Fakten sind manchmal durchaus hinderlich, wenn man als Politiker eine klare Botschaft senden will. Das gilt insbesondere für die Debatte um Flüchtlinge und Migranten. Kostproben gefällig? Es könne "nicht sein, dass bei einer Asylanerkennungsquote von nur ein bis zwei Prozent trotzdem fast alle in Deutschland bleiben", sagte Markus Söder während der Flüchtlingskrise 2015, damals noch bayerischer Finanzminister. Tatsächlich erhielten da fast 40 Prozent aller Asylbewerber Schutz in Deutschland zugesprochen - die "Asylberechtigten" nach Grundgesetz bilden nur einen Bruchteil davon. Dubiose Behauptungen gibt es aber auch im linken Spektrum. "Arbeitsmigration bedeutet zunehmende Konkurrenz um Jobs, gerade im Niedriglohnsektor", sagte Linken-Fraktionschefin Sahra Wagenknecht Anfang des Jahres dem Focus. Es ist das altbekannte Argument "Ausländer nehmen uns die Arbeitsplätze weg" in sprachlich neuem Kleid. Einer wissenschaftlichen Überprüfung hält es nicht stand.
"Da gibt es viele Halbwahrheiten, aber auch viele vernünftige Politiker", sagt Thomas K. Bauer. Der Professor für Volkswirtschaft ist Vorsitzender des Sachverständigenrates deutscher Stiftungen für Integration und Migration (SVR). Das Expertengremium hatte sich 2008 formiert, um in diesen Bereich voller gefühlter Wahrheiten mehr Sachlichkeit, mehr wissenschaftliche Substanz einzubringen, als Politikberater und in der öffentlichen Debatte. Als Bilanz lässt sich feststellen: Der Sachverständigenrat wird ernst genommen, "er ist zu einem herausragenden Akteur in der Migrationspolitik geworden", sagte Annette Widmann-Mauz (CDU) am Mittwochabend, als der SVR in Berlin sein zehnjähriges Bestehen feierte. Die Integrationsbeauftragte der Bundesregierung betonte den "unschätzbaren Wert" des SVR, der "hitzige Debatten über Migration mit Fakten" versachliche. Doch nicht immer kommen Fakten gegen Emotionen an: Die Arbeitslosigkeit unter Migranten sinkt, die Zahl der Schulabschlüsse steigt. "Wir haben gute Daten", dennoch sei das gesellschaftliche Klima schwierig, sagte Nordrhein-Westfalens Ministerpräsident Armin Laschet (CDU). Trotzdem: "Der SVR ist mindestens so wichtig wie die Wirtschaftsweisen." Die Experten sind regelmäßig zu Gesprächen im Innenministerium und im Arbeitsministerium, aber auch im Bundestag. Zum Beispiel lud die SPD-Bundestagsfraktion sie ein, als sie ihren Entwurf für ein Einwanderungsgesetz erarbeitete. "Die haben eine nüchterne Analyse vorgelegt", erinnert sich Karamba Diaby, Integrationsbeauftragter der SPD-Fraktion.
Auf solche Analysen haben Politiker lange keinen Wert gelegt. Der Gründungsvorsitzende des SVR, der Historiker Klaus J. Bade, hatte sich schon in der Ära Helmut Kohls für eine aktive Integrationspolitik eingesetzt - und beklagte die "Beratungsresistenz der Regierungen". Er wollte, dass die Politik Deutschland als Einwanderungsland anerkennt, was lange nicht geschah. Als SVR-Vorsitzender warb Bade dafür, mehr Fachkräfte ins Land zu holen - mit Erfolg. Das wirft die Frage auf, wie wirtschaftsnah das Gremium ist, denn der SVR wird von großen Konzernstiftungen wie der Volkswagen-, der Bertelsmann- und der Vodafone-Stiftung finanziert. Und Wirtschaftsverbände verlangen seit Langem nach mehr Fachkräften aus dem Ausland. "Natürlich gibt es mit Stiftungsvertretern Gespräche", sagt Bauer. "Mit was wir uns beschäftigen, entscheiden wir aber selbst - Stiftungen beeinflussen weder Themenwahl noch Empfehlungen."
Größer ist da der Einfluss des Migrationsgeschehens. Als der SVR gegründet wurde, war Asyl kaum ein Thema, im Jahr 2008 wurden gerade einmal gut 22 000 neue Asylanträge in Deutschland gestellt - so viele Menschen kamen 2015 an einem Wochenende über die Grenze. Wenige Jahre später, 2011, wurde die Bundesrepublik zum Auswanderungsland erklärt, weil mehr Menschen gingen als zuwanderten. Bades Verlangen, das Land müsse sich endlich mehr öffnen, passte in die Zeit.
Inzwischen, unter neuer Führung und bei hohen Migrantenzahlen, kritisiert der SVR manchen Vorstoß für eine weitere Öffnung. Bauer sagt zu den Plänen für ein Einwanderungsgesetz: "Sehr viel liberaler als jetzt geht es kaum - bloß weiß kaum einer davon." Auch von dem viel gelobten Punktesystem Kanadas hält der SVR wenig. Skeptisch ist Bauer zudem beim sogenannten Spurwechsel, bei dem Asylbewerber als Arbeitsmigranten bleiben sollen. Es gebe Dinge, die immer wieder falsch verstanden würden, sagt Bauer. Dazu zählt auch Wagenknechts Aussage zur Konkurrenz um Arbeitsplätze. Bei Bauer klingt das so: Wenn Zuwanderer ins Land kämen, so habe dies für Arbeitsplätze und Lohn der Einheimischen "keine nennenswerten Effekte".