Hitler verkannte freilich die wesentlichen Grundlagen von Logistik und militärischer Macht. Selbst mit ihren rumänischen, italienischen und ungarischen Verbündeten hatte die Wehrmacht nie genug Truppen für die Eroberung und Besetzung eines so großen Gebiets.
Offiziere der Abwehr, des Wehrmachts-Geheimdienstes, befürworteten einen Plan, der den Deutschen möglicherweise eine Chance verschafft hätte, 1941 zu siegen. Er sah vor, eine ukrainische Armee aufzustellen, eine Million Mann stark.
Eine solche Vorstellung aber war ein Gräuel für Hitler, der niemals akzeptieren würde, "slawische Untermenschen" zu bewaffnen und sie Uniformen der Wehrmacht tragen zu lassen. Aber wenn die Deutschen angesichts ihrer zahlenmäßigen Unterlegenheit und der enormen Weite des Raums überhaupt eine Möglichkeit zum Sieg haben wollten, dann mussten sie die militärische Invasion in einen innersowjetischen Bürgerkrieg verwandeln.
Doch es stand niemals zur Debatte, den Ukrainern eine eigene Regierung zu erlauben oder wenigstens den Anschein von Unabhängigkeit zu geben. Die meisten jener, welche die deutsche Invasion anfangs willkommen geheißen hatten, erkannten nur zu bald, was die deutsche Herrschaft wirklich bedeutete.
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Antony Beevor, Jahrgang 1946, gehört zu den führenden Experten für den Zweiten Weltkrieg. Der Brite erhielt zahlreiche Preise für seine Bücher, darunter: "Stalingrad", "Berlin 1945. Das Ende" und zuletzt "Der Zweite Weltkrieg". Foto: Getty
Bild: Chris Jackson/Getty Images for Orion Books
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Zudem hatte Hitler eine Lektion aus dem japanischen Angriff auf China 1937 nicht begriffen. Auch dort attackierte eine gut ausgebildete und überlegene Streitmacht ein Land von enormer Ausdehnung. Auch sie erzielte große Anfangserfolge, aber shock and awe angesichts ihrer Grausamkeit provozierten wahrscheinlich mindestens so viel erbitterten Widerstand, wie sie Chaos und Panik erzeugten.
Hitler hat in seiner Geringschätzung des Bolschewismus diesen Effekt nie auch nur in Betracht gezogen. Den tief verwurzelten Patriotismus der meisten Russen, ihre Wut, ihre Entschlossenheit weiterzukämpfen, all dies unterschätzte er vollständig. Und keine dieser Eigenschaften hatte, wie Stalin stillschweigend erkannte, irgend etwas mit den Idealen des Kommunismus zu tun.
Und so blieb Hitler davon überzeugt, dass die Rote Armee und das ganze Sowjetsystem kollabieren würden. "Wir müssen nur die Tür auftreten, und das ganze verrottete Gebäude wird krachend zusammenbrechen", sagte er seinen Kommandeuren. Nachdenklichere Offiziere an den östlichen Grenzen hegten insgeheim Zweifel daran. Einige hatten General Armand de Caulaincourts Bericht über Napoleons Marsch auf Moskau 1812 und den entsetzlichen Rückzug gelesen.
Älteren Offizieren und Soldaten, die schon während des Ersten Weltkriegs in Russland gekämpft hatten, war ebenfalls nicht wohl bei der Sache. Und doch verhalf den meisten Deutschen die Serie triumphaler Eroberungszüge durch die Wehrmacht - in Polen, Skandinavien, den Beneluxstaaten, Frankreich und auf dem Balkan - zu dem beruhigenden Gefühl, dass ihre Streitkräfte unbesiegbar seien.
Offiziere erzählten ihren Männern, dass sie am "Vorabend eines der größten Feldzüge aller Zeiten" ständen. Und es standen fast drei Millionen deutsche Soldaten bereit, die bald von Armeen Finnlands, Rumäniens, Ungarns und zu guter Letzt Italiens unterstützt wurden, für den Kreuzzug gegen den Bolschewismus.
"Morgen ganz früh geht es los, Gott sei Dank!"
In Tannen- und Birkenwäldern, die den Fuhrpark, Hauptquartiere in Zelten und Fernmelderegimenter ebenso verbargen wie Kampfeinheiten, wiesen die Offiziere ihre Männer an. Viele versicherten ihnen, es werde nur drei oder vier Wochen dauern, die Rote Armee zu vernichten.
"Morgen ganz früh", schrieb ein Soldat einer Gebirgsjäger-Division, "geht es los, Gott sei Dank, gegen unseren Todfeind, den Bolschewismus. Mir ist wirklich ein Stein vom Herzen gefallen. Endlich ist diese Ungewissheit vorbei, und man weiß, woran man ist. Ich bin sehr zuversichtlich ... Und ich glaube, wenn wir uns all das Land und seine Bodenschätze bis zum Ural nehmen, dann wird Europa in der Lage sein, sich selbst zu ernähren, und der Krieg zur See (gegen Großbritannien; SZ) kann so lange dauern, wie er will."
Ein Unteroffizier der Fernmelder in der SS-Division "Das Reich" war sogar noch optimistischer: "Es ist meine feste Überzeugung, dass die Vernichtung Russlands nicht länger dauern wird als die Frankreichs, und dass meine Vermutung, im August auf Urlaub gehen zu können, immer noch richtig ist."
Diese größte Hybris in der Geschichte wurde nun bald der Deckmantel für das größte Verbrechen, das Menschen in der Geschichte jemals begehen sollten.
Nächste Folge am 30. Juli: Opfer und Kollaborateure - Die gespaltene Erinnerung in der Ukraine.