Zweiter Weltkrieg:Russische Erinnerungslücken

Members of the motorcycle group called Night Wolves coming from Russia, Macedonia and Bulgaria pose for a picture on top of a Red Army tank at the German-Russian museum Berlin-Karlshorst in Berlin

Mitglieder der russischen Rockergruppe "Nachtwölfe" posieren auf dem Panzer vor dem Deutsch-Russischen Museum in Karlshorst.

(Foto: REUTERS)

Das Deutsch-Russische Museum in Berlin ist schon lange Schauplatz der Weltpolitik. Während Russland isoliert ist, versucht der Direktor den Dialog aufrechtzuerhalten. Das hat seinen Preis.

Von Antonie Rietzschel, Berlin

Jörg Morré muss sich entschuldigen. Zur Ausstellungseröffnung am 76. Jahrestag des Überfalls auf die Sowjetunion wollte er eigentlich Grußworte verlesen. Von den Botschaftern der Ukraine, Russland und Weißrussland. Doch keiner hat geliefert. Jetzt steht Morré vor zwei Stuhlreihen mit älteren Damen, Überlebende des Zweiten Weltkrieges. Sie schauen Morré erwartungsvoll an. Er improvisiert, bittet eine der Frauen ans Rednerpult. Sie soll erzählen, wie das damals war in Iwanowo, als am 22. Juni 1941 der Krieg losbrach. Sie war noch ein Kind, erinnert sich an den Lärm eines Fußballspiels. Und dann plötzlich die Ansage über Lautsprecher: Es ist Krieg. Die Geschichte rettet den Abend.

Was war da los, Herr Morré? "Politik", sagt er knapp. Der 53-Jährige ist Direktor des Deutsch-Russischen Museums Berlin-Karlshorst, das an den Zweiten Weltkrieg erinnert. Lange Zeit war das Haus ein Symbol für Freundschaft, nicht nur zwischen Russland und Deutschland. Im Trägerverein und dem wissenschaftlichen Beirat sitzen mittlerweile auch Vertreter aus der Ukraine und Weißrussland. Doch das Museum ist zwischen die Fronten eines internationalen Konflikts geraten.

Das war schon in den vergangenen Jahren zu spüren: Zum Gedenken des Kriegsendes am 8. Mai war es bisher immer gute Tradition, dass die Botschafter der USA, Russlands, Frankreichs, Großbritanniens und auch der Ukraine sowie Weißrusslands in Karlshorst zusammenkamen, um einen Toast auf den Frieden auszusprechen. An dem Ort, wo 1945 die Kapitulation Deutschlands unterschrieben wurde. Doch dann annektierte Russland im Frühjahr 2014 die Halbinsel Krim. Der Botschafter der Ukraine kam nicht mehr nach Karlshorst. Schließlich blieben auch die amerikanischen und britischen Vertreter fern. Es geht darum Russland, zu isolieren. Im Großen wie im Kleinen. Doch Morré will den Dialog aufrechterhalten. Der Preis: "Ich muss mich als Historiker auch mal verbiegen."

Ruhm und Ehre der Sowjetunion - ein Narrativ, das sich bis heute hält

In den postsowjetischen Staaten gab es schon immer einen sehr eigenen Blick auf die Vergangenheit. 27 Millionen Menschen kamen in der Sowjetunion zwischen 1941 und 1945 ums Leben. Im Mittelpunkt der Erinnerung steht aber nicht der Krieg als Tragödie, sondern der Triumph im Jahr 1945. Der 9. Mai gilt in den postsowjetischen Staaten als "Tag des Sieges". In Moskau wird an diesem Tag immer eine riesige Militärparade abgehalten, die an den patriotischen Gefühlen der Bevölkerung rühren aber auch die Stärke Russlands demonstrieren soll. Ruhm und Ehre der Sowjetunion - dieses Narrativ hat sich bis heute gehalten.

Ein großes Problem ist aus Sicht Morrés, dass die historischen Archive in Russland nicht wirklich zugänglich sind. Das lasse Platz für unterschiedliche Geschichtsinterpretationen. "Wer die Akten hat, hat die Macht." Die liegt in diesem Fall beim russischen Staat. Und der nutzt diese Macht mehr denn je, um die eigene Vergangenheit zurechtzubiegen. Man könne Geschichte nicht neu schreiben, sagte der russische Präsident Wladimir Putin Ende 2014. Dennoch hat sich unter seiner Präsidentschaft der Blick auf die Historie des Landes dramatisch verändert - es wurde weggelassen, geschönt, umgedeutet zugunsten eines neuen Selbstbewusstseins der Russen. Im Herbst 2015 wurde in der Nähe des Roten Platzes eine staatlich finanzierte Ausstellung eröffnet. Ein riesiger Raum widmete sich allein Stalin und den Errungenschaften der dreißiger Jahre. Die Sowjetbürger wurden als "strebsames Volk" beschrieben. Der Terror, die Arbeitslager - Themen, die die Ausstellungsmacher in dunkle Ecken verbannten.

Alle sind vorsichtiger geworden

Putin selbst hat die Schreckensherrschaft Stalins immer wieder relativiert: "Wer weiß, ob wir den Krieg gewonnen hätten, wenn die damaligen Machthaber nicht so grausam gewesen wären." Die Botschaft des russischen Präsidenten ist klar: Nur ein starker Führer kann ein Land zum Sieg bringen. Als dieser Führer sieht sich heute Putin selbst. Er distanziert sich nur dann von der Geschichte, wenn es den eigenen Interessen nützt. So kritisierte er, dass die Sowjetunion 1991 die Krim der Ukraine überließ. Die Annektierung der Halbinsel begründete er damit, dass sie ursprünglich zu Russland gehört habe.

Wer der staatlichen Geschichtsschreibung widerspricht, muss damit rechnen, als Extremist verfolgt zu werden. Vor diesem Hintergrund ist es eine beachtliche Leistung, dass Morré und seine Kollegen aus Russland, Weißrussland und der Ukraine sich immer noch an einen Tisch setzen. Alle sind vorsichtiger geworden. Morré spürt das. Doch trotz der politischen Verwerfungen sind sie sich im Förderverein einig, dass sie das Deutsch-Russische Museum nicht aufgeben können. Gemeinsame Ausstellungen sind für die Zukunft nicht geplant. Zu unterschiedlich sind derzeit die Konzepte. Morré reist regelmäßig nach Russland, um an Messen teilzunehmen oder um Partnermuseen zu besuchen. Vor Kurzem präsentierte ein russischer Kollege stolz den neuen Pädagogikraum seines Museums. Dort konnten Kinder und Jugendliche das Computerspiel "World of Tanks" spielen. "Das war einfach eine Spielhölle." Gesagt hat Morré das natürlich nicht.

Derzeit beruht die Zusammenarbeit darauf, sich gegenseitig Sonderausstellungen auszuleihen. So werden Russen mit dem deutschen Blick auf die Geschichte konfrontiert und andersrum. Karlshorst zeigt anlässlich des Überfalls auf die Sowjetunion die Sammlung "Kinder im Krieg". Morré hat sie vom Zentralmuseum des Großen Vaterländischen Krieges in Moskau übernommen. Auf mehreren Schautafeln wird das Leid der Kinder in den Sowjetstaaten nachgezeichnet: Traurige Schicksale aus Konzentrationslagern. Geschichten von Jungen und Mädchen, die während der Belagerung von Leningrad unter der Hungersnot litten.

Aber es gibt auch sehr viele Geschichten wie die des 13-jährigen Wanja Andrianow, der der Roten Armee half, Soldaten der Wehrmacht aus dem Hinterhalt heraus anzugreifen. Heldengeschichten. Von Jungmatrosen, die "ihrem Herzen" folgten. "Umweht von Meeresromantik". Morré bittet die Besucher bei der Eröffnung, die deutsche Perspektive abzulegen und den Stolz der postsowjetischen Staaten über den Sieg vor Augen zu haben. Doch einem älteren Herren fällt das beim Betrachten der Texttafeln offensichtlich schwer und er sagt etwas, das Morré öffentlich nie sagen würde: "Propaganda".

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