Zweiter Weltkrieg:Stalingrad, der Anfang vom Ende

Vor 70 Jahren führte Hitler die 6. Armee nach Stalingrad und in den Untergang, mehr als eine halbe Million Menschen starben. Die Generäle der Wehrmacht wussten, wie wahnsinnig der Plan war - und gehorchten trotzdem.

Ulrich Schlie

Wer nach einem Symbol für Maßlosigkeit, Menschenverachtung, Missbrauch des Soldatentums und Kriegführung ohne Humanität sucht, findet dies alles grausam verdichtet in der Schlacht von Stalingrad 1942/43. Es war Adolf Hitler selbst, der als Befehlshaber der Wehrmacht und Oberbefehlshaber des Heeres mit seinem Verbot eines geordneten Rückzugs und der militärisch sinnlosen Devise "Keinen Fußbreit preisgeben" die Katastrophe von Stalingrad heraufbeschworen hat. Der Ausgang der Schlacht von Stalingrad war besiegelt, als am 23. Juli 1942 ein folgenreicher Befehl erging. Die Weisung Nr. 45 für die Fortsetzung der "Operation Braunschweig" - die gleichzeitige Offensive gegen den Kaukasus und gegen Stalingrad - zersplitterte die Kräfte und ging auf Hitler persönlich zurück.

Der Leidensweg der 6. Armee und der Menschen in den betroffenen Gebieten nahm von da an seinen Lauf. Im August erreichten deutsche Truppen tief im Südosten den Kaukasus, kamen dann aber nicht weiter. Am 1. September setzte das Ringen um die Großstadt Stalingrad ein, am 19. November begann die sowjetische Großoffensive, die zur Einschließung der 6. Armee bereits drei Tage später führte. In der Nacht vom 23. November bat Generaloberst Friedrich Paulus Hitler um Handlungsfreiheit, am 24. November versprach Hitler Entsatz, den die Luftwaffe jedoch nicht leisten konnte. Wiederholt lehnte Hitler im Dezember einen Ausbruch der eingekesselten 6. Armee ab. Die Kapitulation erfolgte am 2. Februar 1943. Nach Hause kamen nur wenige zurück.

Die Hölle auf Erden

Es sind beklemmende Bilder: eingeschlossene Soldaten der 6. Armee, die in den Häuserruinen Stalingrads Obdach suchten; die am Ende bei einer Tagesration von nicht mehr als 200 Gramm Brot verhungerten; die verbluteten und dahinsiechten. 20 000 Verwundete konnten nicht versorgt werden. Der Kessel von Stalingrad: Das war die Hölle auf Erden. Fünf Monate hatte der Häuserkampf gedauert, am Ende hatten weit mehr als eine halbe Million Menschen ihr Leben gelassen.

Von Stalingrad zur bedingungslosen Kapitulation des Deutschen Reiches am 8. Mai 1945 war es ein gerader Weg. Wer ihn nachvollziehen will, muss bei Hitlers "Weltblitzkriegsstrategie" anfangen. Sie begann im Herbst 1939 mit dem Überfall auf Polen und erreichte im Juni 1941 mit dem Einmarsch der Wehrmacht in die Sowjetunion den Höhepunkt. Russland blieb der Dreh- und Angelpunkt dieser Strategie. Hitlers Rassenwahn und Antibolschewismus hatten sich in seinem "Lebensraumdenken" zu einem kruden Gedankengebräu verbunden: Der Bolschewismus habe in der Sowjetunion die Ablösung der germanischen durch die "jüdische Herrschaftsschicht" bewirkt, und deshalb sei das Riesenreich im Osten "reif für den Zusammenbruch". Der Russlandfeldzug sollte die Voraussetzungen schaffen, um eine Weltmachtstellung insgesamt aufzubauen. Und der gewaltigste Militärapparat, den Deutschland jemals aufgestellt hatte, war längst zum Werkzeug des Diktators verkommen.

Ursprünglich hätte der Feldzug bereits im September 1941 zu Ende sein sollen. Im Dezember 1941 aber blieb Heinz Guderians Vormarsch unmittelbar vor den Toren Moskaus in Schlamm, Eis und Schnee stecken. Da war das Konzept, Stalins Sowjetunion mit einem großen Schlag niederzuwerfen, bereits gescheitert. In einem zweiten Anlauf wollte Hitler mit der Schlacht von Stalingrad seinen Russlandfeldzug gewaltsam zu einem siegreichen Ende zwingen.

Doch immer mehr zeigte sich, dass er in eine Scheinwelt floh. Das weltweite Bündnis seiner Gegner - Ende 1941 hatte Deutschland noch den USA den Krieg erklärt - war längst viel zu stark geworden. Selbst ein Sieg in Stalingrad hätte daran nichts mehr geändert. Im Herbst 1942 wiederholte sich, was sich bereits ein Jahr zuvor als verhängnisvolle Fehleinschätzung erwiesen hatte: Die nationalsozialistische Propaganda feierte den Sieg vor der Zeit. Hitler selbst verkündete vor "alten Kämpfern" im Münchner Bürgerbräukeller am 8. November 1942, Stalingrad sei so gut wie erobert und es gehe um "Sein oder Nicht-Sein unseres Volkes". Immer, wenn Hitler von seinem Volk sprach, meinte er zu allererst sich selbst.

Es ist in der Geschichte des 20. Jahrhunderts nicht allzu häufig vorgekommen, dass operative Kriegführung und strategische Grundentscheidungen sich in ein und derselben Person konzentrierten. Hitlers Auffassung vom militärischen Führer kommt in der scheinbar beiläufigen Bemerkung vom Dezember 1941 zu Generaloberst Franz Halder zum Ausdruck, als er die zusätzliche Übernahme des Oberbefehls des Heeres mit den bezeichnenden Worten begründete, dass "das bisschen Operationsführung" jeder könne.

Hitler unterschätzt die Rote Armee

Dies lag in der Logik der groß angelegten deutschen Sommeroffensive an der südlichen Ostfront, die am 28. Juni 1942 begann. Es kam tatsächlich zu tiefen Einbrüchen und einigen spektakulären Erfolgen, etwa der Einnahme von Sewastopol am 1. Juli. Wenige Tage später fiel die ganze Krim in deutsche Hand. Die sowjetische Front zwischen Don und Donez war heftig ins Wanken geraten, doch konnte keine Rede davon sein, dass die Masse der Roten Armee geschlagen sei. Vielmehr gelang es den sowjetischen Truppen, sich halbwegs geordnet abzusetzen.

Der Chef des Generalstabs des Heeres, Generaloberst Kurt Zeitzler, warnte Hitler im Sommer 1942 wiederholt vor einer russischen Gegenoffensive. Hitler indes parierte Zeitzlers Ausführungen mit der Bemerkung, es sei seine alte Erfahrung, dass der Generalstab "den Gegner grundsätzlich überschätze". Zeitzler hat sein Ringen mit Hitler um die Erlaubnis zum Ausbrechen der 6. Armee eindrucksvoll dargestellt, und er hat die Zusammenstöße mit Hitler um die Zurücknahme der Kaukasusheeresgruppe kurz darauf wiederholt.

Wer überhaupt so weit kommen wollte, Hitler von einem vorgefassten Entschluss abzubringen und militärisch zu beraten, der musste über Fingerspitzengefühl und die Kunst der Diplomatie verfügen, er musste sich der Hitlerschen Suada entziehen können und zudem ein Gespür für den rechten Augenblick haben. Es müssen lautstarke und erregte Wortwechsel gewesen sein. Und sie zeigen, wie sehr Hitler Stalingrad und den Kaukasus als eine Einheit begriff: Zeitzler möge sich keine Sorgen machen. Man könne nicht wegen Stalingrad gleich alles zurücknehmen. Man dürfe nicht die Nerven verlieren.

"Führer"-Gläubigkeit der Generäle

Eine Betrachtung der militärischen Entscheidungen auf dem Weg zur Katastrophe von Stalingrad wäre unvollkommen, wenn nicht die Rolle der Wehrmacht als Instrument der nationalsozialistischen Aggressionspolitik bei der Totalisierung des Krieges angesprochen würde. Da ist zunächst das Versagen der Generale, die nicht über den Mut verfügten, gegen Hitlers sinnlose Entscheidungen aufzubegehren.

Am folgenreichsten war wohl General Paulus' Weigerung, den bis Weihnachten 1942 noch möglichen Ausbruch aus dem Kessel von Stalingrad zu wagen. Längst hatte Hitler die Wehmacht nach seinen Vorstellungen umgeformt. Das Chaos ihrer Spitzengliederung und die allmähliche Ersetzung scheinbar unbotmäßiger durch stramm nationalsozialistische Generäle setzten sich fort. Auch die Entlassung Halders als Chef des Generalstabs des Heeres und die Ernennung Zeitzlers ist vor diesem Hintergrund zu sehen. Zeitzler verlangte von seinen Offizieren, eine absolute "Führer"-Gläubigkeit statt "nur Löcher im Käse zu sehen".

Als Autodidakt war das Feld von Hitlers eigener militärischer Erfahrung auf den Ersten Weltkrieg aus Perspektive des damaligen Gefreiten begrenzt. Zu den grundlegenden und axiomatisch wiederkehrenden Lehren zählte für ihn, dass die Kontinentalmacht Russland und die angelsächsischen Seemächte nacheinander besiegt werden müssten.

Dies mag mit erklären, weshalb Hitler auch nach dem Fehlschlag vor Moskau 1941 konsequent die Wiederaufnahme der Russlandoffensive betrieb und dabei auf die Verbündeten setzte, damit die deutschen Verbände an bestimmten Schwerpunkten zum Einsatz gebracht werden konnten. Dieses Kalkül freilich konnte nicht aufgehen. Zum einen war die "Hitler-Koalition" kein Bündnis unter gleichwertigen Partnern. Das "weltpolitische Dreieck Berlin-Rom-Tokio" ist nie über Ansätze zu einer Globalstrategie hinausgekommen. Faktisch führte jeder der drei Partner seinen eigenen Krieg.

Der letzte Versuch

Und auch auf die anderen Bundesgenossen konnte aus deutscher Sicht nur bedingter Verlass sein. Für Bulgarien kam eine Kriegserklärung an die Sowjetunion ebenso wenig in Frage wie für Finnland diejenige an die Vereinigten Staaten. Als die Front erste Schwächezeichen der deutschen Wehrmacht offenbarte, regte sich bei den osteuropäischen Verbündeten Deutschlands jeweils unterschiedlicher Widerstand gegen den Kriegskurs. Hitler konnte sein Misstrauen gegen die Bundesgenossen nie verhehlen. Der Kampfwert ihrer Armeen allerdings hielt sich in Grenzen. Ihr Zusammenbruch vor Stalingrad hatte für die deutsche Südfront in Russland fatale Auswirkungen. Seine Gründe lagen auch in mangelnder Ausstattung mit Munition und Panzern.

Hitler war sich im Herbst 1942, wenn man den Aufzeichnungen seines Luftwaffenadjutanten Nicolaus von Below folgt, durchaus der Gefahren bewusst, unterschätzte jedoch die sowjetischen Kräfte. Wunschdenken beeinflusste die Wahrnehmung der Wirklichkeit. Was folgte, war ein Drama der modernen Kriegsgeschichte und eine humanitäre Katastrophe zugleich. Die Sommeroffensive 1942 war ein letzter, wohl auch verzweifelter Versuch gewesen, die Initiative zurückzugewinnen, das Blatt zu wenden.

Mit Stalingrad endete jene merkwürdige Zwischenphase zwischen dem japanischen Angriff auf Pearl Harbor, Dezember 1941, und der Kapitulation der 6. Armee bei Stalingrad im Februar 1943. Die äußerliche Machtausdehnung von Hitlers Europa vom Nordkap bis zur Biskaya und an den Kaukasus, ein klassischer overstretch, verstellte den Blick für die tatsächliche Lage.

Im Januar 1943, so Below, scheint auch Hitler klar geworden zu sein, dass der Zweifrontenkrieg gegen Russen und Amerikaner für ihn nicht mehr zu gewinnen war. Hitler hatte Abschied von der Politik genommen. Seine Strategie konnte jetzt nur noch scheitern.

Aber er ließ sein Volk den Kelch bis zur bitteren Neige leeren. Und sehr viele folgten ihm noch, voran jenes Militär, das sich von ihm in die Katastrophe hatte treiben lassen.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: