Er beugt sich über ein mit einer durchsichtigen Schutzhülle versehenes Foto, um einen Ausschnitt davon abzufotografieren. Eine Art "lichter Nebel, eine verschwommene Helligkeit" entsteht durch die aus Vorsicht nicht entfernte Hülle auf seiner Ablichtung. Abgebildet ist ein kleiner Junge mit Ballonmütze, der mit einer Blechbüchse in der Hand und der Gestik eines Bettlers vor einer Ziegelmauer des Warschauer Ghettos steht und dem Fotografen scheinbar zulächelt. "Die Sterbenden blickten sich damals gegenseitig an", kommt es dem Archivbesucher beim Betrachten des Fotos in den Sinn, aber auch die Fragestellung"Ist sie (die Fotografie) nicht Berührung und Abstand zugleich?".
Georges Didi-Huberman ist Philosoph und Kunsthistoriker und lehrt an der École de Hautes Études en Sciences Sociales in Paris. Im Herbst 2018 reist er nach Warschau zu einem dreitägigen, intensiven Besuch des dortigen Jüdischen Historischen Instituts, das das umfängliche Konvolut des Emanuel-Ringelblum-Archivs aufbewahrt. Auslöser waren der Hinweis eines Teilnehmers seiner Seminare, der ihn auf einen kleinen Bestand an Fotografien, die er zum Leitfaden seines Buches wählt, aufmerksam machte, sowie vorher entdeckte Dokumente über Familienangehörige, die im Ghetto lebten und in Auschwitz-Birkenau ermordet wurden.
35 000 Blatt Papier vergraben
Dawid Graber, 19-jähriger Schüler, war Mitglied des unter dem Decknamen "Oyneg Shabes" (jiddisch; hebräisch: Oneg Schabbat = die Freude des Sabbat) von Emanuel Ringelblum und Gefährten gegründeten Untergrundarchivs des Warschauer Ghettos. Am 3. August 1942 vergrub er zusammen mit seinem Lehrer Israel Lichtensztajn und einem Mitschüler den ersten Teil der Archivmaterialien in einem Keller des Ghettos. 35 369 Blatt wurden nach dem Krieg in ihren Verstecken wiedergefunden, dieser "Leidschatz", verpackt in Blechkisten und zwei große Milchkannen. Manuskripte, gedruckte Texte, Statistiken, Essays, Gedichte, Zeichnungen, Zettel, auf dem Weg nach Treblinka eiligst aus den Viehwaggons geworfen, Postkarten, Bonbonpapier, Briefe. Jiddisch, Hebräisch, Polnisch, Deutsch waren die meisten Sprachen. Alles wurde gesammelt. Manches unleserlich, kaum zu entziffern, bruchstückhaft. Seit 1999 ist das Ringelblum-Archiv Bestandteil des Programms "Memory of the World" der Unesco.
Am 14. November 1941 notiert Emanuel Ringelblum in seinem Tagebuch: "Nichts ist schrecklicher als der Anblick erfrierender kleiner Kinder, Kinder mit nackten Füßen, mit bloßen Knien, in zerlumpter Kleidung, die auf der Straße stehen und stumm weinen." Im Ghetto erhielten Kinder in geheimen Schulen Unterricht. Doch wie war es möglich, ihnen angesichts des jederzeit drohenden Todes etwas für eine Zukunft mitzugeben, die sie kaum erleben konnten, ihnen inmitten des täglichen Leids Freude an Büchern, Theaterstücken und Tänzen zu vermitteln? Was für ein Kampf gegen Verzweiflung, was für ein Klammern an letzte Hoffnung.
Aus Abschiedsbriefen, letzten Papieren: "Wir wissen, daß unsere Tage gezählt sind", ein Blatt aus dem Zug mit Ziel Auschwitz geworfen: "Wir fahren wir wissen nicht wohin. Bleib wohlauf. Seid guter Hoffnung!" Oder "Wären wir doch nie geboren", "Der Tod schwebt uns vor Augen."
Die Lektüre wird zur "Berührung"
Zerstreut, Abertausende zerstobene Papiere, Testamente, Abschiedsbriefe, Fotos, über das alles erzählt Georges Didi-Huberman auf eine Art und Weise, die die Begegnung mit den verfolgten, gequälten, von Hunger und Tod bedrohten Menschen des Ghettos zur tatsächlichen "Berührung" werden lässt. Es sind der Schmerz, das Weinen, die jüdische Klage (qinah), das Leid, Emotionen, auf die der Autor seinen Blick richtet. Das gelingt auf besonders eindrucksvolle Weise durch Verknüpfungen zum Denken von Aby Warburg, Walter Benjamin, Gershom Scholem und Martin Buber. So werden philosophische, kulturwissenschaftliche und theologische Akzente gesetzt, deren Anführung die Rezeption der Fotos, der Dokumente und des Tagebuchs von Emanuel Ringelblum in einen größeren und verständniserweiternden Zusammenhang bringen.
Didi-Huberman lässt keinen wirklichen Abstand zu, das ist die Kraft, die von seiner jetzt auf Deutsch vorliegenden "Berührung" mit dem Ringelblum-Archiv ausgeht. Und mit der gegenwärtigen polnischen Regierung geht er wegen ihres Umgangs mit der Geschichte unmissverständlich ins Gericht. Am Ende seines schmalen, brillant geschriebenen Bandes schreibt er : "Doch was sollen wir heute tun mit diesen fast ausgebleichten Papierfetzen, diesen verstreuten Worten? Sie aufbewahren, nicht als unwandelbare Schätze, sondern als Samenkörner für die Gegenwart, für die Zukunft".
Jens-Jürgen Ventzki ("Seine Schatten, meine Bilder. Eine Spurensuche") wurde 1944 als Sohn des NS-Oberbürgermeisters Werner Ventzki, dem die deutsche Verwaltung des Ghettos als städtische Behörde unterstand, in Litzmannstadt geboren.