Süddeutsche Zeitung

Zur Behandlung in Berlin:Operation Charité

Aus einem ukrainischen Gefängnis in ein deutsches Krankenhaus: Schon bald könnte Julia Timoschenko, ehemalige Ministerpräsidentin der Ukraine, in Berlin wegen eines Bandscheibenvorfalls behandelt werden. Die Bundesregierung erhöht den Druck.

Daniel Brössler

Der Vize-Generalstaatsanwalt der Ukraine sitzt im Hinterzimmer eines Berliner Hotels. Er wolle, sagt Renat Kusmin angriffslustig, jetzt mal über die Fakten reden. "Es gibt in etwa zehn Fällen schwere Vorwürfe gegen Julia Timoschenko", legt er los. Dann referiert er, was die frühere ukrainische Ministerpräsidentin verbrochen haben soll. Es reicht von Steuerhinterziehung, Geldwäsche und Untreue über Amtsmissbrauch bis zu Diebstahl und der Verstrickung in den Mord an einem Abgeordneten.

"Im Westen", empört sich Kusmin, "wird die Ukraine dämonisiert und Timoschenko idealisiert." Um diese Botschaft zu verbreiten, ist der Jurist eigens nach Deutschland gekommen. So paradox es klingt: Für Timoschenko könnte das ein Zeichen der Hoffnung sein. Wenn es gut läuft, wird sie bald verlegt vom Frauengefängnis Nummer 54 bei Charkow in ein Krankenzimmer der Berliner Charité.

Kusmins Reise fällt wohl nicht zufällig zusammen mit intensiven Bemühungen der Bundesregierung, das Schicksal Timoschenkos zu erleichtern. Schon beim EU-Ukraine-Gipfel im Dezember hatte Kanzlerin Angela Merkel Präsident Viktor Janukowitsch klargemacht, dass er eine Annäherung an die Union vergessen könne, solange Timoschenko in Haft sitzt.

Während der orangenen Revolution 2004 war Janukowitsch als Wahlfälscher entlarvt worden, Timoschenko kam an die Macht. Nun, da Janukowitsch Präsident ist, muss Timoschenko eine siebenjährige Haftstrafe wegen eines angeblich illegalen Gasdeals mit Russland verbüßen. Im Westen gilt die 51-Jährige als Opfer von Rachejustiz.

Eine humanitäre Geste, kein Eingeständnis

Zwei Umstände könnten Timoschenko, die über große Rückenschmerzen klagt, nun helfen: Janukowitschs Wunsch, es sich nicht mit der EU zu verderben - und die Fußball-Europameisterschaft im Juni. Was die Beziehungen zur EU angeht, so ist am Freitag in Brüssel ein mühsam ausgehandeltes Assoziierungsabkommen paraphiert worden. Eine Unterzeichnung kommt für die Bundesregierung aber erst in Frage, wenn der Fall Timoschenko gelöst ist. Aus Berlin ist Janukowitsch überdies davor gewarnt worden, dass eine Diskussion über politische Gefangene die Stimmung während der Fußball-EM trüben würde.

Der Kanzlerin ist bewusst, dass Janukowitsch seine Rivalin nicht einfach auf freien Fuß setzen kann, nachdem er stets behauptet hatte, die Angelegenheit sei ausschließlich Sache der Justiz. In Verhandlungen mit dem Leiter der ukrainischen Präsidialadministration, Sergej Lewotschkin, sucht Merkels außenpolitischer Berater Christoph Heusgen daher nach einer gesichtswahrenden Lösung. Auf sein Betreiben hin konnten der Charité-Chef Karl Max Einhäupl und der Orthopäde Norbert Haas Timoschenko im Februar mit drei kanadischen Kollegen zwei Stunden lang untersuchen. Sie diagnostizierten einen Bandscheibenvorfall, der in einem Gefängnis keinesfalls behandelt werden könne - und boten eine komplexe Therapie in der Charité an.

Das wäre eine humanitäre Geste, kein Eingeständnis. Nach der Devise: Über Timoschenkos Schandtaten reden - und sie doch freilassen. "Die Strafprozessordnung der Ukraine sieht eine Behandlung im Ausland nicht vor", sagt Kusmin. Das stimmt. Aus Kiew hat Heusgen aber die Zusicherung erhalten, Janukowitsch wolle den Generalstaatsanwalt mit der Ausarbeitung eines Gesetzes beauftragen, das Auslandsbehandlungen von Häftlingen erlaubt. Bis zum Beginn der Europameisterschaft freilich bleibt nicht viel Zeit.

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SZ vom 31.03.2012/liv
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