War die von Premier Boris Johnson verordnete Zwangspause des Parlaments rechtens, die sogenannte Prorogation? Kann ein Gericht hier überhaupt eingreifen - oder ist das nicht eine rein politische Frage? Der Supreme Court in London will Anfang dieser Woche seine Entscheidung über diese Fragen bekannt geben. Der Wiener Jurist Christoph Kletzer kennt sich aus mit den Eigentümlichkeiten des britischen Rechts und der Gesetzgebung. Ihm zufolge könnte theoretisch morgen sogar die Queen die Zwangspause beenden und statt Johnson den Hausmeister von Westminster als Premier einsetzen. Doch was hindert sie? Kletzer unterrichtet Rechtsphilosophie am Kings College London, vorher war er unter anderem an der Universität Cambridge. Er lebt seit 20 Jahren in Großbritannien.
SZ: Großbritannien ist eine konstitutionelle Monarchie. Trotzdem hat das Parlament das Primat. Wie geht das zusammen?
Christoph Kletzer: Das geht eben schwer zusammen. Vor allem deshalb, weil das Primat des Parlaments im Grunde mit keinerlei festem konstitutionellen Inhalt oder Prinzip vereinbar ist, ob jetzt monarchisch oder nicht. Das Parlament darf alles. Es ist da ein logischer Knoten, den aufzudröseln fast unmöglich ist. Die einen sagen, es gebe eine Art richterliches Gewohnheitsrecht, eine common-law-constitution, die über dem Primat des Parlaments steht und dieses auch inhaltlich bindet. Andere sagen, das Parlament kann und darf alles, außer sich selbst zu binden. Es gibt keine herrschende Meinung. Für das Primat des Parlaments müsste es eine Quelle im Recht geben, aber dann wäre da wieder die Frage: Wo kommt die her? Das ist logisch ein Paradox. Im Grunde ist in Großbritannien alles Konvention, Tradition und historisches Faktum. Das Gesetz kommt, wenn man so will, aus dem Bauch der Geschichte. Es gibt keine Kodifikation, keine Verfassungsgesetzgebung.
Welche Rolle spielt die Krone in der Regierung und im Parlament? Es heißt immer "Her Majesty's Government", aber was bedeutet das eigentlich?
Dabei geht es um das Amt, die Funktion, nicht um die Person, also nicht um die Queen selbst. Es heißt ja auch der Souverän sei die "Queen in Parliament", das ist eine dieser herrlichen britischen Formulierungen, aus denen man nicht sofort schlau wird. In Großbritannien gibt es keine klassische Gewaltenteilung. Im Grunde hat die Regierung, zumindest im üblichen Fall einer klaren Mehrheit, Kontrolle über das Parlament. Die Gerichtsbarkeit wiederum hat eigentlich kein Überprüfungsrecht der vom Parlament erlassenen Gesetze. Wenn man beispielsweise die berühmten Federalist Papers von den Gründervätern der USA liest, dann sieht man den Ursprung der amerikanischen Verfassung mit den klassischen checks and balances. In Großbritannien sieht man davon sehr wenig.
Großbritannien:Supreme Court verhandelt über Parlamentspause
Der oberste britische Gerichtshof soll entscheiden, ob Premier Boris Johnson gegen die Verfassung verstoßen hat.
Könnte die Queen denn morgen nach Westminster gehen und sagen, das gefällt mir alles nicht, ich beende die Prorogation, setze Herrn Johnson ab und den Hausmeister als Premier ein?
Das könnte sie theoretisch, das wäre aber wahrscheinlich das Ende der Monarchie. Es gibt ja derzeit Stimmen, die sie in der aktuellen Krise zu passiv finden. Sie könnte zum Beispiel, ohne partei- oder tagespolitisch einzugreifen, ein redlicher Vermittler zwischen den Streitparteien sein. Im Königreich ist das aber nicht üblich.
Wenn man sich die Verhandlung am Obersten Gericht anschaut, fragt man sich: Wenn da drei Tage lang verhandelt wird, heißt das dann, dass das Gericht im Grunde schon beschlossen hat, dass die Entscheidung des Premierministers für die fünfwöchige Prorogation des Parlaments eindeutig nicht nur eine politische Frage ist - was ja die Regierung als Argument anführt?
Die Verhandlung ist an sich noch kein Indiz dafür, dass es sich für zuständig hält. Für eine Zurückweisung muss das Gericht erst mal die Argumente abwägen. Er muss eine Vorprüfung eingehen. Das hat ja auch der High Court in seiner Zurückweisung des Antrages auf Aufhebung der Prorogation ausführlich getan.
Das heißt, wir sind jetzt zugleich in einem Zustand der Vorprüfung und in der Verhandlung?
Genau. Die, die für die Aufhebung der Prorogation sind, wollen das Gericht eventuell schon in die ganze Fragestellung verwickeln, sodass es sich hinterher nicht mehr so leicht für unzuständig erklären kann ...
Wie ist denn die strukturelle Machtverteilung zwischen einem schottischen, einem nordirischen und einem Londoner Gericht? Bekanntlich hatte ja das höchste schottische Zivilgericht geurteilt, die Prorogation sei ungesetzlich.
Der schottische Gerichtshof hat die Prorogation zwar für "null and of no effect" erklärt, aber dann nicht gesagt, was jetzt zu tun ist.
Hätte er das getan, hätte dann die Prorogation aufgehoben werden müssen?
Im Grunde ja. Schottland hat aber keine Order gegeben und quasi auf Abwarten geschaltet, weil man dort wusste, dass der Fall aus London, wo es ja vorinstanzlich ein anderes Urteil gab, sowieso zum Supreme Court kommt.
Was sagt Ihr Bauchgefühl? Wird das Oberste Gericht die Klagen abweisen?
Ich bin der Meinung, das Ganze ist eine politische Frage. Fällt das Urteil anders aus, würde die Justiz unglaublich leiden, weil sie sich damit in politische Fragen einmischen würde.
Teilen Sie die Überzeugung, dass Großbritannien dringend eine schriftliche Verfassung braucht?
Das wäre eine herkulische Aufgabe, wie das Ausmisten eines Augiasstalls, man müsste Hunderte Jahre Verfassungsgeschichte aufräumen. Es gibt so viel an implizitem Wissen davon, was sich gehört und nicht gehört - das lässt sich schwer abstrakt und technokratisch formulieren. Natürlich hätte eine geschriebene Verfassung aber Vorteile, ich bin ein Freund einer guten Verfassung.
Sagen Sie damit, dass es bisher eigentlich mit diesem gewachsenem Chaos, diesem Gewohnheitsrecht, ganz gut gelaufen ist?
Großbritannien schaut sicherlich auf eine lange Geschichte außergewöhnlicher politischer Stabilität zurück, aber es gibt da kein klares Ja oder Nein. Das britische System ist nicht unter- oder überlegen. Außerdem gleichen sich die Rechtssysteme immer mehr an. Das betrifft nicht allein das EU-Recht, Industrien müssen sich vorhersehbar entwickeln können, Regeln und Standards werden immer ähnlicher. Ansonsten bin ich ein Freund des englischen Zugangs zur Demokratie. Hier hat sich eine Lebendigkeit erhalten, die Debatten sind spannend und zivilisiert. Hier passiert Geschichte, was im Kontext geschriebener Verfassungen bisweilen schwieriger ist.