Zweiter Weltkrieg:Es hat gefunkt

Der Einmarsch in Polen beginnt mit großen Worten. Zu groß für Zehnjährige. Zu groß auch für Herrn Kugler, der am Volksempfänger genau zuhört.

Oliver Storz

"Wer so schreit, der kann net recht han." Diesen Satz sprach der alte Kugler (für mich damals natürlich der Herr Kugler) am 1. September 1939 im Hinterhof unseres großen, aber hässlichen Mietshauses in der kleinen aber schönen Stauferstadt Schwäbisch Hall.

Zweiter Weltkrieg: Ab 1933 versuchten die Nationalsozialisten mit niedrigen Preisen, möglichst viele  Volksempfänger in deutsche Wohnzimmer zu bringen. Der Werbespruch lautete: "Ganz Deutschland hört den Führer."

Ab 1933 versuchten die Nationalsozialisten mit niedrigen Preisen, möglichst viele Volksempfänger in deutsche Wohnzimmer zu bringen. Der Werbespruch lautete: "Ganz Deutschland hört den Führer."

(Foto: Foto: dpa)

Ohne diesen Satz des Herrn Kugler kann für mich der Zweite Weltkrieg nicht anfangen, wie überhaupt der Herr Kugler bis heute mit einer Hartnäckigkeit in meinem Gedächtnis herumhockt, die in keinem Verhältnis zur Spärlichkeit seiner Erscheinung steht.

Inmitten der Spätsommerkulisse aus purpurn erigierten Gladiolen und rosa glimmendem Phlox sitzt er als puritanische Farbverweigerung auf einem Küchenstuhl, den ihm die Wirtstochter Elsgund aus der Kneipe im Parterre herausgestellt hat in den Hof, das Bierglas vor sich auf einer hochkant stehenden Obstkiste: gelichtetes graues Stoppelhaar, grauer Schnauz, der längst erloschene Zehnerstumpen an der hängenden Unterlippe festgeklebt, ein gräulich verschossener ehemals brauner Anzug, (der "gute", weil der erste Freitag im Monat ist und Rentnerfrühschoppen im "Schwanen"): der ganze Mann wie ausgespart in der Nachglut des Sommers, visuell kaum vorhanden, aber bitteschön, er hat diesen Satz gesagt. Und immerhin: Gemeint war Adolf Hitler.

Die berühmte Stimme kam mit den Geruchsfahnen der entstehenden Mittagsmahlzeiten aus den Küchenfenstern sämtlicher Stockwerke wie auch aus den Parterrefenstern des "Schwanen", die zum Hof gingen. Die Stimme kam von überall her, für mich Zehnjährigen der früheste Eindruck von Stereophonie, besser Quadrophonie, ach was: Multiphonie, und ich lag mit "Winnetou", Band I (die dunkelgrüne Radebeuler Ganzleinenausgabe mit dem farbigen Bild des Apatschenhäuptlings vorne drauf) auf dem ovalen Rasenstück des Hofs, dessen Klang- und Geruchsstaubecken an diesem Vormittag fast überlief von Führerstimme plus Kabeljaudunst (die Haller waren damals fromme Leute und aßen freitags geschlossen Fisch), während der Herr Kugler zehn Meter schräg hinter mir im Schatten des Waschküchenvordachs saß, woraus hervorgeht, dass er seinen monumentalen Satz ziemlich laut gesagt haben muss, sonst hätte ich ihn gar nicht hören können.

Ich weiß nicht mehr, ob ich damals verstanden habe, was die Führerstimme schrie, vermutlich habe ich nichts kapiert, schließlich war ich an der Seite Old Shatterhands in die Kämpfe mit den Kiowas verwickelt. Ich weiß auch nicht mehr, ob die Stimme anhaltend geschrien hat, oder ob sie phasenweise in ein verhalten drohendes Piano fiel. Im Ohr habe ich nur noch das heisere, sich überschlagende Bellen, das den Herrn Kugler zu seiner subversiven Bemerkung veranlasste. Damals fand ich sie, glaube ich, nur überflüssig, vielleicht ungehörig, aber vergessen habe ich sie nie.

Heute frage ich mich, ob dem Mann klar war, was er da sagte - ich meine, da spricht der Führer und Reichskanzler im Reichstag und verkündet, dass seit 5.45 Uhr ein Krieg stattfinde, den er nicht gewollt habe, auch wenn er ihn nun mit erbarmungloser Härte zu führen gedenke, und Millionen sitzen an den Radios ("Volksempfängern") und lauschen der Stimme, der sie verfallen sind, aber einem Herrn Kugler, ehemals städtischer Arbeiter, danach auf privater Basis im Schrotthandel tätig, diesem Herrn Kugler kommt in einem Haller Hinterhof bei, dass sich der hohe Sprecher schon in der Art seines Sprechens als Lügner verrate - was ist das? Erleuchtung? Zungenreden? Hat in diesem Augenblick aus Herrn Kugler nicht Herr Kugler gesprochen, sondern der Geist respektive die guten Geister, die das Volk verlassen haben, das wahre, das andere "gesunde Volksempfinden"?

Bitte, man mag das für mystisch-spinnös halten, aber mir wäre wohl, dürfte ich in manchen Figuren meiner Kindheit Geheimnisträger erblicken, Boten von anderswoher, zwar ansässig im Kleinbürgermilieu der südlichen Haller Vorstadt, aber doch von insgeheim mythischer Herkunft: Sie waren, was sie waren, aber sie waren gleichzeitig mehr. Sie kündeten von etwas, das ich nur ahnen konnte, und mehr als Ahnungen habe ich auch heute nicht.

Zum Beispiel die Elsgund, Schankkellnerin und Wirtstochter im "Schwanen", damals ein Mädel um 20 mit einer sozusagen weitläufigen Figur - an jenem ersten Kriegsmorgen im September gab es lauten Streit zwischen ihr und ihrem Vater, der ihr das Akkordeonüben verbieten wollte, weil seit neun Uhr im Radio die Durchsagen kamen: "Achtung, Achtung, hier ist der Großdeutsche Rundfunk, in Bälde spricht der Führer!"

Unter diesen bedeutenden Umständen schicke es sich nicht, in der Gaststube anzügliche Weisen wie "Was machst du mit dem Knie, lieber Hans?" oder "Man kann das Fräulein Helen baden sehn" erklingen zu lassen, meinte der Vater, nicht einmal dann gehöre sich das, wenn noch gar kein Gast da sei.

Vorgeschichte der denkwürdigen Vorstellung

Die Elsgund hat schließlich unter Protest auf dem Damenklo geübt, aber dessen Fenster zum Hof geöffnet, so dass die frivolen Klänge sich seltsam mischten mit der Marschmusik und den HJ-Chören, (etwa "Deutschland, Vaterland, in Gefahren"), die der Großdeutsche Rundfunk zur Einstimmung auf die Führerrede in den Hof schickte. Bitte, das ist trivial und kaum der Erwähnung wert, und doch - jaja, die Erinnerung verklärt - und doch klingt das heute zu mir her als winziges sakrilegisches Signal der Lebenslust inmitten des todeskultischen Pomps der Stunde.

Die Todesnähe ist dann für meinen Jahrgang ein paar Jahre später ganz ohne Weiheklänge gekommen, schrecklich banal, hosennässend, stinkend nach Eiter und Verwesung. Aber es war auch immer wieder eine Elsgund da, zwar ohne Akkordeon, aber mit dem Signal: "Bleibt übrig, es lohnt sich, trotz allem!"

Was den Herrn Kugler betrifft, so muss doch noch die Vorgeschichte seiner denkwürdigen Vorstellung im Hof notiert sein. Er hatte sich vermutlich im "Schwanen" nur eingefunden, um am Frühschoppen seines Rentnerfreundes-kreises teilzunehmen, aber unter dem Ankündigungsdruck "Der Führer spricht" dürfte sich die Runde rasch erweitert haben durch Publikum von der Straße, sodass die Sache Veranstaltungscharakter annahm, und die Gaststube zum geweihten Ort eines "Gemeinschaftsempfangs" erhoben wurde.

Und da muss mein Herr Kugler unbegreiflicherweise von einem plötzlichen Bedürfnis nach Sonne und Frischluft ergriffen worden sein und bringt es fertig und lässt sich von der Elsgund einen Stuhl hinausstellen in den Hof! Den Heutigen wird kaum mehr klarzumachen sein, welcher Löwenmut dazu gehört hat oder welch bodenlose Naivität: "Der Führer spricht!", aber dem Herrn Kugler gefällt es besser im Hof - eine einzige Anzeige bei der Kreisleitung genügt, und der Mann hat seine liebe Müh' und Not, um glaubhaft zu machen, dass er bloß dumm war, aber bar jeder ostentativen Absicht.

Natürlich sind das Überlegungen a posteriori, von denen das Knäblein von damals meilenweit entfernt war, aber begriffen habe ich auch heute noch nicht, was im Kopf dieses Ernst Kugler in jener weltgeschichtlichen Stunde vorgegangen ist. Auch gehört es zu ihm, dass ich später, in den sechziger Jahren wohl, niemanden mehr fand, der mir Auskunft hätte geben können, was aus ihm wurde, und vorher hat es mich nicht interessiert.

"Bis Weihnachten in Moskau"

Zuletzt sah ich ihn, wenn ich mich recht erinnere, an einem früh dunkelnden Nachmittag im Herbst nach dem gloriosen Einmarsch der deutschen Wehrmacht in Russland. Da war ich immerhin schon zwölf und durfte dem Vater Dünnbier holen im "Schwanen". Die Rentner saßen am Stammtisch beim Lagegespräch, und der Dinkel-Schorsch, Fahrzeugwart der örtlichen NS-Kraftsportgruppe, sagte unter Anstrengung fröhlich: "Bis Weihnachte simmer in Moskau!" Und der Herr Kugler, etwas exzentrisch platziert, schaute den Fliegen zu und sagte: "Wenn aber's Benzin net langt?"

Storz, jung, SchirmerGraf

Der Autor Oliver Storz im Alter von 17 Jahren. Vergangenes Jahr erschien sein Erinnerungsbuch "Die Freizeitclique" im SchirmerGraf Verlag.

(Foto: Foto: SchirmerGraf Verlag)

Und dies immer wieder, über die ganze halbe Stunde hin, die ich mich in der Wirtschaft herumdrückte. Sobald ein Satz fiel, der sich nach Vormarsch anhörte: "Wenn aber's Benzin net langt?" Ein "Miesmacher"! Dachte ich damals noch so? Ich weiß es nicht mehr. Überhaupt weiß ich kaum mehr etwas von dem, was ich in den ersten Kriegsjahren dachte. Ich weiß von Herrn Kuglers Meinungen im Krieg mehr als von den meinen.

Wie der Joseph in der Kinderbibel

Am meisten weiß ich jedoch von seinem Gesicht, oder vielleicht auch nur von seinem Blick, der mir von früher Kindheit an bekannt war. Er machte Augen wie der Joseph auf einem Krippenbild in meiner Kinderbibel: Unschuldig in jedem Betracht, fast unmerklich gekränkt darüber, so im Hintergrund herumstehen zu müssen, etwas erstaunt ob all des Aufhebens, aber letztlich doch versöhnt mit seinem niederen Rang, so als erhelle ihn gerade die Einsicht, dass es in Zeiten des Heilsgeschehens wie der Heimsuchung von Vorteil sein könne, der Unwichtigste zu sein.

Nun hat ja der Joseph aus Galiläa durchaus noch seine Heldenbewährung erleben dürfen - siehe die Flucht nach Ägypten, die ohne ihn schwerlich gelungen wäre. Doch auch Herr Kugler muss nicht ganz ohne Nachruhm unseren Blicken entschwinden, denn er hat sich ebenfalls bewährt, wenn nur ameisenhaft und außerhalb jeden Vergleichs mit dem Jesusretter, doch immerhin als Erdenmenschlein, das Ohren hatte zu hören - am ersten Tag des sechsjährigen Krieges, der für ihn und mich in einem Hinterhof begann.

Wie schon erwähnt: Die Erinnerung verklärt. Lügt sie auch bisweilen? Das wollen wir nicht hoffen, jedenfalls in einem Punkt bin ich sicher: Wenn jetzt da und dort zu lesen steht, die Deutschen hätten den Kriegsbeginn bejubelt, darf ich sagen: zumindest die Haller nicht, es sei denn, sie hätten es sehr leise getan - aber wer jubelt schon flüsternd? Mürrische Hausfrauengesichter habe ich gesehen: nebenan im Milchladen, wo's keine Vollmilch mehr gab, sondern nur noch "entrahmte Frischmilch", die man aber nicht "Magermilch" nennen durfte, beim Schlangestehen vor dem Stoffgeschäft Singer, wo der schwarze, zur Verdunkelung benötigte Rupfen knapp wurde - "Für waas denn au?" höre ich noch eine Bauersfrau rufen, "Mir gehn en's Bett, wenn's Nacht werd!"

Die Schule fing nach den Ferien "bis auf weiteres" nicht an, sodass wenigstens die Schuljugend jubelte. Der Spätsommer trödelte, das Badewetter hielt sich, hingegen überschlugen sich die Siege in Polen - der Großdeutsche Rundfunk kam mit den Sondermeldungen kaum nach. In meinem Herzen starb Winnetou, hätte ein deutscher Junge weinen dürfen, hätte ich geflennt.

Und dann, einmal gegen Abend - ich lungere am Bahnhof - ein Zug fährt ein und eine Frau steigt aus, sehr jung, sehr hübsch, sehr elegant im schwarzen Kostüm, und elegant sind auch die blassen Astern, die ein Fliegeroffizier ihr am Bahnsteig überreicht, geschickt vom Kommandeur des Kriegsflughafens ganz in unserer Nähe. Er kondoliert, das sieht man, wozu, das sieht man nicht. Aber das Gesicht der jungen Frau, weiß über den Asterfarben, plötzlich von einem Tränenüberfall zerrissen, das ist zu sehen und nicht mehr zu vergessen, und da habe ich geahnt, wohl zum ersten Mal, was alles anfängt, wenn der Krieg beginnt.

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