Süddeutsche Zeitung

Zuwanderung als Wahlkampfthema:AfD-Chef warnt vor "sozialem Bodensatz"

Bernd Lucke sieht sich nicht als Populist. Doch der Vorsitzende der Anti-Euro-Partei AfD punktet im Wahlkampf mit Ressentiments: Bestimmte Leute solle man aus Verantwortungsgefühl nicht ins Land lassen.

Von Jens Schneider, Frankfurt am Main

Jetzt hat Bernd Lucke schon wieder so lange geredet. Viel länger, so bekennt er, als er es wollte. Der Wirtschaftsprofessor lächelt ins volle "Congressforum" von Frankenthal hinunter, als ob ihm das leidtäte. Das muss es aber nicht. Jeder kann sehen, dass der Sprecher der eurokritischen Alternative für Deutschland (AfD) das weiß. Auch er bemerkt die Stille, mit der die 500 Zuhörer, es sind vor allem Männer, in der kleinen Stadt in der Pfalz seinen ausgedehnten Vortrag anhören; und den Lärm, den sie mit ihrem Applaus machen, wenn er mal eine Pause lässt.

"Ich erwarte einen Jubelsturm", so hatte der Landesvorsitzende ihn angekündigt. Die Leute dürften gern mit den Füßen trampeln, aufstehen, jubilieren. "Wir begrüßen zusammen das Gesicht unserer Partei, Herrn Professor Bernd Lucke." Nun trampelten manche, viele standen auf, fast alle jubelten. Eine aparte Pianistin spielte am Flügel Beethovens Rondo "Wut über den verlorenen Groschen".

Der Landes-Chef kehrte zurück und rief: "Noch drei Minuten bis Lucke!" - drei Minuten, die er brauchte, um vom Gründer dieser Partei zu schwärmen, die zehn Tage vor der Bundestagswahl die Unbekannte im Rennen ist. In Umfragen liegt sie um drei Prozent. Aber manche Demoskopen denken, die im Februar gegründete Partei, die in wenigen Monaten nach eigenen Angaben 16.000 Mitglieder anzog, könnte stärker sein. In Berlin sind manche arg nervös.

"Ich bin ein ganz normaler Mensch", begann Lucke nun seine Rede, die er ganz frei hielt, in die Parteigründung sei er so hineingeschlittert. Eine gute Stunde lang referierte er, sachlich, in der immer gleichen, gemäßigten Tonlage über "verbrauchte Altparteien", über die Euro-Rettung, darüber, dass es bald einen Schuldenschnitt für Griechenland geben werde, den nur Finanzminister Schäuble und die Kanzlerin nicht sehen wollten.

Nach zwei Stunden Wirtschaft geht es um Einwanderer

Er rechnete unvorstellbar große Zahlen vor, türmte gedanklich 50-Euro-Scheine bis hinauf zum Mount Everest übereinander, und noch höher. Und bekannte nach einer guten Stunde, dass er wieder länger geredet hatte, aber noch einige wichtige Punkte hätte jenseits des Euro, an die sich die Altparteien nicht trauten. Fast zwei Stunden dauert der Abend schon, als Lucke sein Fachgebiet, die Wirtschaft, verlässt.

Sein Vortrag klingt nun tastender. Es geht um Einwanderer. Im Grundsatz sei die Idee nicht so schlecht, das Land für Zuwanderung zu öffnen, wenn Deutschland Nachwuchs fehle. Er macht eine Pause. "Sie wissen, alle, dass Zuwanderung ein heikles Thema ist." Man müsse aufpassen, nicht als fremdenfeindlich zu gelten.

Lucke erklärt, dass es Menschen gebe, die ins Land kämen, ohne Deutsch zu können, überhaupt ohne Bildung. Sie kämen voller Hoffnung und Naivität. Doch wegen ihrer schlechten Voraussetzungen könnten diese Menschen gar nicht zurechtkommen. Für sie bliebe nur ein Leben in Hartz IV. "Dann bilden sie eine Art sozialen Bodensatz - einen Bodensatz, der lebenslang in unseren Sozialsystemen verharrt." Ein dauerhaftes Leben in Hartz IV aber wäre nicht menschenwürdig. Man solle sie aus Verantwortungsgefühl auch für sie nicht ins Land lassen. Um sie zu schützen.

Er bekommt jetzt heftig Applaus. Das ist jeden Abend so. Das Thema Zuwanderung komme sehr, sehr gut an, hat Lucke vorher in einem Gespräch berichtet. In Frankenthal stockt einigen Schülern in der zweiten Reihe der Atem. Sie sind mit ihrem Leistungskurs gekommen. Ein Mädchen ruft ihrem Lehrer zu, dass sie gehen wolle.

Bodensatz. Welche Menschen meint er? "Ich habe keine bestimmte Gruppe im Sinn", sagt er hinterher. "Ausländische Langzeitarbeitslose, die aus der Abhängigkeit nicht herauskommen." Aber dieses Wort? Er fragt zurück. Was daran störend sei? Technisch gesehen sei Bodensatz "das, was sich nach unten absetzt und nicht wieder hochkommt." Klingt das nicht nach Müll, den man nicht brauche? Nein, das habe er gar nicht im Sinn. Lucke ist irritiert. Er werde, sagt er, darüber nachdenken.

Technisch gesehen. Vielleicht ist der Ausdruck ein Schlüssel, Lucke und seinen Aufstieg besser zu verstehen. Das einstmals langjährige CDU-Mitglied sieht sich nicht als Populist, schon gar nicht als Rechter. "Ich achte sehr darauf, keinen Beifall von der falschen Seite zu bekommen", sagt er. Schon der ständige Verdacht sei eine Rufschädigung. Zum Euro, zur Energiewende, zur Zuwanderung rechnet er vor, was zwingend richtig sein soll. Und trifft auf die Zustimmung von Anhängern, die schon lange argwöhnen, dass vieles nicht mehr mit rechten Dingen zugeht.

Keiner aus der zweiten Reihe bringt so viel Aufmerksamkeit

Erst als Lucke zu ihnen spricht, klingt er spurenweise emotional. Er lobt die Lebenskompetenz der Parteimitglieder, die mitten im Leben stünden, anders "als viele Abgeordnete im Deutschen Bundestag", die nie einen richtigen Beruf ausgeübt hätten. Es sind die Leute, die er braucht. Lucke ist das Gesicht der AfD. Keiner aus der zweiten Reihe bringt so viel Aufmerksamkeit.

Aber er stützt sich auf eine Basis von 16.000 Mitgliedern, die im Gefühl, endlich eine politische Mission zu haben, mit großem Eifer Spenden sammelt und Plakate klebt. Viele Kleinspenden erreichten die Partei, heißt es. Auf eigene Initiative drucken Landesverbände T-Shirts und Plakate. Es gibt Videos, wie eine freche Parodie mit den Puppen "Lucky" und "Kanzlette" und arg ungelenke Produkte wie den AfD-Song, eine Art Kleinbürger-Rap. In Frankenthal muss Lucke zum Abschluss dazu schunkeln, nicht seine Paradedisziplin.

"Der Wahlkampf ist überall Kraut und Rüben", sagt er. "Aber das ist alles wunderbar." Herrlich sei das, die Partei eine Graswurzelbewegung und überall zu sehen. "Das Land ist blau." Was die Plakatdichte angeht, dürfte das vor allem im Südwesten gelten, und es ist kein Wunder, dass Demoskopen sich fragen, wo das hinführt. Bei der Landtagswahl in Bayern sind sie am Wochenende nicht dabei.

Lucke hat den Landesverband im Frühjahr davon abgehalten. Aber für Berlin schließt er auch das Regieren nicht aus. Die politische Farbenlehre soll eine neue Option bekommen, die Bahamas - also Schwarz und Gelb und das Blau der AfD. "Wir sind bereit, grundsätzlich mit jeder demokratischen Partei zusammenzuarbeiten, wenn die sich grundlegend von der Euro-Rettungspolitik abwendet" sagt er. CDU und FDP lehnten sofort ab.

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SZ vom 13.09.2013/schä
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