Wer ihn besuchte, dem fiel sofort ein riesiger Blumenstrauß auf mitten in seiner Wohnung in der Ruppinstraße in Tel Aviv. Und gleich daneben, an das Buchregal gelehnt, ein Porträtfoto seiner 2011 verstorbenen Frau Rachel. Dass er ihr in den 58 Jahren des gemeinsamen Lebens zu selten Blumen geschenkt hat, das hat er bedauert. "Sonst eigentlich nichts", sagte Avnery mit seinem unverwechselbaren Lachen, das mehr einem Kichern glich.
Uri Avnery hat wenig ausgelassen in seinem Leben, hat die Grenzen überschritten vom Beobachter zum Aktivisten, vom Journalisten zum Politiker. Er war zehn Jahre alt und hieß Helmut Ostermann, als seine Eltern 1933 mit ihm aus Hannover nach Palästina flohen. Als 15-Jähriger schloss er sich der Untergrundorganisation Irgun an, die hinter dem Anschlag auf die britische Mandatsmacht im Jerusalemer King-David-Hotel steckte, und nahm mit 19 den Namen Uri Avnery an.
Avnery sei von "ziemlich weit rechts nach ziemlich weit links" gewandert
Im Krieg, dem die Staatsgründung Israels 1948 folgte, kämpfte er in der Armee, er wurde schwer verwundet. Sein Kriegstagebuch "In den Feldern der Philister" wurde sein erster Bestseller und Avnery vollzog das, was er lachend "Wandlung vom Saulus zum Paulus" nannte.
Der überzeugte Zionist, der für einen eigenen Staat auch Attentate für gerechtfertigt hielt, wurde zum Advokaten einer Zweistaatenlösung mit Jerusalem als gemeinsamer Hauptstadt. Er sei von "ziemlich weit rechts nach ziemlich weit links" gewandert, beschrieb er seinen Wandlungsprozess. Mehr als 40 Jahre lang war er der Chefredakteur des legendären liberalen Wochenmagazins HaOlam HaZeh mit dem Slogan "Ohne Angst, ohne Vorurteil".
Avnery war ein Wanderer zwischen den Welten. Zwischen 1965 und 1981 saß er drei Legislaturperioden in der Knesset als Abgeordneter kleiner, nicht mehr existierender linker Parteien. Seine Website ziert ein Foto, das ihn im Gespräch mit Jassir Arafat zeigt. Im Juli 1982 überquerte er mitten im Libanonkrieg die Front und traf sich als erster Israeli mit Arafat in Beirut. Schon 1974 hatte er erste, geheime Kontakte zur PLO-Führung.
Für viele Israelis war er ein Verräter und Feind Israels
Sein Vertrauen in Arafat, der für viele Israelis vor allem ein Terrorist und kein Friedensaktivist gewesen ist, wurde ihm oft vorgeworfen. Seine Antwort: "Es ist nur eine Frage der Perspektive, ob man jemanden als Freiheitskämpfer oder als Terrorist sieht." Während der zweiten Intifada 2003 stellte sich im Präsidentenpalast in Ramallah der Israeli Avnery für den Palästinenser Arafat als menschliches Schutzschild zur Verfügung, um ihn vor israelischen Angriffen zu schützen. Er selbst wurde mehrfach bei tätlichen Angriffen auf ihn verletzt, für viele Israelis war er ein Verräter und Feind Israels. Er selbst bezeichnete es als antisemitisch, darauf zu bestehen, dass Israel in Deutschland nicht kritisiert werden darf.
Israelischer Autor Uri Avnery zu Grass-Gedicht:"Kritik-Verbot an Israel ist antisemitisch"
Der israelische Autor Uri Avnery nimmt Günter Grass in Schutz: Es sei antisemitisch darauf zu bestehen, dass Israel in Deutschland nicht kritisiert werden dürfe. Das Einreiseverbot für Grass in Israel empört derweil viele deutsche Politiker - dennoch will die SPD künftig auf seine Hilfe im Wahlkampf verzichten.
Avnery bezog seine vielen Perspektivwechsel ein in sein Wirken als Publizist und Aktivist. Anfang der neunziger Jahre gründete er die Friedensinitiative Gush Schalom (Friedensblock), weil der damalige Ministerpräsident Jitzhak Rabin seiner Ansicht nach zu wenig Anstrengungen für eine Friedenslösung mit den Palästinensern unternahm. Wie so oft bei Ereignissen, die sich später als historisch herausgestellt haben, war er dabei, als Rabin 1995 ermordet wurde.
Er war auch 1961 in all den Wochen beim Prozess gegen den ehemaligen SS-Obersturmbannführer Adolf Eichmann in Jerusalem als Beobachter anwesend wie Hannah Arendt. "Es war kein Eichmann-Prozess, es war ein Holocaust-Prozess. Israel hat das inszeniert, um das Publikum in Israel aufzuklären, was Staat für Staat, Land für Land passiert ist."
Avnery war auch mit 94 Jahren noch bis ins Detail über politische Vorgänge informiert
Die Stimmung im Lande habe sich verschoben: "Das gilt bis heute: Der Holocaust ist der Kern des israelischen Bewusstseins und hat Einfluss auf das, was Israel tut. Mich hat immer interessiert, wie ist Hitler an die Macht gekommen. Kann es überall passieren? Auch bei uns in Israel? Wenn die Umstände ähnlich sind, kann es überall passieren."
Avnery, und das ist sehr typisch für ihn, konnte Brücken von der Vergangenheit zur Gegenwart schlagen. Er war selbst mit 94 Jahren noch bis ins kleinste Detail über alle politischen Vorgänge informiert. Über die jüngsten Entscheidungen der neuen italienischen Regierung wusste er genauso Bescheid wie über Donald Trump. Dass es in Israel fast keine Kritik am Umzug der US-Botschaft nach Jerusalem gab, erklärte er so: "Es war eine emotionale Begeisterung wie beim Einmarsch der Deutschen ins Sudentenland während des Dritten Reichs. Das ist auch ein Ergebnis der Gehirnwäsche in Israel."
Je älter er wurde, desto mehr Fragen stellte er sich und seinen Besuchern, die zu ihm in die Wohnung im siebten Stock kamen, von der man nicht nur einen wunderbaren Blick aufs Meer und über einen weiten Horizont hatte. "Wie hat das US-Volk, ein paar Millionen normale Menschen, so einen Mann zulassen können? Warum haben wir hier seit mehr als neun Jahren diesen Ministerpräsidenten? All das sind Fragen, die man stellen und beantworten muss und aus denen man lernen kann."
Israel sah er als Vorreiter dessen, was in Europa passiert. "Wie kann ein normales Volk plötzlich eine ultranationalistische Einstellung bekommen? Dass man damit Menschen an die Macht bringt, die eine Gefahr für die Demokratie sind, die sich abschafft. Diese Fremdenfeindschaft erinnert ja auch an das Dritte Reich."
Avnery liebte es, Worte zu sezieren
Das Mitte Juli in der Knesset beschlossene Nationalstaatsgesetz, das nur Juden ein Selbstbestimmungsrecht in Israel zubilligt, hat ihn umgetrieben. "Das ist jüdischer Separatismus. Der Staat muss hundert Prozent jüdisch bleiben. Man will die Araber rausekeln, auch wenn mehr als eine Million hier leben. Alles sollte jüdisiert werden." Kritik an diesem Gesetz war auch das Thema seiner letzten Kolumne, die am 7. August in der liberalen Tageszeitung Haaretz erschien. Kurz darauf fiel er nach einem Schlaganfall ins Koma.
Scherzend hatte er in den vergangenen Monaten immer wieder gemeint: "Wenn ich meine Kolumne nicht schicke und nichts erscheint, dann bin ich tot." Er erzählte, dass Deutsch zwar seine Muttersprache ist, für ihn aber im Laufe der Jahre zur Fremdsprache wurde. "Ich denke aber in drei Sprachen, manchmal in einem Satz. Es fängt Hebräisch an, geht Englisch weiter und endet Deutsch."
Er liebte es, Worte zu sezieren. Nachdem er den Nachnamen des österreichischen FPÖ-Chefs und Vizekanzlers Heinz-Christian Strache mehrmals laut ausgesprochen hatte, meinte er: "Strache? Da steckt das Wort Rache drinnen. Das passt!"
Im Juni beantwortete er gestellte Fragen noch messerscharf
Beim letzten Gespräch im Juni saß Avnery in seinem Ohrensessel, es war mehr ein Kauern, sein Kopf war auf eine Körperseite gezogen. Zwar machte er immer wieder Pausen, aber seine Antworten auf die gestellten Fragen waren messerscharf. Was aus seiner Vision einer Zweistaatenlösung geworden sei? "Wir haben eine ekelhafte Regierung, die gar nicht daran denkt, Frieden zu schließen. Ein palästinensischer Staat neben unserem Territorium ist für Benjamin Netanjahu total undenkbar. Frieden ist nicht erwünscht. Die Linke ist nur eine kleine Minderheit."
Aber für all das habe er gekämpft. Ob er nach diesem Fazit nicht deprimiert sei? "Ich bin von Natur aus Optimist. Schon mein Vater und mein Großvater waren Optimisten. Nichts muss passieren, aber es wird etwas passieren." Avnery zeigt auf die zwei weiteren großen Fotos, die neben dem Bild seiner Frau am Bücherregal lehnen. Eines zeigt den berühmten Handschlag von Arafat und Rabin nach den Osloer Verträgen 1993, als ein Frieden zwischen Palästinensern und Israelis so nahe schien, US-Präsident Bill Clinton breitet im Hintergrund schützend die Arme um die beiden aus. "Das hat damals auch niemand für möglich gehalten. Es dauert nur etwas länger."
Das zweite Foto ist erst vor kurzem in der Jerusalemer Altstadt entstanden. Es zeigt Uri Avnery selbst, mit einer arabischen Kopfbedeckung, wie er an einer Wasserpfeife zieht. "Immer, wenn ich das Bild am Morgen anschaue, dann muss ich einfach lachen. Sonst gibt es im Moment tatsächlich wenig Grund dazu, aber das stimmt mich fröhlich. Und so kann ich optimistisch bleiben, trotzdem."