Mindestens neun Tote, Hunderte Verletzte und Proteste in vielen Städten des Landes: Am zweiten Jahrestag der Revolution sind die Spannungen in Ägypten eskaliert. Die Proteste richteten sich gegen den islamistischen Präsidenten Mohammed Mursi und seine Muslimbrüder.
In Suez starben nach Angaben der Ärztevereinigung mindestens fünf Menschen bei Zusammenstößen vor dem Sitz der Provinzregierung durch Schüsse mit scharfer Munition. Das berichtet die ägyptische Zeitung Al-Ahram. In der Textilarbeiterstadt Mahalla warfen Aufständische Molotow-Cocktails in den Sitz der Provinzregierung und steckten ihn in Brand. In Damanhur, im Nildelta gelegen, ging das Büro der Muslimbrüder in Flammen auf - wie vor einigen Wochen schon einmal. In Alexandria, eigentlich eine Hochburg der ultrakonservativen Salafisten, wogten die Scharmützel den ganzen Nachmittag hin und her. Im oberägyptischen Minia lieferten sich Gegner und Anhänger der Muslimbruderschaft Kämpfe mit Steinen und Brandsätzen.
Präsident Mohammed Mursis Aufruf vom Vorabend zu einer "zivilisierten" und geordneten Feier des Jahrestages war offensichtlich verhallt. Auch Mursis Appelle am Freitagabend blieben ohne Wirkung. In Kairo hatten sich Zehntausende auf dem Tahrir-Platz versammelt, wo es anfangs friedlich geblieben war. Die Menschen trugen Parolen wie vor zwei Jahren zum Sturz Mubaraks: "Das Volk will den Sturz des Regimes". Oder sie skandierten Slogans wie "Hau ab, du Verlierer", die sich gegen Mursi richteten. In Seitenstraßen auf dem Weg zum Innenministerium gerieten ein kleiner Teil der Protestierenden und die Sicherheitskräfte allerdings bald aneinander. Die Protestierenden stürzten Blöcke aus Betonmauern um, mit der die Sicherheitskräfte Ministerien und Parlament abgeriegelt hatten. Die Polizei schoss mit Tränengaspatronen, die die Menge immer wieder in Panik versetzten. Im Laufe der Abendstunden trieben die Tränengasschwaden viele Menschen vom Tahrir-Platz.
Die Gegner der Muslimbrüder waren in Sternmärschen auf den Tahrir-Platz und weiter zum Präsidentenpalast marschiert. Einige versuchten, die Stacheldrahtabsperrung zu durchbrechen. Tränengaspatronen, Molotowcocktails, Steine flogen auch hier. Mohammed el-Baradei, Friedensnobelpreisträger und Ex-Leiter der Internationalen Atomenergiebehörde, hatte in einer Erklärung zum Protest aufgerufen: Die Revolution müsse "vollendet" werden.
Und doch waren es nicht jene Massen, die die Opposition noch vor einigen Wochen gegen die Muslimbrüder mobilisiert hatte. Baradei, Ex-Außenminister Amr Moussa und der linke Populist Hamdin Sabbahi hatten als gemeinsame "Nationale Rettungsfront" Millionen gegen die Verfassung auf die Beine gebracht, die die Islamisten durchgepeitscht hatten. Seitdem hat die Rettungsfront an Schwung verloren. Am späten Abend erklärte sie jedoch, dass die Mitglieder ihrer Bewegung die Straßen nicht verlassen würden. Offenbar bereiten sie sich erneut darauf vor, den Tahrir-Platz oder den Platz vor dem Präsidentenpalast zu besetzen.