Trotzdem waren sie sich alle über den Aufmarsch der Wehrmacht entlang der Grenze im Klaren; sie hatten sogar einen Krisenplan aufgestellt, datiert vom 15. Mai, in dem sie einen Präventivschlag in die Diskussion brachten, um die deutschen Vorbereitungen zu stören.
Außerdem hatte Stalin allgemeinen Verstärkungen der militärischen Kräfte zugestimmt, 800 000 Reservisten wurden zu den Waffen gerufen und fast 30 Divisionen entlang der neuen Westgrenzen der Sowjetunion stationiert.
Ein paar revisionistische Historiker haben dies alles als Beweis für einen ernsthaften sowjetischen Plan zu interpretieren versucht, Deutschland anzugreifen - was dem Bemühen gleichkommt, Hitlers anschließende Invasion zu rechtfertigen. Aber die Rote Armee war im Sommer 1941 schlichtweg nicht in der Lage zu einer Großoffensive - und ohnehin war Hitlers Entscheidung zum Angriff bereits gefallen, und zwar beträchtlich früher.
SZ-Grafik; Quelle: dtv-Atlas
Auf der anderen Seite kann nicht ausgeschlossen werden, dass Stalin einen Präventivschlag für den Winter 1941 oder, mit größerer Wahrscheinlichkeit, für das Jahr 1942 in Erwägung gezogen haben mag, wenn die Rote Armee besser ausgebildet und ausgerüstet sein würde.
Alle früheren Kalkulationen Stalins waren durch die Kapitulation der französischen Armee im Juni 1940 über den Haufen geworden worden. Es ist ein interessanter Nebenaspekt, dass annähernd 80 Prozent der Kraftfahrzeuge einiger deutscher Divisionen in Wirklichkeit aus den Beständen der geschlagenen französischen Armee stammten, die durchaus stärker mechanisiert gewesen war als das deutsche Heer.
Das ist einer der Gründe, warum Stalin den Franzosen mit so großer Abneigung begegnete und sich später auf der Konferenz von Teheran 1943 dafür starkmachte, sie als Verräter und Kollaborateure zu behandeln.
Die Verteilung der Motorfahrzeuge auf die Wehrmachtsdivisionen war übrigens einer von mehreren Faktoren, die dazu führten, dass sich der Beginn der "Operation Barbarossa" verzögerte. Eine ältere Theorie hat zu belegen versucht, die deutsche Invasion in Griechenland im April 1941 habe diese Verschiebung erzwungen, aber das ist nicht wahr. Der Hauptgrund dafür ist gewesen, dass der Frühling 1941 ungewöhnlich verregnet ausfiel und die vorgeschobenen Flugfelder für die Luftwaffe vollständig überflutet waren.
Der Plan der Wehrmacht sah vor, bis zur sogenannten "AA Linie" vorzurücken, die von Archangelsk am nördlichen Meer bis Astrachan im Süden der Sowjetunion reichen würde. Das hätte die deutschen Armeen hinter Moskau und noch hinter die obere Wolga geführt.
Der "Hunger-Plan" begeisterte die Nazi-Führung
Alle sowjetischen Truppen, welche die großen Kesselschlachten im Frühstadium von "Barbarossa" vielleicht überlebt hätten, wären dann bloß Überbleibsel gewesen, gezwungen, sich bis in das Uralgebirge zurückzuziehen; mit ihnen würde sich dann die Luftwaffe befassen. In der Zwischenzeit sollte die deutsche Besiedlung und Kolonisation in den besetzten Gebieten Russlands und der Ukraine beginnen.
Der deutsche Hunger-Plan, entwickelt von Staatssekretär Herbert Backe, sah vor, die sowjetische Lebensmittelproduktion für den Bedarf der Wehrmacht zu beschlagnahmen und 30 Millionen Menschen einfach sterben zu lassen, vor allem in den eroberten Städten.
Hitler, Göring und Himmler nahmen Backes radikalen Plan mit Begeisterung auf - schien er doch eine dramatische Lösung von Deutschlands wachsendem Ernährungsproblem und zugleich eine Hauptwaffe in ihrem ideologischen Krieg gegen Slawentum und "jüdischen Bolschewismus" zu sein. Die Wehrmacht erklärte sich ebenfalls einverstanden. Konnte sie ihre drei Millionen Männer und 600 000 Pferde erst einmal aus dem Lande selbst ernähren, wären ihre - angesichts der großen Entfernungen und des unzureichenden Schienennetzes - erheblichen Nachschubprobleme wesentlich geringer.
Eindeutig sahen die Richtlinien vor, dass die sowjetischen Kriegsgefangenen systematisch verhungern würden. Dadurch wurde die Wehrmacht schon zum Teil des Vernichtungskrieges, bevor sie überhaupt die ersten Schüsse abfeuerte.