Am 22. Juni 1941 brach der Krieg über die Menschen in der Sowjetunion herein - unvermittelt und ohne Vorwarnung. Stalin hatte alle Informationen über den bevorstehenden Angriff seines Pakt-Partners Hitler als Provokation in den Wind geschlagen.
Eine Drei-Millionen-Armee marschierte auf breiter Front vor, im Rücken die SS-Einsatzgruppen, die innerhalb weniger Monate zahlreiche sowjetische Funktionäre und eine halbe Million Juden ermordeten, und über sich die Luftwaffe, die half, den Weg zu bahnen.
Die weißrussische Hauptstadt Minsk mit ihren 240 000 Einwohnern, davon fast ein Drittel Juden, wurde am 24. Juni Ziel massiver Bombardements. Von neun Uhr morgens bis neun Uhr abends attackierten die Flieger ununterbrochen und richteten schreckliche Verheerungen an. Die Stadt stand in Flammen. Viele Einwohner flüchteten in die Wälder der Umgebung.
Zu ihnen gehörten der Schulleiter Nisson Schazkij und seine Frau Jacha, Bibliothekarin von Beruf, zusammen mit ihren beiden älteren elf und 15 Jahre alten Söhnen. Der kleinste der Familie, Wladimir, zärtlich Wowotschka gerufen und gerade erst zwei Jahre alt, befand sich jedoch in einer Kinderkrippe in der Nähe von Minsk.
Die Mutter wollte ihn nicht zurücklassen, doch an eine Rückkehr in die Stadt war nicht zu denken, weil die Luftangriffe noch tagelang weitergingen. Mit der Beteuerung, die Kinderkrippe werde evakuiert werden, wurde sie schließlich zur Flucht nach Osten überredet, die im Ural endete.
Aber Wladimir blieb in Minsk. Die deutschen Truppen rückten zu schnell vor, und bei der Evakuierung galten andere Prioritäten: In erster Linie ging es um kriegswichtige Güter und Menschen, vor allem Industriebetriebe und ihre Belegschaften.
Halskettchen mit Kreuzen sollten schützen
Schon am 28. Juni wurde Minsk eingenommen. Damit gerieten fast 70 000 Minsker Juden unter NS-Herrschaft. Im Juli wurden sie ghettoisiert, ein Jahr später waren bereits 50 000 erschossen, in Gaswagen ermordet worden oder an den schrecklichen Lebensbedingungen zugrunde gegangen.
Am 21. Oktober 1943 wurden die letzten 2000 Juden des Ghettos von Minsk ermordet. Überlebenschancen hatten am ehesten noch jene etwa 10 000, denen die Flucht in die Wälder und zu den Partisanen gelang. Für einen zweieinhalbjährigen Jungen stand dieser Weg natürlich nicht offen. Doch Solidarität und Widerstandsbereitschaft fanden zuweilen auch andere Wege.
Wladimir Schazkij war von Bella Rubintschik, einer Schwester seiner Mutter, aus der Kinderkrippe abgeholt worden und kam mit ihr ins Ghetto. Es gelang der Tante jedoch, ihn mittels einer Helferin herauszuschmuggeln, die ihn im Kinderheim Nr. 3 in Kosyrewo, ein wenig außerhalb von Minsk, unterbrachte, wo auch andere jüdische Kinder Zuflucht fanden. Das war besser als das Ghetto, aber auch kein sicherer Ort.
Als die Wehrmacht am 22. Juni 1941 in der Sowjetunion einfiel, begann ein beispielloser Zivilisationsbruch. In Deutschland verstrich der 75. Jahrestag der "Operation Barbarossa" ohne jedes angemessene Gedenken. Die SZ erinnert mit dieser Serie an einen Krieg, wie es ihn nie zuvor gegeben hatte, und an seine Auswirkungen auf die Gegenwart.
1. Interview mit Gerhard Schröder über Russland.
2. Historiker Antony Beevor über Hitler und Stalin.
3. Opfer und Täter in der Ukraine.
4: Das Massaker in der Schlucht von Babij Yar.
5. Die Schuld der deutschen Generäle.
6. Die Wende im Winterkrieg vor Moskau.
7. Der Mythos um die "28 Helden von Panfilow".
9. Wie sich der Junge Wladimir retten konnte.
10. Die Jeanne d'Arc der Sowjetunion.
11. Der unterschätzte Widerstand der "Roten Kapelle".
12. Das furchtbare Elend der sowjetischen Kriegsgefangenen.
13. Zeitzeugen erinnern sich an einen bestialischen Krieg.
Es herrschte Hunger, und das Heim wurde regelmäßig vom deutschen Sicherheitsdienst inspiziert, dem die Heimleiterin etwa 40 jüdische Kinder auslieferte. Doch einige Kinderpflegerinnen widerstanden. Anna Welitschko, eine junge Frau, die selbst zwei Kinder hatte und deren Mann zur Roten Armee eingezogen war, bemühte sich sehr um die Rettung.
Den gefährdeten Zöglingen wurde eingeschärft, was sie sagen durften und was nicht. Sie mussten ihre neuen Namen verinnerlichen. Schazkij hieß nun Kudelko. Da die kärglichen Ernährungsrationen von einer nicht-jüdischen Geburtsurkunde abhingen, erteilte ein eingeweihter Priester die Taufe und stellte die nötigen Dokumente aus. Auch Halskettchen mit Kreuzen sollten schützen.