Verfolgen Sie die historischen Ereignisse:
Barbara Galaktionow
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Am Ende des Zweiten Weltkriegs vor 75 Jahren überschlagen sich die Ereignisse im untergehenden Deutschen Reich. Militärisch ist der Krieg für die Deutschen schon längst verloren. Doch die NS-Führung und auch lokale Funktionäre und SS-Angehörige nötigen ihren "Volksgenossen" einen gnadenlosen Endkampf auf. Wer desertieren oder eine weiße Fahne hissen will, droht erschossen oder erhängt zu werden. Erbarmungslos zeigt sich das Regime bis zuletzt auch gegenüber denjenigen, die es zuvor schon verfolgt und gequält hat: KZ-Häftlinge werden gezielt getötet, in überfüllte Züge gepfercht oder in brutalen Todesmärschen durchs Land getrieben. Auch zahlreiche ausländische Zwangsarbeiter werden ermordet.
Barbara Galaktionow
Die militärische Lage Ende April 1945
Es ist nur noch eine Frage von wenigen Wochen, vielleicht sogar von Tagen, bis der Weltkrieg in Europa beendet ist. Alliierte Streitkräfte dringen von Ost und West immer weiter ins Reichsgebiet vor. Großstädte wie Köln, Wien und Hannover sind Ende April besetzt, auch das wichtige Ruhrgebiet. Am 25. April treffen sowjetische und amerikanische Einheiten bei Torgau in Sachsen zusammen - Hitlers Drittes Reich besteht nur noch aus einzelnen Bereichen, die von den Alliierten noch nicht erobert sind. Östlich von Berlin durchbricht die Rote Armee die Verteidigungslinien der Wehrmacht und umschließt die Reichshauptstadt.
Der Vormarsch der Roten Armee versetzt die Einwohner von Berlin in Angst und Schrecken, während Hitler mit seinem Gefolge im sogenannten Führerbunker bei der Reichskanzlei unter Drogen zwischen Depression und Größenwahn schwankt. Auch in Süddeutschland dringen die Truppen der Westalliierten immer weiter vor. Französische Einheiten erobern Teile von Südwest-Deutschland. In Nürnberg, der Stadt der Reichsparteitage, müssen sich die Nationalsozialisten nach fünf Tage währenden Gefechten am Ende doch geschlagen geben - es wird die letzte große Schlacht im süddeutschen Raum sein. Nun steht die US-Armee bei Augsburg. München gerät bereits ins Blickfeld.
Text über die Schlacht um Nürnberg (SZplus)
Oliver Das Gupta
Sterbendes Regime mit verschiedenen Machtzentren
In dieser letzten Phase des Krieges ist die Entscheidungsgewalt im bis dahin nach dem Führerprinzip funktionierenden NS-Staat zersplittert. Die Kommunikationswege sind zusehends gestört, einzelne Militärführer ignorieren Befehle, sogar wenn sie von Hitler direkt kommen. Das Führungspersonal hat sich zerstreut: Am Alpenrand, in Berchtesgaden, halten sich neben Göring noch weitere prominente Funktionsträger und ihre Mitarbeiter auf. Im holsteinischen Plön hat Marinechef Karl Dönitz sein Hauptquartier, SS-Chef Heinrich Himmler hält sich in Lübeck auf. Das Oberkommando der Wehrmacht (OKW) mit Alfred Jodl und Wilhelm Keitel an der Spitze gibt seinen festen Sitz in Zossen südlich von Berlin am 20. April auf. Seitdem bewegt sich der Tross der Militärführung nach Norden. Am 28. April befindet sich das OKW in der Nähe von Rheinsberg nördlich der Hauptstadt.
Adolf Hitler hat Überlegungen, nach Berchtesgaden zu reisen, vor einigen Tagen aufgegeben. Er will im Bunker unter der Reichskanzlei bleiben. Bei dem Diktator sind NS-Größen wie sein Sekretär Martin Bormann und Propagandaminister Joseph Goebbels, der auch seine Frau und seine Kinder mit in den unterirdischen Betonbau gebracht hat. Hitler, der bis dahin absolut geherrscht hat, verfügt nur noch über relative Macht. Wie wenig seine Befehle noch zählen, wird von Tag zu Tag deutlicher.
Hitler am 20. März 1945 im Garten der Reichskanzlei. Der Diktator schreitet eine Front von 20 HJ-Angehörigen ab - der jüngste Jugendliche ist zwölf Jahre alt. . Scherl
Barbara Galaktionow
28. APRIL 1945 (SAMSTAG)
Philipp Saul
In Bayern beginnt der Aufstand
Es ist mitten in der Nacht, als der Aufstand losgeht. Eine Gruppe um Hauptmann Rupprecht Gerngross will das Ende des Krieges in Bayern herbeiführen und der Bevölkerung weiteres Leid ersparen. Die meisten Mitglieder sind jüngere Offiziere aus dem Dolmetscherwesen, die die nationalsozialistische Führung stürzen und dann die Kapitulation mit den anrückenden Alliierten verhandeln wollen. Sie nennen sich "Freiheitsaktion Bayern".
Von der Münchner Türkenkaserne bricht eine Truppe mit zwei LKW nach Pullach auf, wo das Oberkommando West der Wehrmacht untergebracht ist. Dort wollen die Widerständler General Siegfried Westphal festnehmen, den Stellvertreter des Oberbefehlshabers West, Alfred Kesselring. Sie können jedoch nur sieben Angehörige einer SS-Kompanie in ihre Gewalt bringen und kehren dann nach München zurück. Sie stürmen das Rathaus und hissen die weiß-blaue Fahne.
Text über die "Freiheitsaktion Bayern" (SZplus)
Oliver Das Gupta
Berliner Regierungsviertel unter starkem Beschuss
In der Nacht wächst die Intensität des sowjetischen Artilleriefeuers im Zentrum der Hauptstadt. Die Reichskanzlei wird mit Katjuscha-Raketen beschossen, deren Abschussvorrichtungen von den deutschen Soldaten umgangssprachlich Stalinorgeln genannt werden. Im Bunker unter der Regierungszentrale fragt Adolf Hitler, mit welchem Kaliber die Sowjets feuern. Als ihm jemand die Bezeichnung "Stalinorgeln" nennt, weiß er nichts damit anzufangen.
Oliver Das Gupta
"…dann ist es zu spät"
General Hans Krebs ruft vom Führerbunker aus beim Oberkommando der Wehrmacht (OKW) an, Hitler drängt ihn. Der Diktator will wissen, wo die deutschen Truppen bei Oranienburg stehen, die den sowjetischen Belagerungsring um Berlin knacken sollen. Den Anwesenden ist klar, wie ernst die Lage ist. "Wenn uns nicht in den nächsten 36 bis 48 Stunden geholfen wird, dann ist es zu spät", sagt Krebs.
Philipp Saul
"Achtung, Achtung! Sie hören den Sender der Freiheitsaktion Bayern!"
Im Anschluss an die Einnahme des Rathauses besetzt die Freiheitsaktion Bayern zum ersten Mal in der deutschen Rundfunkgeschichte einen offiziellen Sender. Zunächst vom Freimanner Radiosender, später von einem Sender in Ismaning mit größerer Reichweite versenden die Aktivisten ihre Botschaften. Sie hätten "die Regierungsgewalt erstritten", verkünden sie. "Die Stunde der Freiheit hat endlich geschlagen. Die Kapitulation steht unmittelbar bevor." Die Aufständischen rufen die Bevölkerung dazu auf, Funktionäre der NSDAP festzusetzen und zu entwaffnen. Der Codename der Aktion lautet "Fasanenjagd" nach den wegen ihrer prunkvollen Uniformen beim Volk als "Goldfasanen" bezeichneten Nazigrößen.
Text über den Sendemasten, den die Aufständischen benutzen.
Barbara Galaktionow
Nazi-Zeitungen beschwören Kampfgeist
In Berlin erscheint die Zeitung Panzerbär mit der Parole "Wir halten durch" als Titel. Das kleinformatige Propagandablatt suggeriert, dass die von der Roten Armee in der Innenstadt eingeschlossenen deutschen Soldaten bald Hilfe von außen bekommen. "Anmarsch der Reserven von allen Seiten", prangt es in dicken Lettern auf Seite 1. Ähnlich formuliert der Völkische Beobachter. "Berlin kämpft entschlossen", behauptet das publizistische Sprachrohr der NSDAP. Die deutschen Verteidiger der Hauptstadt bildeten eine "Kampfgemeinschaft", die "wie Pech und Schwefel zusammenhält". Außerdem zitiert die Nazi-Postille angeblich aus Briefen von US-Soldaten, die deren Raubgier bezeugen sollen – eine offenkundige Fälschung, die antiamerikanische Ressentiments schüren soll. "Festung Bayern" titelt die Münchner Ausgabe des Völkischen Beobachters. Doch davon kann keine Rede sein: Echte Verteidigungslinien gibt es auch in Bayern nicht. Dort marschieren die Amerikaner an diesem Tag in den Großstädten Regensburg und Augsburg ein.
Ausschnitt der Titelseite des "Völkischen Beobachters", Münchner Ausgabe. Oliver Das Gupta
Philipp Saul
Der einzige nicht nur lokale, sondern regionale Versuch, den Krieg zu beenden
Im Laufe des Morgens wenden sich die Widerständler der Freiheitsaktion Bayern mehrfach über das Radio an die Bevölkerung. Ihre Ziele: Das Ende der Naziherrschaft und die Einführung von Rechtsstaat und Grundrechten. Sie wollen erreichen, dass Städte wie München den anrückenden Amerikanern kampflos übergeben und nicht blutig verteidigt werden.Die Aufrufe haben Folgen: Zahlreiche Bürger wenden sich gegen Soldaten und NSDAP-Funktionäre in noch nicht von US-Truppen besetzten Gebieten, wie Ober- und Niederbayern. Amerikanische Soldaten stehen zu dieser Zeit bereits bei Augsburg und nördlich der Donau. Die Historikerin Veronika Diem dokumentiert 78 Folgeaktionen gegen die Nationalsozialisten. Daran beteiligten sich ihr zufolge mehr als 1400 Soldaten und Zivilisten.
Die Freiheitsaktion Bayern ist deutschlandweit der einzige "Versuch, nicht nur lokal, sondern regional eine Beendigung des Krieges zu erzwingen und eine Aufstandsbewegung der letzten Minute gegen den nationalsozialistischen Krieg in der Heimat ins Werk zu setzen", schreibt der Historiker Sven Keller.
Oliver Das Gupta
Häftlinge des KZ Ravensbrück auf Todesmarsch
Seit dem Vortag läuft die etappenweise Räumung des größten Konzentrationslagers für Frauen auf deutschem Territorium. An diesem Morgen treibt die SS weitere Gruppen aus dem Lager, diesmal sind auch viele tschechische Gefangene dabei wie Jaroslava Skleničková. Die junge Frau ist eine der letzten Überlebenden von Lidice, einem Dorf nahe Prag. Die Deutschen hatten den Ort 1942 dem Erdboden gleichgemacht und fast alle Bewohner ermordet - ein Racheakt wegen des Attentats auf die SS-Größe Reinhard Heydrich. Nun, kurz vor Kriegsende, wird Skleničková mit den anderen weiblichen Häftlingen aus dem KZ Ravensbrück nach Westen getrieben. In Fünferreihen gehen die Frauen, das Laufen in den Holzschuhen fällt schwer. "Die Aufseherinnen tobten, unser langsamer Marsch brachte sie zur Weißglut", schreibt Skleničková später in ihren Erinnerungen. An diesem 28. April 1945 gehen sie ohne Pause, am Ende haben sie 40 Kilometer zurückgelegt. Hier ein Text über die Zeitzeugin Jaroslava Skleničková und die Vernichtung ihres Heimatdorfes Lidice (SZ Plus)
Oliver Das Gupta
Rote Armee nur noch 1200 Meter von der Reichskanzlei entfernt
Stück für Stück kämpfen sich die sowjetischen Soldaten in der Berliner Stadtmitte voran. Sie erreichen über Moabit die Spree und versuchen, die halbzerstörte Moltkebrücke zu erobern, die sich über den 50 Meter breiten Fluss spannt. Auf deutscher Seite kämpfen etwa 30 000 Soldaten im Innenstadt-Kessel, der immer kleiner wird: Der Streifen ist etwa 14 Kilometer lang, aber nur noch zwei Kilometer breit.
Im Schützengraben: Minderjähriger und älterer Angehöriger des Volkssturms während der Schlacht um Berlin. Scherl
Philipp Saul
Bayern: Das Regime schlägt zurück
Den Widerständlern der Freiheitsaktion Bayern gelingt es nicht, die Schaltstellen der Macht in München zu besetzen, dafür sind sie militärisch zu schlecht ausgerüstet. Nur kurz können die 440 Soldaten der Freiheitsaktion das Münchner Rathaus und eine Zeitungsredaktion besetzen. Nur wenige Stunden nach der ersten Radioansprache der Freiheitsaktion Bayern wenden sich Gauleiter Paul Giesler und Oberbürgermeister Karl Fiehler in einer eigenen Ansprache an die Bevölkerung. Der Aufstand der "Landesverräter" sei niedergeschlagen. Auch die vielen kleineren Aufstände infolge der Radioansprachen bleiben erfolglos und enden oft blutig. Das Regime reagiert mit brutaler Härte und einer Art letztem Rachefeldzug gegen die Widerständler. Insgesamt werden wohl mindestens 57 Menschen umgebracht.Trotz des guten Willens der Widerständler gegen das Nazi-Regime und des hehren Ziels, den Krieg möglichst unblutig zu beenden, ist die Bilanz der Freiheitsaktion insgesamt niederschmetternd. Angesichts der geringen eigenen Personal- und Militärkraft haben die Widerständler die Situation in München und Bayern falsch eingeschätzt und durch ihre Radioansprachen zu Aufständen aufgerufen, die kurz vor Kriegsende noch einmal viele Menschenleben gekostet haben.
Philipp Saul
Berliner in einer "Stimmung wie auf der Titanic"
Dort, wo in Berlin nicht gekämpft wird, fallen letzte Hemmungen, es herrscht Anarchie. Einwohner dringen in Wohnungen und Geschäfte ein und nehmen sich, was sie brauchen, Eisenbahnwaggons werden geplündert. Betrunkene Soldaten torkeln durch die Straßen, Verwundete suchen verzweifelt nach Hilfe. Der Hunger treibt die Menschen dazu, Pferdekadaver zu zerlegen, selbst Hunde werden geschlachtet. In einer Untergangsatmosphäre fallen viele Menschen übereinander her und haben Sex. Im Gebäude des Großdeutschen Rundfunks nimmt der Radiosprecher Richard Baier eine "Stimmung wie auf der Titanic" wahr. "Es wurde gesoffen und ganz ungeniert geliebt. Da lagen zwei Kolleginnen mit vier Männern im Bett, das waren unvorstellbare Szenen", erzählt Baier nach dem Krieg.
Oliver Das Gupta
Hitler ist ein Wrack
Im Führerbunker sind Hitler und sein Gefolge zwar geschützt vor Granaten. Doch die Belüftungsanlage transportiert die Luft des Krieges in die unterirdische Anlage. Dort herrschen hohe Temperaturen, es riecht nach Brand, Chlor und Verwesung. Hitler hat wegen der Luft Probleme mit dem Sehen. Von seinem Diener lässt er sich an diesem Tag 13 Mal Tropfen in die Augen träufeln. Auch sonst geht es dem Diktator schon lange nicht gut. Augenzeugen sprechen von einem körperlichen Verfall. Beschleunigt wird diese Entwicklung durch die Präparate, die ihm sein Leibarzt Theodor Morell seit Jahren verabreicht. Seit Herbst 1944 spritzt der Mediziner seinem Patienten auch das starke Opioid Eukodal. Im Bunker gibt es einen Raum für Morell, doch der Arzt ist nicht mehr in Berlin. Er ließ sich am 23. April nach Oberbayern ausfliegen.
Norman Ohler dokumentiert später die Drogenabhängigkeit Hitlers. Hier ein Interview mit dem Schriftsteller.