Süddeutsche Zeitung

Zweiter Weltkrieg:Kontraproduktiver Bombenkrieg

Der Historiker Richard Overy schildert den strategischen Bombenkrieg der 1940er-Jahre, der etwa 600 000 Menschen das Leben kostete. Die Zerstörung deutscher Städte war demnach militärisch ineffizient - ein Widerspruch zu einem alliierten Mythos.

Rezension von Stig Förster

Im Jahr 1912 entwickelte der bulgarische Hauptmann Simeon Petrow ein Gerät, um die erst seit wenigen Jahren in Betrieb befindlichen Motorflugzeuge als Angriffswaffe nutzbar zu machen: die Fliegerbombe. Diese Erfindung sollte Folgen haben.

Richard Overy leitet mit dieser relativ wenig bekannten Episode seine Betrachtungen zum Bombenkrieg in Europa ein. Etwas vollmundig kündigt er an, die erste vollständige Analyse zu diesem Thema verfasst zu haben. In jedem Fall ist sein Buch nicht bloß lesenswert, es hat das Zeug zum Standardwerk.

Die Idee des totalen Luftkrieges stammt aus Italien

Die deutsche Übersetzung ist Hainer Kober hervorragend gelungen. Die Leserschaft sollte aber im Auge behalten, dass der Text zunächst für ein britisches Publikum verfasst wurde. Overy schreibt nämlich vor allem gegen britische Mythen im Hinblick auf den Bombenkrieg an.

Er wendet sich gegen die Behauptung, die strategischen Bombardements gegen die deutsche Zivilbevölkerung hätten entscheidend zum Sieg der Alliierten beigetragen. Besonders harsch kritisiert er General Arthur Harris, den Oberkommandierenden der britischen Bomberflotte. Damit stellt Overy sich auf die Seite derjenigen, die Harris vor allem die sinnlose Vernichtung Dresdens im Februar 1945 vorhalten.

Aber Overy geht es nicht um moralische Verurteilungen. Vielmehr rechnet er kühl vor, dass die systematischen Bombenangriffe auf die Zivilbevölkerung feindlicher Länder, mit insgesamt etwa 600 000 Toten, nicht nur ineffektiv, sondern geradezu kontraproduktiv waren. Da wurden enorme Ressourcen vergeudet, die anderswo sinnvoller zum Einsatz hätten gebracht werden können.

Das ist eine starke These, die den Bewunderern Harris' die letzten Argumente rauben soll. Doch ist diese These auch richtig?

Overy verfolgt Entstehung und Entwicklung des Konzepts vom strategischen Bombenkrieg bis in den Ersten Weltkrieg zurück. Die vorhandenen Waffen waren damals allerdings zu schwach. In den 1920er-Jahren war es der italienische General Giulio Douhet, der eine Theorie des hemmungslosen Bombardements entwickelte und damit die Totalisierung des Krieges predigte.

Richard Overy: "Der Bombenkrieg"

Eine Leseprobe stellt der Verlag hier zur Verfügung.

Systematische Luftangriffe auf das Hinterland des Feindes sollten Angst, Zerstörung und Tod bringen. Davon versprach Douhet sich den moralischen Zusammenbruch der Bevölkerung, was eine schnelle Beendigung des Krieges ermöglichen würde. Doch die italienische Luftwaffe war zu keiner Zeit in der Lage, ein derartiges Konzept umzusetzen, jedenfalls nicht gegen gleichwertige Gegner.

Auch anderen Luftwaffen fehlten schlicht die Möglichkeiten für einen strategischen Luftkrieg. So entwickelten sie die Doktrin der taktischen Luftangriffe, welche die Bodentruppen unterstützen sollten. Allein die Royal Airforce, so Overy, hielt den direkten Terrorangriff auf feindliche Städte für ein probates Mittel.

Hitler drohte, englische Städte "auszuradieren"

Overys Darstellung zum Zweiten Weltkrieg beginnt mit vier Kapiteln über die deutsche Luftkriegsführung. Er meint, zeigen zu können, dass die deutsche Luftwaffe primär taktischen Zielen gedient habe. Selbst als sie gegen Großbritannien die erste strategische Luftoffensive des Krieges eröffnete, seien das Töten von Zivilisten und die Verbreitung von Terror sekundär gewesen: Vielmehr war zunächst die Erringung der Luftherrschaft das Ziel, um die Invasion Englands zu ermöglichen.

Nach dem Scheitern dieses Plans wurde durch die Zerstörung von Verkehrswegen und Hafenanlagen eine Art Wirtschaftsblockade aus der Luft angestrebt. Zivile Opfer wurden dabei in Kauf genommen - es waren Tausende.

Zwischenzeitlich drohte Hitler, die englischen Städte "auszuradieren". Wie ernst diese Drohung gemeint war, ist unklar. Doch die Luftwaffe war sowieso nicht in der Lage, solche Absichten zu verwirklichen. Es mangelte an schweren Bombern und technischer Ausrüstung. So scheiterte die deutsche Luftoffensive gegen Großbritannien. Auch im Luftkrieg gegen die Sowjetunion blieb die Wirkung der deutschen Luftwaffe begrenzt: Zu viel Personal und Material hatte sie über England verloren.

Der zweite Teil des Buches beschäftigt sich mit dem alliierten Bombenkrieg über Europa. Detailliert und sehr kritisch analysiert Overy die Entwicklung und Durchführung der Bombenstrategie. Hauptzielscheibe war natürlich Deutschland. Doch den Briten und lange Zeit auch der US-Airforce fehlten zunächst die notwendigen Mittel. Dabei drängte Churchill auf rücksichtslose strategische Bombenangriffe auch gegen zivile Ziele. Der notorische Deutschenhasser Arthur Harris versprach zu liefern.

Overy zeigt überzeugend auf, welche enormen Schwierigkeiten zu überwinden waren, um intensiv gegen Ziele in Deutschland vorzugehen. Bis Ende 1943 mussten die Alliierten gegen die kampfstarke deutsche Luftverteidigung schwerste Verluste hinnehmen. Dennoch kam es zu Massenangriffen. Köln und das Ruhrgebiet wurden von britischen Bombern fast völlig zerstört. In Hamburg wurde auf Harris' Befehl hin nach zynischer Planung ein regelrechtes Massaker angerichtet.

Die Amerikaner verfolgten eine andere Vorgehensweise. Sie griffen primär wirtschaftliche und militärische Ziele bei Tag an. Dafür zahlten sie einen hohen Preis und erreichten eher wenig. Harris hingegen befahl Massenangriffe bei Nacht, deren Zweck angesichts der Zielungenauigkeit in der Vernichtung von Arbeitskräften lag, um so die deutsche Kriegswirtschaft entscheidend zu treffen.

Aber diese Methode lieferte außer massenhafter Zerstörung, Tausenden Toten und unsäglichem Leid wenig Ertrag. Die deutschen Luftschutzmaßnahmen, behördliche Hilfe für die Betroffenen, die Einsatzbereitschaft der Bevölkerung und der Terror des NS-Regimes hielten Wirtschaft und Kriegsmoral aufrecht. Harris verkannte zudem, dass das NS-Regime sogar bereit war, das eigene Volk zu opfern.

Erst im Sommer 1944, als die US-Luftwaffe systematisch die deutsche Luftwaffe und deren Treibstoffversorgung niederkämpfte, errangen die Alliierten die Luftherrschaft über Deutschland und konnten nun gnadenlos bombardieren. Die erfolgreiche Landung in der Normandie verschaffte den Bomberflotten zusätzlich freie Hand. Die Sorge vor weiteren deutschen "Wunderwaffen" und der ungebrochene Widerstand des Feindes spornten die beiden Luftwaffen an, rücksichtslos das ganze Land zu zerstören.

Overys Buch beleuchtet noch viele andere Aspekte. So etwa den Bombenkrieg gegen Italien, der angesichts der Unfähigkeit der faschistischen Behörden tatsächlich die Moral der Bevölkerung im Innersten traf. Malta war übrigens der am meisten bombardierte Ort im Zweiten Weltkrieg und hielt trotzdem durch. Auch die Angriffe auf die von der "Achse" besetzten Gebiete, unter denen vor allem Frankreich sehr zu leiden hatte, waren brutal und führten zu wachsendem Unmut.

Enorme Ressourcen von der Front zur Luftverteidigung umgeleitet

Doch zurück zur Ausgangsthese: War der völkerrechtswidrige strategische Bombenkrieg nun so ineffektiv, wie Overy am Ende seines Buches noch einmal zusammenfassend darlegt? Er selbst widerspricht diesem Argument, da er deutlich macht, dass diese Art der Kriegführung zumindest militärisch erfolgreich war: Die Angriffe auf deutsche Städte zwangen die NS-Führung dazu, enorme Ressourcen, die an der Front dringend benötigt wurden, zur Luftverteidigung umzuleiten.

Zudem war auch die amerikanische Strategie in den Auswirkungen für die Zivilbevölkerung kaum vom Vorgehen der britischen Führung zu unterscheiden. Und schließlich, darauf geht Overy leider nur am Rande ein, verfolgten die USA gegen Japan die gleiche Strategie wie Arthur Harris: Japanische Städte wurden dem Erdboden gleich gemacht - am Ende sogar mit Atombomben. Gegen die mörderischen Aggressoren der Achsenmächte war eben jedes Mittel recht.

Stig Försters Schwerpunkt ist Militärgeschichte. Er lehrt Neueste Geschichte an der Universität Bern.

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Quelle:
SZ vom 27.01.2015/odg
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