Zweiter Weltkrieg:Die Rettung des Knaben Wladimir

Zweiter Weltkrieg: Das Glück, am Leben geblieben zu sein: Die wiedervereinte Familie Schazkij in Zlatoust im Ural 1946, Wowotschka (links), das Ehepaar Nison Schazki und Jacha Schazkaja sowie der Bruder Michail (rechts).

Das Glück, am Leben geblieben zu sein: Die wiedervereinte Familie Schazkij in Zlatoust im Ural 1946, Wowotschka (links), das Ehepaar Nison Schazki und Jacha Schazkaja sowie der Bruder Michail (rechts).

(Foto: Archiv Lebendige Erinnerung)

Wie ein jüdischer Junge den Vernichtungswahn der Nazis in Minsk überlebte - und nach dem Krieg seine Familie wiederfand.

Von Jürgen Zarusky

Am 22. Juni 1941 brach der Krieg über die Menschen in der Sowjetunion herein - unvermittelt und ohne Vorwarnung. Stalin hatte alle Informationen über den bevorstehenden Angriff seines Pakt-Partners Hitler als Provokation in den Wind geschlagen.

Eine Drei-Millionen-Armee marschierte auf breiter Front vor, im Rücken die SS-Einsatzgruppen, die innerhalb weniger Monate zahlreiche sowjetische Funktionäre und eine halbe Million Juden ermordeten, und über sich die Luftwaffe, die half, den Weg zu bahnen.

Die weißrussische Hauptstadt Minsk mit ihren 240 000 Einwohnern, davon fast ein Drittel Juden, wurde am 24. Juni Ziel massiver Bombardements. Von neun Uhr morgens bis neun Uhr abends attackierten die Flieger ununterbrochen und richteten schreckliche Verheerungen an. Die Stadt stand in Flammen. Viele Einwohner flüchteten in die Wälder der Umgebung.

Zu ihnen gehörten der Schulleiter Nisson Schazkij und seine Frau Jacha, Bibliothekarin von Beruf, zusammen mit ihren beiden älteren elf und 15 Jahre alten Söhnen. Der kleinste der Familie, Wladimir, zärtlich Wowotschka gerufen und gerade erst zwei Jahre alt, befand sich jedoch in einer Kinderkrippe in der Nähe von Minsk.

Die Mutter wollte ihn nicht zurücklassen, doch an eine Rückkehr in die Stadt war nicht zu denken, weil die Luftangriffe noch tagelang weitergingen. Mit der Beteuerung, die Kinderkrippe werde evakuiert werden, wurde sie schließlich zur Flucht nach Osten überredet, die im Ural endete.

Aber Wladimir blieb in Minsk. Die deutschen Truppen rückten zu schnell vor, und bei der Evakuierung galten andere Prioritäten: In erster Linie ging es um kriegswichtige Güter und Menschen, vor allem Industriebetriebe und ihre Belegschaften.

Halskettchen mit Kreuzen sollten schützen

Schon am 28. Juni wurde Minsk eingenommen. Damit gerieten fast 70 000 Minsker Juden unter NS-Herrschaft. Im Juli wurden sie ghettoisiert, ein Jahr später waren bereits 50 000 erschossen, in Gaswagen ermordet worden oder an den schrecklichen Lebensbedingungen zugrunde gegangen.

Am 21. Oktober 1943 wurden die letzten 2000 Juden des Ghettos von Minsk ermordet. Überlebenschancen hatten am ehesten noch jene etwa 10 000, denen die Flucht in die Wälder und zu den Partisanen gelang. Für einen zweieinhalbjährigen Jungen stand dieser Weg natürlich nicht offen. Doch Solidarität und Widerstandsbereitschaft fanden zuweilen auch andere Wege.

Wladimir Schazkij war von Bella Rubintschik, einer Schwester seiner Mutter, aus der Kinderkrippe abgeholt worden und kam mit ihr ins Ghetto. Es gelang der Tante jedoch, ihn mittels einer Helferin herauszuschmuggeln, die ihn im Kinderheim Nr. 3 in Kosyrewo, ein wenig außerhalb von Minsk, unterbrachte, wo auch andere jüdische Kinder Zuflucht fanden. Das war besser als das Ghetto, aber auch kein sicherer Ort.

1941/42 - Die SZ-Serie

Es herrschte Hunger, und das Heim wurde regelmäßig vom deutschen Sicherheitsdienst inspiziert, dem die Heimleiterin etwa 40 jüdische Kinder auslieferte. Doch einige Kinderpflegerinnen widerstanden. Anna Welitschko, eine junge Frau, die selbst zwei Kinder hatte und deren Mann zur Roten Armee eingezogen war, bemühte sich sehr um die Rettung.

Den gefährdeten Zöglingen wurde eingeschärft, was sie sagen durften und was nicht. Sie mussten ihre neuen Namen verinnerlichen. Schazkij hieß nun Kudelko. Da die kärglichen Ernährungsrationen von einer nicht-jüdischen Geburtsurkunde abhingen, erteilte ein eingeweihter Priester die Taufe und stellte die nötigen Dokumente aus. Auch Halskettchen mit Kreuzen sollten schützen.

Blond und nicht beschnitten - das half, um zu überleben

Bei den oft nächtlichen Heimsuchungen durch den SD wurden die jüdischen Kinder entweder versteckt oder als Russen oder Weißrussen ausgegeben. Der kleine Wladimir Schazkij war blond und nicht beschnitten. Das half. Die Pflegerinnen riskierten ihr Leben, auf das Verstecken von Juden stand die Todesstrafe. Für ihren mutigen Rettungswiderstand wurde Anna Welitschko im Jahr 1997 von Yad Vashem als "Gerechte der Völker" geehrt.

Jacha Schazkij lebte drei Jahre lang in Ungewissheit. Nachdem Minsk Anfang Juli 1944 von der Besatzung befreit worden war, fuhr sie hin, um nach ihrem Wowotschka zu suchen. Was ihr im November 1944 dort widerfuhr, beschrieb sie in einem Brief an ihre Cousine Nina, die im Ural geblieben war.

Die Kenntnis dieses Briefes verdanken wir dem Archiv Lebendige Erinnerung. Diese im Rahmen der Münchner Israelitischen Kultusgemeinde von Andrej und Rimma Semjonow gegründete Initiative hat Erinnerungszeugnisse älterer russischsprachiger Münchner Juden gesammelt. Zu ihnen gehörte auch Wladimir Schazkij, der 1997 nach Deutschland auswanderte.

Er starb 2013 im Alter von 74 Jahren in der bayerischen Landeshauptstadt. Nach Minsk, das für sie ein Ort des Schreckens geworden war, war seine Familie nie mehr zurückgekehrt. "Der bittere Verlust der Verwandten tat weh. Meine Mutter konnte ihn nicht verkraften, sie wurde krank und starb bald danach", schrieb Schazkij in einem Erinnerungsbericht.

20. Januar 1945

Liebe Ninotschka!

Heute habe ich Deinen Brief erhalten. Vielen Dank, meine Liebe, für Deine schnelle Antwort, denn Dein Brief ist mir teuer: In Deinem Brief sehe ich alle meine lieben Verwandten, denn mir ist ja niemand mehr geblieben, außer Ihr vier.

Ninotschka, Du fragst mich, wie mein Wiedersehen mit Wowotschka gewesen ist. Glaube mir, Ninotschka, diese Begegnung war unbeschreiblich. Aber ich schreibe Dir trotzdem, wie ich ihn gefunden habe. Als ich nach einer schwierigen, 22-tägigen Reise in Minsk angekommen war, ging ich in unsere alte Wohnung. Aber dort wohnen jetzt Fremde und für mich gab es nicht einmal einen Platz, um mich hinzusetzen.

Ich bat um Erlaubnis, den Koffer dort lassen zu dürfen. Ohne Rast, ohne mich eine Sekunde niederzulassen, machte ich mich auf in die Kinderkrippe, wo ich Wowotschka gelassen hatte. In der Kinderkrippe fand ich die Leiterin, die dort schon vor dem Krieg gearbeitet und Wowotschka betreut hatte. Diese erste Begegnung war schrecklich. Ich schrie mit meinen letzten Kräften: "Wo ist Wowotschka?" Die Antwort war kurz: "Ihre Schwester hat ihn mitgenommen." Die Schwester, Bella Abramowna Rubintschik, sei ums Leben gekommen und daher glaube sie, dass auch Wowotschka tot sei.

Schreie, Stöhnen, Weinen, alles aufs Neue

Du kannst Dir meinen Zustand vorstellen ... Nach all dem, als sie mich wieder zu Bewusstsein gebracht hatten, fühlte ich eine solche Schwäche. Ich bat um ein Stückchen Brot, um zu Kräften zu kommen, um es irgendwie in die Wohnung zu schaffen, wo Bella gelebt hatte und um wenigstens zu erfahren, wann und wie sie umgekommen sind. Tatsächlich gaben sie mir etwas zu essen, und ich fasste Mut und ging.

Ninotschka, wie soll ich Dir mein Erscheinen an der Schwelle der Wohnung schildern, wo mein geliebtes Schwesterchen und ihre Kinder ihre letzten Tage durchlebt hatten? Wieder dieselbe Geschichte ... ein Schrei, Ohnmacht. Die Hausfrau dort ist eine sehr sympathische Frau.

Sie hatte mich an meiner Ähnlichkeit mit Bella erkannt, umarmt, geküsst, geschrien und an mehr erinnere ich mich nicht. Aber dann, als ich wieder zu mir gekommen war, eröffnete sie mir: "Ihr Wowotschka ist im Kinderheim. Bella Abramowna hat ihn einer Frau übergeben und diese Frau brachte ihn unter anderem Familiennamen in einem Kinderheim unter. Wowotschka lebt."

Und dann begann sie zu erzählen über alle Qualen, die Mutter und Bellotschka zu erlitten hatten. Du kannst Dir meinen Zustand und meine Stimmung vorstellen, Ninotschka. Ich fühlte mich zu schwach, um zu den Kinderheimen zu gehen und Wowotschka zu suchen.

Ich ging zum Auskunftsbüro und machte Sara und die anderen ausfindig. Schreie, Stöhnen, Weinen, alles aufs Neue, aber hier legte ich mich doch ein bisschen hin. Ich spürte alle Schmerzen, konnte weder Hand noch Fuß rühren, aber hier fühlte ich mich wie zu Hause und gab meinen Gefühlen nach.

Am nächsten Tag ging ich zum Erziehungsministerium, erhielt die Adressen aller Kinderheime und machte mich auf die Suche. In Minsk gibt es sechs Kinderheime und ich konnte unmöglich an einem Tag sämtliche Kinderheime abklappern. Nach eintägigem Umherwandern kehrte ich ohne Ergebnis zu Sara zurück, fiel entkräftet um und wartete auf den dritten Tag.

"Er ist zu einem völlig anderen Kind geworden"

Acht Kilometer von Minsk entfernt befindet sich das Kinderheim Kosyrewo. Als ich dort ankam und man mir meinen Wowotschka zeigte, war ich plötzlich sehr ruhig, ich schrie nicht, weil er mich mit seinem Gedächtnis verblüffte, denn als ich ihn fragte, "Wowotschka, erinnerst Du Dich an mich?", war seine Antwort: "Ja, ich erinnere mich, meine Mama!!!"

Und den Kindern rief er zu: "Kinder, auch ich habe meine Mama gefunden!" "Und auch an Mischa", sagte er, "erinnere ich mich noch." Alle rundherum weinten, schluchzten, aber ich umarmte ihn ruhig, küsste ihn, betrachtete seinen kleinen Körper, alle Eigenheiten, die sich in mein Gedächtnis eingraviert hatten. Er war am ganzen Leib mit Blasen übersät, das Gesichtchen war angeschwollen, der Bauch aufgebläht.

Der Arme begann zu klagen: "Mama, ich bin aus dem Bett gefallen. Mama, mir tut alles weh, ich hatte Nasenbluten. Mama, hattest Du denn nicht einen freien Tag, warum bist Du nicht gekommen? Wo ist Mischa?" Das alles hat mich dermaßen verblüfft, dass ich gar nicht richtig reagieren konnte.

Ich begann ihn zu fragen, an wen er sich noch erinnere. Er sagte, dass er sich an Genik, Nelli und an Tante Bella erinnere, und dass die Großmutter gestorben sei. Bellotschka haben die Deutschen ermordet. Er weiß das alles und spricht sehr viel von ihr. Nun, damit habe ich Dir etwas über unser Wiedersehen geschrieben. Jetzt ist er schon fast zwei Monate bei mir.

Er hat sich so gut gemacht, ist zu einem völlig anderen Kind geworden, ein prächtiger Junge - gescheit und hübsch. Ich kann mich gar nicht genug an ihm freuen, und er, der Arme, kann sein Glück gar nicht fassen.

Ninotschka, glaube nicht, dass dieses Glück mein Unglück gemildert hat, glaube nicht, dass ich so schnell meinen Gram vergesse darüber, dass von sechs Schwestern ich Unglückliche als Einzige übrig geblieben bin. So etwas kann man nie vergessen und es wird nie aus der Erinnerung verschwinden. (...)

Deine Jacha.

(Übersetzung aus dem Russischen: Robert Lenhard)

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