stalin zuzuschicken, deutet in eine andere Richtung.

Für den kontaktfreudigen und den angenehmen Seiten des Botschafterdaseins nicht abgeneigten Maiski war die Periode des Hitler-Stalin-Pakts eine sehr schwierige Zeit. Die Sowjetophilie seiner linken Freunde wurde schwer erschüttert und während des Winterkriegs mit Finnland vom November 1939 bis März 1940 drohte sogar ein britisches Eingreifen gegen den sowjetischen Aggressor.

Hautnah erlebte er die deutschen Luftangriffe auf London und im späten Frühjahr 1941 baute sich eine neue Bedrohung auf. Warnungen vor einer deutschen Aggression gegen die Sowjetunion häuften sich: "Ich will nicht glauben, dass Hitler uns angreift", notierte er am 21. Juni.

Zweiter Weltkrieg: Gabriel Gorodetsky (Hg.): Die Maiski-Tagebücher. Ein Diplomat im Kampf gegen Hitler 1932-1943. Verlag C.H. Beck München 2016, 896 Seiten, 34,95 Euro.

Gabriel Gorodetsky (Hg.): Die Maiski-Tagebücher. Ein Diplomat im Kampf gegen Hitler 1932-1943. Verlag C.H. Beck München 2016, 896 Seiten, 34,95 Euro.

Leseprobe

Einen Auszug aus den Tagebüchern stellt der Verlag hier zur Verfügung.

Am nächsten Tag geschah es, und die internationale Konstellation war eine ganz andere. Churchill reagierte mit einer wuchtigen Radioansprache und sagte der UdSSR Unterstützung zu. Maiski war wieder in seinem Element und ging mit neuem Schwung ans Werk. Dass er es aber gewesen sei, der Churchills Rede vom 22. Juni "auf den Weg" gebracht habe, wie es in der Einleitung heißt, wird vom Tagebuch nicht gedeckt und sogar von Gorodetskys Kommentar selbst widerlegt.

Churchills Mitgefühl

Bemerkenswert ist, dass Churchill großes Mitgefühl mit der sowjetischen Bevölkerung bekundete. In Maiskis Tagebuch findet sich hingegen trotz aller Sorge über den Kriegsverlauf nichts dergleichen. Und für die geschlagenen Polen hatte er von Anfang an nur Häme übrig.

Er begrüßte den Abbruch der Beziehungen zur polnischen Exilregierung im April 1943 nach den Enthüllungen über Katyn und die sich abzeichnende Etablierung einer moskauhörigen polnischen Regierung, die er drei Tage später gegenüber Churchill glatt abstritt. Der Kreml handele nach dem Motto "Was Osteuropa betrifft, so sind wir der Herr und Meister", notierte er und kommentierte: "Das tut gut."

Im Kampf gegen Hitler erschöpfte sich Maiskis Tätigkeit nicht. Seine Tagebücher sind ein farbiges, aber auch zwiespältiges Zeugnis einer grausamen und zwiespältigen Epoche.

Jürgen Zarusky ist Historiker am Institut für Zeitgeschichte München-Berlin und Chefredakteur der "Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte".

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