Zuwanderung:Welcher Flüchtling passt zu mir?

Lesezeit: 3 Min.

Die SPD-Politikerin Gesine Schwan schlägt vor, die Verteilung von Asylsuchenden künftig nach Algorithmen statt nach Quote vorzunehmen. Eine reizvolle Idee.

Von Friederike Bauer

Einen menschlicheren Umgang mit Flüchtlingen fordert die Politikwissenschaftlerin und SPD-Politikerin Gesine Schwan in ihrem neuen Buch. Und liefert dazu auch konstruktive Vorschläge. Ausgangspunkt ihrer Überlegungen bildet das Versagen der Europäischen Union, zu einer gemeinsamen Flüchtlingspolitik zu kommen. Stattdessen lautet das Motto: Abschotten und Außengrenzen schließen. Wer doch kommt und um Asyl bittet, findet sich meist in einem der Aufnahmelager wieder und muss dort über Monate oder Jahre unter unhaltbaren Zuständen ausharren. Das Lager Moria auf der griechischen Insel Lesbos, das vor etwa einem Jahr in Flammen aufging, wurde zum Symbol für das Scheitern der Flüchtlingspolitik eines Europas, das sich damit gegen die eigenen Werte stellt.

Willkommen in Griechenland: Helfer im Lager Moria im Jahr 2018 versuchen, den Flüchtlingen ein wenig Freude in ihren tristen Alltag zu bringen. (Foto: Jakob Berr)

Das alles ist längst nicht nur von engagierten Nichtregierungsorganisationen oft beklagt und dokumentiert worden. Völlig zu Recht, aber dieserart Klage haftet auch immer eine Portion Resignation an. Umso erfreulicher ist es, dass Gesine Schwan es nicht dabei belässt. Sie unterbreitet zudem einen Vorschlag, der stark verkürzt dargestellt, auf eine Art Parship für Flüchtlinge hinausläuft: Ein Matching-System, digital unterstützt, zwischen aufnehmenden Kommunen und asylsuchenden Flüchtlingen, "das dazu dienen sollte, die Bedürfnisse der Kommunen mit denen der Flüchtlinge in Passung zu bringen".

Viele Kommunen wären bereit, mehr Menschen aufzunehmen

Heißt konkret, Asylsuchende würden nicht mehr zufällig und von oben auf Mitgliedstaaten und Gemeinden verteilt, sondern die beiden Gruppen fänden über Algorithmen zueinander. Denn sie sind es schließlich auch, die am Ende miteinander leben und auskommen (müssen). Kommunen hätten so den Vorteil, dass sie sich entweder aus humanitären oder wirtschaftlichen Gründen freiwillig zur Aufnahme von Flüchtlingen melden könnten. Die Asylsuchenden wiederum könnten ihre Präferenzen angeben - Stadt oder Land, Kindertagesstätte wichtig oder nicht, Arbeitsplätze in der eigenen Berufsgruppe vorhanden etc. - und landeten auf diese Weise nicht irgendwo, sondern an einem Ort, der möglichst ihren Bedürfnissen und Vorkenntnissen entspricht. Sie wären es am Ende auch, die idealerweise zwischen verschiedenen Angeboten wählen könnten.

Gesine Schwan: Europa versagt. Eine menschliche Flüchtlingspolitik ist möglich. S. Fischer Verlage, Frankfurt 2021. 144 Seiten, 16 Euro. E-Book: 14,99 Euro. (Foto: N/A)

Das bisherige Zwangssystem würde durch Anreize abgelöst. Es wäre, wie man auf Neudeutsch sagt, eine Win-Win-Situation. Zumal die Gemeinden weitere Vorteile davon hätten: Sie erhielten über einen noch zu gründenden "Europäischen Fonds für Integration und kommunale Entwicklung" pro aufgenommenem Flüchtling weitere Mittel, die sie in das Fortkommen ihrer Kommunen investieren könnten, in Schulen, Schwimmbäder, Spielplätze, Sporteinrichtungen, bessere Straßen und so weiter. Mehr als 500 Kommunen in Europa hätten sich inzwischen bereit erklärt, mehr Flüchtlinge aufzunehmen, schreibt Schwan. Mit den neuen finanziellen Anreizen und mit zunehmendem Bevölkerungsschwund würden sich bestimmt noch mehr finden.

Das Matching-System hätte aber auch Schwächen

Dass es auch bei dieser einfach klingenden Variante viele Herausforderungen zu meistern gilt, verschweigt Schwan nicht. Was geschieht zum Beispiel mit Flüchtlingen, die keinen Match erhalten oder aufgrund eines besonderen Schutzbedarfs nicht an einer solchen Aufnahmebörse teilnehmen können? Antwort: Diese müssen dann doch nach Quoten verteilt werden. Oder was wird aus den Lagern an der Südgrenze Europas? Antwort: Es braucht europäische Prüfzentren in allen Ländern. Solchen und anderen Fragen geht sie nicht aus dem Weg und liefert zum Teil sehr konkrete und nachvollziehbare Lösungen. Bis hin dazu, dass eine "Koalition von willigen Staaten die Sackgasse der gegenwärtigen Blockade in der Flüchtlingspolitik" verlässt und - ohne die anderen - ein solches Matching-System einführt.

Fragwürdig wird Schwans Buch dort, wo sie anfängt zu moralisieren. Und davon gibt es leider eine ganze Menge Stellen - vor allem am Anfang und Ende. Dort ergeht sie sich in schier endlosen Vorhaltungen über die EU-Flüchtlingspolitik und die unzureichende Haltung der Nationalstaaten bis hin zur Bundesregierung. Sie spricht von "praktizierter Scheinheiligkeit", von "zerstörerischem Selbstwiderspruch" und von "bornierten, eben nicht wohlverstandenen langfristigen Interessen". Und zuletzt widmet sie sich noch der europäischen Afrika-Politik, die den Eindruck erwecke, als habe diese nur ein Ziel: Flüchtlinge abzuschrecken und "Fluchtursachen zu bekämpfen". Stattdessen wirbt Schwan für eine neue Afrika-Strategie, plädiert dafür, die Vielfalt und Chancen dieses Kontinents mehr zu sehen und zu würdigen - ganz so, als sei das den Entwicklungspolitikern bisher entgangen. Dass es dazu seit Jahren intensive Überlegungen und umfangreiche Programme in Berlin wie Brüssel gibt, dass mittlerweile auch das EU-Parlament einer neuen EU-Afrika-Partnerschaft zugestimmt hat, davon kein Wort.

Stark ist Schwans Streitschrift immer dann, wenn sie wenig streitet. Wenn sie nicht anprangert, mahnt und predigt, sondern vorschlägt, erläutert und erklärt: Das Parship-Modell ist auf jeden Fall zukunftsgewandt und weiterer Überlegungen wert.

Friederike Bauer ist freie Journalistin und schreibt vor allem über Außen- und Entwicklungspolitik.

© SZ vom 20.09.2021 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: