Zweiter Weltkrieg:Der Retter, den sie "Apostel" nannten

Zweiter Weltkrieg: Varian Fry (ganz rechts) organisierte 1941 die Ausreise der Surrealisten Jacqueline (li.) und André Breton (2. v. re.) und des Bildhauers Jacques Lipchitz (2. v. li.) in die USA.

Varian Fry (ganz rechts) organisierte 1941 die Ausreise der Surrealisten Jacqueline (li.) und André Breton (2. v. re.) und des Bildhauers Jacques Lipchitz (2. v. li.) in die USA.

(Foto: imago stock&people)

Der amerikanische Journalist Varian Fry verhalf berühmten Künstlern zur Flucht vor den Nazis - ein ehemaliger Weggefährte Hitlers hatte ihm die Augen geöffnet. Geschichte eines fast vergessenen Helden.

Von Knud von Harbou

Aufgeschreckt wurde die amerikanische Öffentlichkeit von Bildern der Siegesparade der deutschen Wehrmacht auf den Champs-Élysées in Paris am 14. Juni 1940.

Mit einem Schlag wurde ihr vor Augen geführt, was die Invasion nicht nur für die Franzosen bedeutete, sondern in welch lebensbedrohlicher Situation Zehntausende deutsche Nazigegner, Literaten, Künstler, Intellektuelle schwebten, die sich ins Exil nach Frankreich gerettet hatten.

Nur Tage später veranstalteten die American Friends of German Freedom in New York ein Fundraising-Dinner, bei dem 3400 Dollar gesammelt wurden, genug, um etwa zehn Personen die Ausreise zu ermöglichen. Weil dies nur ein Tropfen auf den heißen Stein sein konnte, kam die Anregung, eine Organisation zu gründen, die möglichst viele Gegner des Faschismus retten könnte.

Ende Juni eröffnete in New York das Büro des Emergency Rescue Committee (ERC). Zentral war die Geldbeschaffung, nicht minder wichtig waren die nötigen Einreisevisa in die USA nebst "affidavits", Garantien, dass der Emigrant nicht der Sozialfürsorge zur Last fallen dürfe, sowie die politische Unbedenklichkeitsbescheinigung.

Da keine Zeit blieb für die übliche bürokratische Visabewilligung mussten sofort einige Hundert Emergency Visa ausgefertigt werden. Doch Präsident Franklin D. Roosevelt weigerte sich mit Hinweis auf Widerstand im Kongress, entsprechende Anordnungen zu treffen. Albert Einstein gelang es, Eleanor Roosevelt von der Gefahr der deutschen Besatzung für die Emigranten in Frankreich zu überzeugen.

Der Frau des Präsidenten war es zu verdanken, dass in der Folge das State Department eine Namensliste der dringlichsten Fälle akzeptierte und für diese Personen ein Not-Visum ausfertigte. Spontan übernahm eine Gruppe von Freiwilligen die Bürokratie, die Rettungsarbeit konnte beginnen. Eine genauere Vorstellung, wie sie ablaufen sollte, hatte das ERC nicht, zu undurchsichtig war die Situation im besetzten Frankreich.

Varian Fry

Der US-Journalist Varian Fry kurz vor seinem Tod 1967.

(Foto: Fred Stein/dpa)

Das Land war nach einer nahezu kampflosen, "seltsamen Niederlage" (Historiker Marc Bloch) in zwei Teile gespalten. Der größere Nordteil mit der Atlantikküste und den Industriezentren wurde dem deutschen Militärbefehlshaber unterstellt, der unbesetzte Teil im Süden, getrennt durch eine streng kontrollierte Demarkationsline, wurde vom Kurort Vichy aus von der diktatorischen Regierung des Marschalls Philippe Pétain verwaltet.

Jedoch in enger Abstimmung mit dem NS-Besatzungsregime, was sich besonders in der Judenpolitik nach der Regierungsbildung am 17. Juni 1940 zeigte.

Internierung ohne richterlichen Beschluss

Nicht nur die eingebürgerten Immigranten verloren ihre französische Staatsbürgerschaft, sondern auch Juden wurden nach rassistischen Kriterien ausgegrenzt. Betroffen waren 300 000 Juden. Die Internierung von Ausländern und Kommunisten war ohne richterlichen Beschluss möglich.

Nach der Massenflucht vor der deutschen Wehrmacht befanden sich Anfang 1941 circa 150 000 Flüchtlinge in der südlichen Zone. Durch den Waffenstillstandsvertrag war Frankreich verpflichtet, von der deutschen Regierung namentlich benannte Immigranten "auf Verlangen" auszuliefern.

Die anfangs erstaunliche Weigerung der Vichy-Regierung, dem nachzukommen, wich zum Jahresende 1940 der Bereitschaft zu totaler Kollaboration. Grund dafür war die Vorstellung, ähnlich wie Deutschland, ein organisches Modell einer Nation "ohne Fremdkörper" zu etablieren.

Gesicherte Zahlen von Flüchtlingen, die von einer Auslieferung nach Deutschland bedroht waren, gab es nicht. Dazu wurden, auch in den Lagern, zu viele Flüchtlingen von Sympathisanten versteckt. Die Deutschen wussten sehr genau, wen sie suchten.

Verfügten die Exilanten jedoch über gültige Ausweispapiere von Drittstaaten wie den USA, die bis Mai 1942 diplomatische Beziehungen zu Frankreich unterhielten, verhinderte dies zunächst eine Auslieferung oder Deportation in ein KZ.

In den ersten Wochen des Rescue Committees wurden hektisch Listen mit den Namen der dringlichsten Fälle angefertigt. Es war ein Spiel gegen die Zeit. Man verfügte kaum über französische Kontaktadressen, mit denen man sich in Verbindung setzen konnte, geschweige denn über eine Art Büro.

Hitlers Ex-Pressesprecher erzählte von den mörderischen Absichten der Nazis

Mitte Juli 1940 beschloss man daher, einen eigenen Helfer nach Marseille zu schicken, der am Ort praktische legale und illegale Hilfe leisten sollte. Eine schier unlösbare Aufgabe, sah sich diese Person doch einer Phalanx von Sicherheitsdiensten des Vichy-Regimes und der Nazis gegenüber.

Dann musste sie sich auch mit der Polizei herumschlagen, den Zollbehörden, Fluchthelfern, die es häufig nur auf Geld abgesehen hatten, dubiosen Passfälschern, Denunzianten und einer brodelnden Gerüchteküche. Wer also kam für diese lebensgefährliche Arbeit überhaupt infrage?

Zum engeren Kreis der ERC-Initiatoren gehörte der 32-jährige politische Journalist und Lektor Varian Fry. Die Suche nach einem geeigneten Kandidaten zog sich hin, bis man schließlich an ihn herantrat, obwohl er bekannte, weder mit Fluchthilfe noch mit Untergrundarbeit vertraut zu sein.

Fry hatte in Harvard Geschichte und Literaturwissenschaft studiert und an der Columbia University in New York promoviert. Er war mehrsprachig, darunter perfekt in Deutsch und Französisch, ein für dies Unternehmen enorm wichtiges Kriterium.

Im Mai 1935 war er in Berlin Zeuge mörderischer antisemitischer Ausschreitungen geworden, die ihn in seiner Einsicht von der "Notwendigkeit demokratischer Solidarität" bestärkten.

Von seinem ehemaligen Harvard-Kommilitonen Ernst Franz "Putzi" Hanfstaengl, Hitlers Pressesprecher, wusste er seit 1935 von den Absichten des Diktators, die Juden zu vernichten. So nahm er den Auftrag an, wissend, dass ihm kein diplomatischer Schutz der USA zugesagt wurde.

Am 4. August flog Fry nach Lissabon, in der Tasche ein paar Tausend Dollar und eine Liste mit Namen vierzig weltberühmter Persönlichkeiten aus Kultur und Politik, die vorrangig gerettet werden sollten.

Wie realitätsfern die Vorstellungen des Rescue Committees waren, zeigte sich bei der Anweisung an Fry, bereits Ende August zurückzukehren. Bis dahin sollte die Arbeit erledigt sein. Er blieb dreizehn Monate und als er - gegen seinen Willen - zurückkehrte, war die Arbeit längst nicht getan.

In seinen 1945 erschienenen Erinnerungen ("Auslieferung auf Verlangen") schildert Fry seine Erlebnisse. Sie sind voll von skurrilen Begegnungen mit berühmten Autoren, Künstlern und Politikern. In einem mühsam ergatterten kleinen Einzelzimmer im Hotel Splendide in Marseille begann er seine Arbeit an einem winzigen Schreibtisch.

Der Spiegel einer Frisierkommode diente als Beistelltisch, den sich drei deutsch-österreichische Exilanten teilten. Die amerikanische Sekretärin benutzte das Bidet als Unterlage für die Schreibmaschine, Fry selbst saß auf der Bettkante.

Ihm zur Seite stand ein Restaurantbesitzer, Kopf einer korsischen Bande, dessen "Privatgeschäfte vermutlich aus Bordellbetrieb, Schwarzmarkt und Kokainhandel" bestanden.

Chagall fragte: "Gibt es in Amerika auch Kühe?

Der Polizei, die wegen der lange Schlange von Flüchtlingen vor der Tür Verdacht schöpfte, wurde weisgemacht, dass es sich um ein amerikanisches Wohlfahrtskomitee handele.

Wie ein Lauffeuer hatte sich herumgesprochen, dass hier ein Amerikaner sei, der Pässe ausstellen und Geld verteilen würde. Tragische wie komische Episoden begleiteten den Alltag.

Der Versuch, die früheren Weimarer SPD-Minister Breitscheid und Hilferding nach Lissabon zu schmuggeln, scheiterte, weil die Politiker es ablehnten, während der Überfahrt in einer stickigen Koje im Laderaum des Dampfers zu schlafen.

Beide wurden ausgeliefert, Hilferding starb in Pariser Haft, Breitscheid kam bei einem Luftangriff auf das KZ Buchenwald ums Leben. Marc Chagall, mehrfach nur knapp der Verhaftung entkommen, stellte vor der Flucht die Frage: "Gibt es in Amerika auch Kühe?"

Als 1941 die deutschen Verordnungen über die Behandlung von Juden weitgehend vom Regime Vichy übernommen wurden, spitzte sich die Lage zu. Von Dezember 1941 an erfolgten erste Deportationen "nach dem Osten". Es galt um jeden Preis, jüdische Exilanten aus den Internierungslagern zu befreien.

So gelang mit Frys Hilfe Lion Feuchtwanger die Flucht in Frauenkleidern aus Les Milles. Er beklagte, "vorläufig habe ich nichts außer dem braunen Anzug, den ich anhabe, keine Wäsche, nur eine Zahnbürste, auch kein zweites Hemd".

Eine kuriose Bemerkung, wenn man bedenkt, dass allein im Lager Gurs täglich zehn bis 15 Häftlinge an Entbehrungen starben.

Wie sollte man einen massigen Mann wie Franz Werfel über die Grenze bringen?

Da bis Ende 1940 keine französischen Ausreisevisa erteilt wurden, blieb nur der illegale Weg. Dazu wurde ein eigenes Fluchthelfernetz im Untergrund aufgebaut.

Lisa Fittko, die mit ihrem Mann Hans bis zu dreimal in der Woche Fluchten über die Pyrenäen begleitete, schilderte ("Mein Weg über die Pyrenäen") die Dramatik der hochriskanten Grenzübertritte über wechselnde Routen.

Wie sollte man die schon recht betagten Flüchtlinge Heinrich Mann, Franz Werfel oder den gesundheitlich angeschlagenen Walter Benjamin in langen Bergmärschen sicher über die stark gesicherte spanische Grenze bringen? Die Möglichkeit, nachts mit einem Fischerboot ins Nachbarland zu gelangen, war versperrt.

Mit viel Fantasie wurden ständig neue Fluchtmöglichkeiten ersonnen. So mussten sich kleine Gruppen als Weinbauern verkleiden, nur ein kleines Bündel mit Essensvorräten in der Hand. Im Morgengrauen schlossen sie sich Feldarbeitern an, um bei erster Gelegenheit heimlich zu verschwinden.

Man kann sich Frys Probleme lebhaft vorstellen, einen Koloss wie Franz Werfel ("groß, untersetzt und bleich - wie ein zur Hälfte gefüllter Mehlsack") geschickt zu tarnen. Mit seiner Hilfe gelang der Gruppe, die aus Lion und Marta Feuchtwanger, Franz und Alma Werfel, Heinrich Mann und seiner Frau Nelly Kröger sowie seinem Neffen Golo bestand, die Flucht. Ein Dank indes ließ auf sich warten.

Bei Feuchtwanger ("Der Teufel in Frankreich") wird Fry nur sehr distanziert geschildert. Auf die intern geäußerte Bemerkung Nelly Krögers, ob er "nicht vielleicht ein Spion ist und uns in eine Falle lockt", gab Fry ihr zu verstehen, dass er sehr wohl Deutsch verstehe.

Gültige Visa und Pässe zu beschaffen erwies sich zunehmend als unmöglich. Deswegen stieg die Nachfrage nach gefälschten Dokumenten dramatisch.

Das Centre Américain de Secours (CAS), wie Fry seine Agentur nannte, arbeitete mit dem jüdischen Wiener Bil Spira als Passfälscher zusammen. Der Karikaturist wurde später auf seiner Flucht vor den Nazis in Les Milles interniert, dort befreit, tauchte in Marseille unter, wurde erneut verhaftet und überlebte mehrere KZs.

Selbst die gelungene Flucht nach Spanien und Portugal bedeutete noch nicht die rettende Weiterreise nach New York. Alle Schiffe waren überbucht, die Wartezeiten lang. Und dann erwartete die Flüchtlinge in den USA eine ungewisse Zukunft.

Flüchtlinge wurden in den USA als Bedrohung für die nationale Sicherheit stigmatisiert

Mit der Organisation der Flucht war noch nicht alles erreicht: Zwar konnte Fry Anträge auf Bewilligung von Visa zur Einreise in die USA stellen, es musste aber ein Nachweis über besondere politische Verfolgung vorliegen, eine Vertreibung auf Grund antisemitischer Repressionen genügte nicht.

Schnell konnten Vorbehalte des Immigration Office wegen Zugehörigkeit zu einer kommunistischen Gruppierung zu einer Ablehnung führen. Oft genügte als Begründung einfach nur "aufgrund von politischen Ansichten". Es bedurfte immenser Anstrengungen, um ein solches Verdikt rückgängig zu machen, die von einer so kleinen Fluchthilfeorganisation kaum zu bewältigen waren.

Die Einwanderungsbestimmungen verschärften sich Mitte 1941 deutlich; überliefert ist eine Anweisung des State Departments, dass seit dem 24. Juni über keinen Antrag mehr entschieden werden dürfe.

So wartete von den 3000 politisch Verfolgten noch ein halbes Jahr später fast ein Drittel auf ihr US-Visum. Die Flüchtlinge wurden als potenzielle Bedrohung für die nationale Sicherheit stigmatisiert. Ablesbar war dies auch an der "auf null gesunkenen Hilfsbereitschaft" in den USA, wie sie die ERC beklagte.

Im Januar 1941 verdichteten sich Hinweise, dass die Verlängerung von Frys Tätigkeit als offizieller Delegierter des CAS unerwünscht war. Seine Gehaltszahlungen wurden eingestellt. Doch Fry, der inzwischen in der komfortablen Villa Air-Bel am Rande Marseilles arbeitete, fuhr unbeirrt mit seiner Arbeit fort, "weil ich mit ganzem Herz dabei bin".

Ein Bericht hielt fest, dass zwischen September 1940 bis Februar 1942 mehr als 6000 Menschen das CAS um Hilfe gebeten hatten, Namen von 590 Personen seien nach New York gekabelt und 407 Personen mit mehr als einer Million Francs unterstützt worden. Verschwiegen wird darin der zeitraubende Kontakt den Behörden und der Aufbau einer Infrastruktur für die Organisation heimlicher Fluchtrouten.

Das beschreibt in etwa den Umfang seiner Aufgabe als "Apostel", wie Frys Spitzname lautete. Die Villa übte als Treffpunkt politischer Aktivisten und der surrealistischen Avantgarde (etwa Max Ernst oder André Breton) große Faszination aus. Suspekt war dieses Treiben der Vichy-Polizei, die eine groß angelegte Razzia mit Verhaftungen durchführte, die vorübergehend auch Amerikaner erfasste. Fry wurde gewarnt, dass er aus Frankreich ausgewiesen werden sollte.

Zugleich wuchsen Misstrauen und Ablehnung, auch der US-Administration, gegen ihn wegen seines Engagements für verfolgte Linke und Juden. Lediglich der für Passangelegenheiten zuständige Konsul von Marseille, Hiram Bingham, hielt schützend seine Hand über das CAS.

Doch die Tage Frys als Leiter der CAS waren gezählt, unter erschwerten Bedingungen konnte es eingeschränkt noch bis zum Juli 1941 arbeiten. Deprimiert verfolgte er die Zusammenarbeit der US-Administration mit dem französischen Polizeipräsidenten. Auf seine Frage, warum er Ende August abgeschoben werden sollte, hätten beide geantwortet: "Weil Sie Juden und Nazigegner geschützt haben."

Eine undatierte Liste des CAS enthält knapp 2000 Namen von "political and intellectual refugees", die das Komitee unterstützt hat. Die Gesamtzahl dürfte höher gewesen sein.

Vergebliche Bitte an die berühmten Exilanten

Im September 1941 musste Fry in die USA zurückkehren. Dort fiel er rasch dem Vergessen anheim, der Zutritt zum ERC wurde ihm verwehrt. Vergeblich bat er Künstler wie Chagall, Max Ernst, André Breton, die er gerettet hatte, ein neues Hilfsprojekt für Exilanten zu unterstützen. Auch die Autoren, denen er geholfen hatte, schwiegen bis auf wenige.

Fry schlug sich als Journalist und Werbetexter durch und arbeitete als Lehrer. Erst 1967 wurde er als Mitglied der französischen Ehrenlegion ausgezeichnet; 1994 erfolgte die Aufnahme als erster US-Bürger in die israelische Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem. Später wurden eine kleine Straße am Potsdamer Platz in Berlin und ein Platz vor dem US-Generalkonsulat in Marseille nach ihm benannt.

Verbittert starb Fry am 13. September 1967 in Redding, Connecticut. Er war 59 Jahre alt. Man fand ihn im Bett, halb bedeckt von Entwürfen für eine Schulbuchausgabe seines Berichts über die Rettungsaktion der Exilanten in Marseille.

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