Es ist der 18. März 2012. Gerade ist Joachim Gauck mit 991 von 1228 Stimmen zum elften Bundespräsidenten der Bundesrepublik Deutschland gewählt worden. Selten zuvor wurde ein Kandidat mit soviel Zustimmung aus der Bevölkerung ins Amt getragen. Und was sind Gaucks erste Worte im Amt? "Was für ein schöner Sonntag!"
In der Tat war es ein sonniger Sonntag. Aber es steckt mehr in diesem Satz. An genau diesem Tag im Jahr 1990 durften die Menschen der DDR erstmals frei wählen. "Nie werde ich diese Wahl vergessen, niemals", sagt Gauck. Und verspricht: "Ich werde niemals, niemals eine Wahl versäumen." Aus dem Glück der Befreiung müsse die "Pflicht und das Glück der Verantwortung" erwachsen. Das ist Gaucks Lebensthema. Bis heute.
Schon zwei Jahre zuvor der bessere Kandidat
Gauck war schon zwei Jahre vor seiner Wahl der bessere Kandidat. Getragen von einer Welle der Sympathie. Hätte es eine Direktwahl gegeben, sie wäre eindeutig zugunsten Gaucks ausgegangen. Das ist schon deshalb erstaunlich, weil Gauck - trotz seiner offensichtlichen Eitelkeit - sich nie damit zufriedengab, dem Volk nach dem Mund zu reden. Er ist lieber ein Stachel im Fleisch, als dass er von jedem geliebt wird.
2010 musste nach dem Willen von Kanzlerin Angela Merkel ihr CDU-Parteifreund Christian Wulff Bundespräsident werden. Wulff war mit dem Amt überfordert. Seine Affären zwangen ihn zum Rücktritt. Nach der Demission von Horst Köhler 2010 war es der zweite vorzeitige Abgang eines Bundespräsidenten hintereinander. Das ist an sich schon eine Ungeheuerlichkeit.
Wenn Gaucks einzige Aufgabe gewesen wäre, dem Amt jene Würde zurückzugeben, die Wulff ihm genommen hatte, er hätte sie schon am ersten Tag im Amt erfüllt. Sein Auftreten, seine Sprache, sein Alter - müsste ein Regisseur die Rolle des Bundespräsidenten besetzen, einen Besseren als Gauck würde er nicht finden.
Und doch ist Gauck mehr als das Abziehbild eines großväterlichen Staatsoberhauptes. Er ist eine Zumutung. Und genau deshalb der richtige Präsident.
Gauck ist ein Mann, der an die Menschen glaubt, an ihre Fähigkeit zur "Selbstermächtigung", wie er es nennt. Aber er glaubt auch daran, dass Menschen sich gerne einlullen lassen, sich gerne zu schnell zufriedengeben, mit dem, was ist.
Darin steckt auch Unverständnis für einen Teil seiner Landsleute, die, wie er findet, zu oft lieber abwarten als anpacken. Die friedliche Revolution, die erst die DDR zum Einsturz und dann Deutschland die Wiedervereinigung brachte, ist ihm Sinnbild für Aufbruch und Freiheit geworden. Ein Geschenk, mit dem es gelte verantwortlich umzugehen. Er habe nach der deutschen Einheit das "Glück der Mitgestaltung einer demokratischen Gesellschaft erfahren", sagte er. Er will, dass möglichst viele Deutsche dieses Glück mit ihm teilen. Mitmachen sollen sie. Und sei es auch nur dadurch, dass sie zu den Wahlen zu gehen.
"Ängste vermindern unseren Mut"
Er weiß, dass er damit Menschen verunsichert. Er will dieser Reaktion aber keinen Vorschub leisten. "Ängste - so habe ich es gelernt in einem langen Leben - vermindern unseren Mut wie unser Selbstvertrauen, und manchmal so entscheidend, dass wir beides ganz und gar verlieren können, bis wir gar Feigheit für Tugend halten und Flucht für eine legitime Haltung im politischen Raum", sagte er vor zwei Jahren in seiner Dankesrede.
Es ist zuweilen so, als wolle er am liebsten jeden einzelnen Verzagten wachrütteln, ihm zurufen, er möge aufstehen und sein Leben endlich in die Hand nehmen.
Gauck muss dafür viel Kritik einstecken. Gerade etwa von Linken, die glauben, mehr Geld für Hartz-IV-Empfänger sei immer die beste Lösung. Gauck ist nicht gegen den Sozialstaat. Er hat nur etwas dagegen, wenn der Sozialstaat als eine Art Bank gesehen wird, der nichts weiter geschuldet wird, als dort Monat für Monat Geld abzuheben. Er will keine Bittsteller, sondern Bürger, die die Chancen wahrnehmen, die sie haben.
Aus diesem Gedanken speist sich sein Staatsverständis. Es dürfte niemanden ernsthaft überrascht haben, dass er auf der Münchener Sicherheitskonferenz forderte, "die Bundesrepublik sollte sich als guter Partner früher, entschiedener und substanzieller einbringen".
Das war keine Werbung für mehr deutsche Soldaten im Ausland. Das war der Appell, Deutschland möge sich seiner wirtschaftlichen Größe und Macht bewusst werden. Aus diesem Bewusstsein heraus Entscheidungen zu fällen, ist Gauck lieber, als die eigene Stärke herunterzureden und damit Verantwortung von sich zu weisen. Auch das ist gemeint, wenn Gauck von "Selbstermächtigung" spricht.
Es mag nicht jedem gefallen, was er von Gauck zu hören bekommt. Aber was er sagt, ist oft differenzierter und besser argumentiert, als vieles, was seine Vorgänger im Amt gesagt haben. Gauck ist ein politischer Bundespräsident, vielleicht der politischste in der bundesrepublikanischen Geschichte. Er eckt an, ohne sich in das politische Tagesgeschäft einzumischen. Gauck zeigt Haltung. Er macht es sich nicht bequem im Amt. Das ist an sich schon ein Wert.
Jeder hat das Recht, Gauck zu widersprechen. Niemand muss seine Einschätzungen teilen. Aber jeder sollte sich über einen Bundespräsidenten freuen, der ein gewisses Maß an Reibung erzeugt.
Gauck spielt niemandem etwas vor. Was er sagt und tut, fußt auf seiner Lebenserfahrung. Er hat sich im Amt kaum verändert. Auch wenn es zunächst wirkte, als hätten ihm die diplomatischen Zwänge seines Amtes die Sprache verschlagen. Er hat sich schnell davon befreit. Im April 2012 sagte er einen Besuch in der Ukraine ab - wegen anhaltender Verletzungen der Menschenrechte dort. Im Dezember 2013 wurde bekannt, dass er nicht gedenke, Putins Olympische Spiele in Sotschi zu besuchen. Darin steckte bereits ein Stück von seiner späteren Forderung, Deutschland solle sich "früher, entschiedener und substanzieller" einbringen in der Welt.
Natürlich freut er sich zuweilen wie ein Schneekönig, wenn er an der Seite großer Staatslenker stehen darf. Dann steht dort ein Mann, der in Adolf Hitlers Kriegs-Deutschland geboren wurde, der in der DDR aufwuchs und der fast ein Vierteljahrhundert nach dem Mauerfall das Glück nicht fassen kann, das ihm und seinen Mitbürgern mit diesem Ereignis widerfahren ist.
Voller Scham bat Gauck um Verzeihung
Ihm treten die Tränen in die Augen, wenn er wieder einmal an den Gräbern derer steht, die von Deutschen ermordet wurden, weil sie nicht in das nationalsozialistische Weltbild passten. Kaum ein Bundespräsident zuvor hat so oft die Stätten deutscher Schuld besucht wie Gauck. Zuletzt das nordgriechische Dorf Lyngiades. Hier haben vor 70 Jahren, am 3. Oktober 1943, Soldaten der Wehrmacht wahllos Kinder und Babys, Frauen und Männer, Alte und Schwache erschlagen, erschossen und verbrannt. 83 Tote hat es an dem Tag gegeben. Das jüngste Opfer war zwei Monate alt. Voller Scham bat Gauck um Verzeihung.
Gauck wird die Vergangenheit nicht ruhen lassen. Aber er öffnet den Blick in die Zukunft weiter als seine Vorgänger. Die Schuld anzuerkennen und auf sich zu nehmen, die Fähigkeit, um Vergebung zu bitten, all das bedeutet nicht, daran ersticken zu müssen, atemlos zu sein. "Dies ist ein gutes Deutschland", sagte er in München. "Das beste, das wir jemals hatten."
Macht etwas mit diesem Glück, will er sagen. Mehr verlangt er gar nicht. Aber auch nicht weniger. Manchen ist wohl das schon zu viel.