Kriegsende 1945:"Ich schrie: Nehmt mich mit!"

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"Ich glaubte noch 1944 fest an den Endsieg": Rolf Ostheim im April 2005 (Foto: Foto: Johannes Honsell)

Rolf Ostheim ist 19, als er im März 1945 als Soldat das sterbende Nazi-Reich verteidigen soll. Der Zeitzeuge aus Österreich erzählt vom familiären Antisemitismus, von seiner anfänglichen Kriegsbegeisterung und vom Tag, an dem er sein Bein verlor.

Protokoll: Johannes Honsell

Rolf Ostheim wurde 1925 in Graz in der Steiermark/Österreich geboren. Von 1954 bis 1956 wirkte er als Kapellmeister in Baden bei Wien. Danach studierte er Jura. Ab 1958 war er Richter, von 1968 bis 1994 lehrte Ostheim als Professor für Zivilrecht an der Universität Salzburg. Weihnachten 2018 starb er im 94. Lebensjahr.

2005 erinnerte sich Rolf Ostheim für die SZ an die Zeit nach dem "Anschluss" Österreichs an Hitler-Deutschland, an seine Begeisterung für das NS-Regime und an die Zeit als Soldat, während der ihm ein Bein amputiert worden war. Seine Zeitzeugen-Bericht beginnt vor dem Krieg, mit der Reichspogromnacht am 9. November 1938.

"Auch in Graz wurde natürlich die Synagoge angezündet. Ich wohnte etwas außerhalb, von der Judenverfolgung hat man dort wenig mitbekommen. Meine Familie war traditionell antisemitisch, aber nicht scharf antisemitisch.

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Man ist eben nicht zu Kastner & Öhler einkaufen gegangen, denn man geht nicht in ein jüdisches Kaufhaus - aber meine Großmutter war nach NS-Lesart "Vierteljüdin". So war das damals.

Die Idee des Großdeutschen Reichs hat mich damals fasziniert, auch Adolf Hitler faszinierte mich. Bei der Hitlerjugend wurden Emotionen geweckt wie Einsatzfreude, Korpsgeist, Freude über den Erfolg, verbunden mit dem Elitebewusstsein. Die Erfolge, die Hitler hatte, haben sicherlich auch eine Rolle gespielt.

Die ganzen Schuldzuweisungen an Polen (vor dem Überfall am 1. September 1939, dem Beginn des Zweiten Weltkriegs; Anm. d. Red), das unwürdige Spiel mit dem Sender Gleiwitz hat man damals geglaubt.

Ich war bei der Hitlerjugend in Graz Jungstammführer, davon gab es in der Stadt drei. Im Februar 1943 habe ich mit 17 Jahren maturiert und mich danach als Kriegsfreiwilliger und Reserveoffiziersbewerber gemeldet. Mitte Juni 1943 rückte ich als Artillerist zum Militär ein. Ich wollte unbedingt in den Krieg, glaubte anders als mein Vater noch 1944 fest an den Endsieg.

"Ich wollte unbedingt in den Krieg" - Rolf Ostheim (li.) (Foto: Foto: Privat)

Am 1. Januar 1945 kam ich auf die Waffenschule Großborn in Pommern, der reichseinheitlichen Artillerie-Offiziersschule. Im Januar kamen die Russen über die Weichsel. Wir wurden als Fähnrich-Regiment eingesetzt. Unsere Ausrüstung war durchaus ungenügend.

Soweit ich mich erinnere, hatten wir als Regimentsartillerie ganze drei "Hummeln" - Feldartilleriegeschütze - und ein paar Karabiner und MGs, mehr nicht. So sollten wir die vorrückenden Russen aufhalten.

Die Russen sind südlich von uns durchgebrochen und waren dabei, die Oder entlang einen großen Kessel um uns zu ziehen. Wir zogen im Wettlauf mit ihnen nach Norden. Wir wollten über Swinemünde rauskommen, jedoch waren die Russen bereits zur Ostseeküste durchgestoßen. Wir waren eingekesselt.

Am 13. März sollte unser Durchbruchsangriff stattfinden. Ich war in der Spitzengruppe unserer Einheit. Wir waren etwa 4000 Mann und Tausende Flüchtlinge. Manche hatten Pferdewagen mit ein wenig Hausrat drauf, manche hatten gar nichts.

Abends sind wir raus und sollten möglichst leise an die russischen Linien heran. Irgendwo fiel ein Schuss, ich weiß bis heute nicht, warum. Irgendeiner fing an "Hurra!" zu schreien - wir waren aber noch zwei- bis dreihundert Meter von den Russen entfernt.

Das russische Sperrfeuer setzte sofort ein. Ich dachte: Ich darf nicht stehen bleiben. Wir müssen durch. Also habe ich mich nicht auf den Boden gelegt, was besser gewesen wäre, sondern bin weiter gerannt. Das war natürlich blöd. Ich erlitt einen Schussbruch, das Projektil traf genau den linken Oberschenkelknochen.

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Das Einschlussloch war ganz klein, das Austrittsloch war durch die Knochensplitter handtellergroß. Mein Oberschenkel war zerborsten.

In dem Moment denkt man gar nichts, hat einen Wundschock, spürt nichts. Ich lag da, das Bein quer, und hab versucht, das zerschossene Bein mit dem gesunden wieder in die richtige Richtung zu drehen. Ich wollte aufstehen, merkte aber gleich, dass das nicht ging, denn das Bein ist eben nicht mit aufgestanden.

Ich schrie: "Nehmt mich mit!" Das haben sie auch getan. Sie haben mich in eine Decke gelegt und über den Boden mitgeschleift. In einem alten Ziegelofen wurden die Verwundeten gesammelt. Der Durchbruchangriff gelang übrigens, auch die vielen Zivilisten kamen durch.

Am nächsten Tag wurde ich auf einem Pferdewagen mit Knäckebrotschachteln auf den Hauptverbandsplatz auf Usedom gebracht. Ich dachte nur: Gott sei dank, ich bin mitbekommen, es wird schon irgendwie werden. Ende März kam ich ins Lazarett nach Halle an der Saale.

Dort hat man das gebrochene Bein nach der für diese Verletzung herkömmlichen Methode behandelt: Man trieb einen Nagel durchs Schienbein und befestigte ein Gewicht, damit das Bein sich nicht verkürzt. Um nicht aus dem Bett gezogen zu werden, lag ich leicht mit dem Kopf nach unten.

Eines Nachts Anfang April wachte ich auf, nachdem die Schwester den Verband kontrolliert hatte. Ich räkelte mich und merkte plötzlich: ich bin ganz nass. Ich fuhr mit der Hand unter meine Achselhöhle und merkte: ich liege in einer Blutlache.

Da habe ich natürlich ein großes Geschrei angefangen. Ein wandernder Knochensplitter hatte die Hauptschlagader angerissen, die sehr mürb war, weil sich in der Zwischenzeit ein Röhrenabszess gebildet hatte, den man aber nicht gesehen hat.

Ich wurde sofort in den OP gebracht. Das letzte Wort, dass ich verstanden habe, bevor ich wegdämmerte, war: "Amputation". Als ich aufwachte, war das Bein weg.

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Eine Stunde lang habe ich mich selbst bedauert. Dann habe ich ein Gedicht gemacht, angeregt von einem der Galgenlieder von Christian Morgenstern mit dem Titel "Das Knie": "Ein Knie geht einsam durch die Welt, es ist ein Knie, sonst nichts... Im Kriege ward ein Mann einmal erschossen um und um / das Knie allein blieb unverletzt als wär's ein Heiligtum."

Daraus machte ich: "Ein Bein fliegt um die Mitternacht / empor am Firmament. / Es kommt aus einem Ofenrohr / und ist schon ganz verbrennt. / Der Mensch, der einst es angehabt, / liegt mittlerweil ganz dumm/ mit einem Zugverband begabt/ im Bett und leidet stumm./ Ist es ihm doch als hätte er / das Bein noch immer dran/ und wär nur bös betrogen, weil / er es noch spüren kann /Das Bein derweilen fliegt empor / am nächt`gen Firmament, / es kommt aus einem Ofenrohr / und ist schon ganz verbrennt."

Mit dem Gedicht habe ich den Verlust meines Beines bewältigt, mich damit abgefunden. Als die Amerikaner kamen und Anfang April Halle besetzten, war ich froh, dass es vorbei war. Dass ich überlebt hatte.

Viele Österreicher allerdings trugen plötzlich rot-weiß-rote Armbinden und sagten, sie gehörten nicht dazu. Das hat mich damals zutiefst empört, denn ich empfand es als Verrat am gemeinsamen Frontschicksal.

Von Hitlers Tod erfuhr ich erst durch Zeitungen. Als die Russen nach Kriegsende Halle von den Amerikanern übernahmen, wollten sie die Lazarette nicht mit übernehmen. Also haben die Amerikaner uns im Juni abtransportiert, nach Marburg an der Lahn ins Lazarett.

Ich wusste damals nicht, ob überhaupt jemand von den meinen noch lebte. Also versuchte ich mir ab Sommer 1945 in Marburg eine neue Existenz aufzubauen. Mir war klar: Ich brauchte einen sitzenden Beruf.

Ein Schuster war bereit, mich als Lehrling zu nehmen, sobald ich aus dem Lazarett entlassen würde. Ich wollte auch versuchen, über den Winter im Lazarett bleiben zu können.

In einem Artikel der Hessischen Zeitung las ich, dass der englische Stadtkommandant von Graz die Bevölkerung aufgefordert hatte, nicht zuviel grundlos zu denunzieren, weil die Gefängnisse alle überfüllt sind. Das entsprach in der Tat der Mentalität mancher Österreicher.

Aber für mich war das ein Lichtblick, weil ich dadurch wusste, dass nicht mehr die Russen sondern die Engländer in Graz waren. Eines Tages im Oktober kam ein Brief von meiner Frau ins Lazarett, in dem sie mich fragte, warum ich nicht nach Hause käme.

Da hab ich alles abgeblasen, um die Entlassung gebeten und bin im November nach Graz zurückgekehrt. Ich wurde nicht eingesperrt, wohl wegen meines Beines.

Heute spüre ich keine Verbitterung. Ich habe meine Lektion gelernt. Ein Bein kann man am ehesten verkraften. Einige Zeit lang nach dem Krieg war ich Musiker. Hätten mir zwei Finger gefehlt, hätte ich das nicht machen können."

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