Zweiter Weltkrieg in der Sowjetunion:Hitler und Stalin - die Verblendeten

Einmarsch der Wehrmacht in der Sowjetunion

Die ersten Tage des "Unternehmens Barbarossa": Infanteristen der Wehrmacht, die Ende Juni 1941 schwere Gefechtsfahrzeuge in der litauischen Ortschaft Vilkija bergauf ziehen.

(Foto: Buss/dpa)

Adolf Hitler hielt die Sowjetunion für leichte Beute. Stalin war sich sicher, Hitler werde nicht angreifen. Warum beide Diktatoren 1941 so dramatisch irrten.

Von Antony Beevor

Antony Beevor, Jahrgang 1946, gehört zu den führenden Experten für den Zweiten Weltkrieg. Der Brite erhielt zahlreiche Preise für seine Bücher, darunter: "Stalingrad", "Berlin 1945. Das Ende" und zuletzt "Der Zweite Weltkrieg".

Als sich Hitler im Dezember 1940 zum Feldzug gegen die Sowjetunion entschied, ignorierte er sowohl Bismarcks alte Warnungen davor, in Russland einzumarschieren, als auch die längst erkannten Gefahren eines Zweifrontenkrieges.

Sein lang gehegtes Ziel, den "jüdischen Bolschewismus" zu zerschmettern, war rein aus dem Gefühl und der Ideologie heraus entstanden. Aber er rechtfertigte seine Idee den deutschen Generälen gegenüber als den sichersten Weg, Großbritannien zu zwingen, mit Deutschland zu einer Einigung zu kommen. Und sobald die Sowjetunion besiegt wäre, würde Japan in der Lage sein, Amerikas Aufmerksamkeit von Europa weg hin zum Pazifik zu lenken.

Strategisches Ziel der Nazi-Führung war es, sich das Öl und die Nahrungsmittel der Sowjetunion zu sichern. Hatten sie das erst einmal erreicht, glaubten sie, würde das Dritte Reich unbesiegbar werden. Hitler schwankte vergleichsweise häufig in seiner Haltung zu großen Vorhaben, seine Idee einer Invasion der Sowjetunion aber lässt sich bis zum Ende des Ersten Weltkriegs zurückverfolgen.

Sowjetische Verdächtigungen gegen Churchill

Die deutsche Besetzung der Ukraine im Jahre 1918 unter Generalfeldmarschall Hermann von Eichhorn hatte ihn stets fasziniert. Eine erneute Kontrolle über dieses Gebiet würde Deutschland autark machen, eine Wiederholung der britischen Blockade wie im Ersten Weltkrieg verhindern und damit die Hungersnöte, die damals die Folge gewesen waren.

Die gesamten ersten sechs Monate des Jahres 1941 hindurch verdächtigte Stalin den britischen Premierminister Winston Churchill, einen Krieg zwischen Deutschland und der Sowjetunion provozieren zu wollen, um so sein bedrängtes Land zu retten.

Der Diktator schlug alle britischen Warnungen über die deutsche Vorbereitung für eine Invasion der Sowjetunion in den Wind, für ihn waren sie nichts als "angliiskaya provokatsiya". Sogar detaillierte Informationen seiner eigenen Geheimdienste wies er wütend zurück, oft mit der Begründung, dass die Agenten im Ausland korrumpiert worden seien.

Joseph Stalin Winston Churchill Barbarossa 2. Weltkrieg Sowjetunion

Glaubte zwischenzeitlich, Churchill wollte sich mit Nazi-Deutschland gegen die UdSSR verbünden: Sowjetführer Stalin (li.) mit dem britischen Premierminister

(Foto: Getty Images)

Der bizarre Flug des selbsternannten diplomatischen Vermittlers Rudolf Heß, Hitlers Stellvertreters, nach Großbritannien am 10. Mai 1941 löste in Deutschland Fassungslosigkeit und in England Verlegenheit aus, in Moskau jedoch tiefes Misstrauen. Die britische Regierung ging mit der Angelegenheit ganz falsch um, als sie versuchte, Heß' Ankunft geheim zu halten.

Churchill hätte besser unverzüglich bekannt gegeben, dass Hitler versucht habe, ihm ein Friedensangebote zu unterbreiten, er dieses aber rundheraus abgelehnt habe. Stalin fragte sich nun, ob der Erz-Antibolschewist Churchill sich heimlich mit den Deutschen gegen ihn verschwören wolle. Er hegte den Verdacht, der britische Secret Intelligence Service habe Heß' Flugzeug ins Land geleitet.

Die erstaunlichste Warnung vor der Invasion kam vom deutschen Botschafter in Moskau, Friedrich Werner Graf von der Schulenburg, einem Nazi-Gegner, der später wegen seiner Rolle beim Attentat auf Hitler am 20. Juli 1944 exekutiert wurde. Als Stalin erfuhr, was von der Schulenburg gesagt hatte, geriet er außer sich, er glaubte kein Wort davon. "Nun hat die Desinformation schon die Botschafterebene erreicht!", schrie er.

Der Sowjetführer redete sich ein, dass die Deutschen mit ihrem Aufmarsch an seiner Westgrenze nichts anderes beabsichtigten, als Druck auf ihn auszuüben, um bei einer Neufassung des Molotow-Ribbentrop-Pakts mehr Zugeständnisse herauszuschlagen (in dem Pakt von 1939 und einem zugehörigen Geheimabkommen hatten das Deutsche Reich und die Sowjetunion faktisch Osteuropa unter sich aufgeteilt und ihre Interessensphären abgesteckt; SZ).

Russlandfeldzug , deutscher Landser vor brennendem Haus

Ein Krieg, wie es ihn noch nie gegeben hatte: Deutscher Soldat vor einem brennenden russischen Dorf, ca. 1941/1942.

(Foto: Keystone)

Für einen Menschen, der so paranoid war wie Stalin, ist die Selbstverleugnung außerordentlich, mit der er Hitlers Versicherung in einem Brief zu Beginn des Jahres akzeptierte, dass die deutschen Truppen sich nur deshalb nach Osten bewegten, um sich außer Reichweite britischer Bomber zu bringen.

Generalleutnant Filipp Golikow, der unerfahrene Direktor der GRU (Hauptverwaltung für Aufklärung), des russischen militärischen Nachrichtendienstes, war ebenfalls überzeugt: Hitler werde die Sowjetunion niemals angreifen, bevor er nicht Großbritannien niedergeworfen hatte.

Golikow weigerte sich, irgendeine der Erkenntnisse seiner Dienststelle über die deutschen Absichten an Georgii Schukow, den Chef des Generalstabes, oder an Marschall Semjon Timoschenko weiterzuleiten, der Kliment Woroschilow als Kommissar für Verteidigung ersetzt hatte.

Was Stalin gegen die Franzosen hatte

Trotzdem waren sie sich alle über den Aufmarsch der Wehrmacht entlang der Grenze im Klaren; sie hatten sogar einen Krisenplan aufgestellt, datiert vom 15. Mai, in dem sie einen Präventivschlag in die Diskussion brachten, um die deutschen Vorbereitungen zu stören.

Außerdem hatte Stalin allgemeinen Verstärkungen der militärischen Kräfte zugestimmt, 800 000 Reservisten wurden zu den Waffen gerufen und fast 30 Divisionen entlang der neuen Westgrenzen der Sowjetunion stationiert.

Ein paar revisionistische Historiker haben dies alles als Beweis für einen ernsthaften sowjetischen Plan zu interpretieren versucht, Deutschland anzugreifen - was dem Bemühen gleichkommt, Hitlers anschließende Invasion zu rechtfertigen. Aber die Rote Armee war im Sommer 1941 schlichtweg nicht in der Lage zu einer Großoffensive - und ohnehin war Hitlers Entscheidung zum Angriff bereits gefallen, und zwar beträchtlich früher.

Zweiter Weltkrieg in der Sowjetunion: SZ-Grafik; Quelle: dtv-Atlas

SZ-Grafik; Quelle: dtv-Atlas

Auf der anderen Seite kann nicht ausgeschlossen werden, dass Stalin einen Präventivschlag für den Winter 1941 oder, mit größerer Wahrscheinlichkeit, für das Jahr 1942 in Erwägung gezogen haben mag, wenn die Rote Armee besser ausgebildet und ausgerüstet sein würde.

Alle früheren Kalkulationen Stalins waren durch die Kapitulation der französischen Armee im Juni 1940 über den Haufen geworden worden. Es ist ein interessanter Nebenaspekt, dass annähernd 80 Prozent der Kraftfahrzeuge einiger deutscher Divisionen in Wirklichkeit aus den Beständen der geschlagenen französischen Armee stammten, die durchaus stärker mechanisiert gewesen war als das deutsche Heer.

Das ist einer der Gründe, warum Stalin den Franzosen mit so großer Abneigung begegnete und sich später auf der Konferenz von Teheran 1943 dafür starkmachte, sie als Verräter und Kollaborateure zu behandeln.

Die Verteilung der Motorfahrzeuge auf die Wehrmachtsdivisionen war übrigens einer von mehreren Faktoren, die dazu führten, dass sich der Beginn der "Operation Barbarossa" verzögerte. Eine ältere Theorie hat zu belegen versucht, die deutsche Invasion in Griechenland im April 1941 habe diese Verschiebung erzwungen, aber das ist nicht wahr. Der Hauptgrund dafür ist gewesen, dass der Frühling 1941 ungewöhnlich verregnet ausfiel und die vorgeschobenen Flugfelder für die Luftwaffe vollständig überflutet waren.

Der Plan der Wehrmacht sah vor, bis zur sogenannten "AA Linie" vorzurücken, die von Archangelsk am nördlichen Meer bis Astrachan im Süden der Sowjetunion reichen würde. Das hätte die deutschen Armeen hinter Moskau und noch hinter die obere Wolga geführt.

Der "Hunger-Plan" begeisterte die Nazi-Führung

Alle sowjetischen Truppen, welche die großen Kesselschlachten im Frühstadium von "Barbarossa" vielleicht überlebt hätten, wären dann bloß Überbleibsel gewesen, gezwungen, sich bis in das Uralgebirge zurückzuziehen; mit ihnen würde sich dann die Luftwaffe befassen. In der Zwischenzeit sollte die deutsche Besiedlung und Kolonisation in den besetzten Gebieten Russlands und der Ukraine beginnen.

Der deutsche Hunger-Plan, entwickelt von Staatssekretär Herbert Backe, sah vor, die sowjetische Lebensmittelproduktion für den Bedarf der Wehrmacht zu beschlagnahmen und 30 Millionen Menschen einfach sterben zu lassen, vor allem in den eroberten Städten.

Hitler, Göring und Himmler nahmen Backes radikalen Plan mit Begeisterung auf - schien er doch eine dramatische Lösung von Deutschlands wachsendem Ernährungsproblem und zugleich eine Hauptwaffe in ihrem ideologischen Krieg gegen Slawentum und "jüdischen Bolschewismus" zu sein. Die Wehrmacht erklärte sich ebenfalls einverstanden. Konnte sie ihre drei Millionen Männer und 600 000 Pferde erst einmal aus dem Lande selbst ernähren, wären ihre - angesichts der großen Entfernungen und des unzureichenden Schienennetzes - erheblichen Nachschubprobleme wesentlich geringer.

Eindeutig sahen die Richtlinien vor, dass die sowjetischen Kriegsgefangenen systematisch verhungern würden. Dadurch wurde die Wehrmacht schon zum Teil des Vernichtungskrieges, bevor sie überhaupt die ersten Schüsse abfeuerte.

Was Hitler verkannte und wie er sich verschätzte

Hitler verkannte freilich die wesentlichen Grundlagen von Logistik und militärischer Macht. Selbst mit ihren rumänischen, italienischen und ungarischen Verbündeten hatte die Wehrmacht nie genug Truppen für die Eroberung und Besetzung eines so großen Gebiets.

Offiziere der Abwehr, des Wehrmachts-Geheimdienstes, befürworteten einen Plan, der den Deutschen möglicherweise eine Chance verschafft hätte, 1941 zu siegen. Er sah vor, eine ukrainische Armee aufzustellen, eine Million Mann stark.

Eine solche Vorstellung aber war ein Gräuel für Hitler, der niemals akzeptieren würde, "slawische Untermenschen" zu bewaffnen und sie Uniformen der Wehrmacht tragen zu lassen. Aber wenn die Deutschen angesichts ihrer zahlenmäßigen Unterlegenheit und der enormen Weite des Raums überhaupt eine Möglichkeit zum Sieg haben wollten, dann mussten sie die militärische Invasion in einen innersowjetischen Bürgerkrieg verwandeln.

Doch es stand niemals zur Debatte, den Ukrainern eine eigene Regierung zu erlauben oder wenigstens den Anschein von Unabhängigkeit zu geben. Die meisten jener, welche die deutsche Invasion anfangs willkommen geheißen hatten, erkannten nur zu bald, was die deutsche Herrschaft wirklich bedeutete.

Zudem hatte Hitler eine Lektion aus dem japanischen Angriff auf China 1937 nicht begriffen. Auch dort attackierte eine gut ausgebildete und überlegene Streitmacht ein Land von enormer Ausdehnung. Auch sie erzielte große Anfangserfolge, aber shock and awe angesichts ihrer Grausamkeit provozierten wahrscheinlich mindestens so viel erbitterten Widerstand, wie sie Chaos und Panik erzeugten.

Hitler hat in seiner Geringschätzung des Bolschewismus diesen Effekt nie auch nur in Betracht gezogen. Den tief verwurzelten Patriotismus der meisten Russen, ihre Wut, ihre Entschlossenheit weiterzukämpfen, all dies unterschätzte er vollständig. Und keine dieser Eigenschaften hatte, wie Stalin stillschweigend erkannte, irgend etwas mit den Idealen des Kommunismus zu tun.

Und so blieb Hitler davon überzeugt, dass die Rote Armee und das ganze Sowjetsystem kollabieren würden. "Wir müssen nur die Tür auftreten, und das ganze verrottete Gebäude wird krachend zusammenbrechen", sagte er seinen Kommandeuren. Nachdenklichere Offiziere an den östlichen Grenzen hegten insgeheim Zweifel daran. Einige hatten General Armand de Caulaincourts Bericht über Napoleons Marsch auf Moskau 1812 und den entsetzlichen Rückzug gelesen.

Älteren Offizieren und Soldaten, die schon während des Ersten Weltkriegs in Russland gekämpft hatten, war ebenfalls nicht wohl bei der Sache. Und doch verhalf den meisten Deutschen die Serie triumphaler Eroberungszüge durch die Wehrmacht - in Polen, Skandinavien, den Beneluxstaaten, Frankreich und auf dem Balkan - zu dem beruhigenden Gefühl, dass ihre Streitkräfte unbesiegbar seien.

Offiziere erzählten ihren Männern, dass sie am "Vorabend eines der größten Feldzüge aller Zeiten" ständen. Und es standen fast drei Millionen deutsche Soldaten bereit, die bald von Armeen Finnlands, Rumäniens, Ungarns und zu guter Letzt Italiens unterstützt wurden, für den Kreuzzug gegen den Bolschewismus.

"Morgen ganz früh geht es los, Gott sei Dank!"

In Tannen- und Birkenwäldern, die den Fuhrpark, Hauptquartiere in Zelten und Fernmelderegimenter ebenso verbargen wie Kampfeinheiten, wiesen die Offiziere ihre Männer an. Viele versicherten ihnen, es werde nur drei oder vier Wochen dauern, die Rote Armee zu vernichten.

"Morgen ganz früh", schrieb ein Soldat einer Gebirgsjäger-Division, "geht es los, Gott sei Dank, gegen unseren Todfeind, den Bolschewismus. Mir ist wirklich ein Stein vom Herzen gefallen. Endlich ist diese Ungewissheit vorbei, und man weiß, woran man ist. Ich bin sehr zuversichtlich ... Und ich glaube, wenn wir uns all das Land und seine Bodenschätze bis zum Ural nehmen, dann wird Europa in der Lage sein, sich selbst zu ernähren, und der Krieg zur See (gegen Großbritannien; SZ) kann so lange dauern, wie er will."

Ein Unteroffizier der Fernmelder in der SS-Division "Das Reich" war sogar noch optimistischer: "Es ist meine feste Überzeugung, dass die Vernichtung Russlands nicht länger dauern wird als die Frankreichs, und dass meine Vermutung, im August auf Urlaub gehen zu können, immer noch richtig ist."

Diese größte Hybris in der Geschichte wurde nun bald der Deckmantel für das größte Verbrechen, das Menschen in der Geschichte jemals begehen sollten.

Nächste Folge am 30. Juli: Opfer und Kollaborateure - Die gespaltene Erinnerung in der Ukraine.

Zur SZ-Startseite
Zerstörung Dresdens am 13./14. Februar 1945

Sexuelle Gewalt bei Kriegsende 1945
:"Sie zogen die Frauen in den Wald, wir hörten die Schreie"

Zweiter Weltkrieg: Wie Zeitzeugin Helga Gebhardt als 14-Jährige den Einmarsch der Roten Armee in einem Berliner Vorort erlebte.

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: