Süddeutsche Zeitung

Zum Tod von Rainer Barzel:Der Mann, der fast Bundeskanzler war

Lesezeit: 7 min

Eine Karriere, in gewissem Sinne unvollendet: Der frühere CDU-Vorsitzende verkörperte die späte Gründerzeit der Bundesrepublik. Allmählich wandelte er sich und blieb sich dennoch treu.

Heribert Prantl

Vor Monaten, nach einem Gespräch über die CDU, Gott und die Welt: Er drückt einem zum Abschied die Hand und hält sie ganz lang fest, viel länger, als es eigentlich schicklich ist. Er hält nicht nur die Hand fest, sondern schier den ganzen Menschen; es ist, als wolle er sein Gegenüber bewahren vor dem nichtigen Gehetze da draußen. Ein friedliches, altersgütiges Gesicht schaut einen dabei an, verschmitzte Augen eingerahmt von einem grau-weißen Bart, der die Vergangenheit dieses Mannes zugewachsen hat. Kaum etwas ist übrig geblieben von dem Gesicht, das einmal, vor vierzig Jahren, von den Journalisten als "glatt" und "ölig" beschrieben worden ist.

Nichts mehr erinnert an den Mann, dem Herbert Wehner einst im Bundestag höhnisch "Ölprinz" zugerufen hat. Rainer Candidus Barzel, einst jüngster Minister im Kabinett Adenauer, einst Partei- und Fraktionschef der CDU, ist in den Jahrzehnten seitdem ein anderer geworden - einer, den man sich auch ganz gut in einer Franziskanerkutte vorstellen könnte. Rainer Barzel hätte, wie Sean Connery in Umberto Eccos "Der Name der Rose", den alten William von Baskerville spielen können, um noch ein letztes Mal die Reinheit der Lehre zu verteidigen.

Fast wie ein Gardeleutnant

Und dann sagte dieser alte Mann einen Satz, der gut zu dieser Rolle, aber nicht zu einem Politiker passt. Er sagte laut und unbefangen: "Gott schütze Sie!" Das klang gar nicht geheuchelt, gar nicht altersbigott, es klang eigentümlich selbstverständlich bei ihm - bei einem Mann, der früher im Bundestag für seine Redeattacken berühmt war, bei einem, der kräftig und mit allen Waffen austeilen konnte, bei einem, der in den sechziger und siebziger Jahren der aufgewühlten Protest-Generation sich so schneidig wie ein Gardeleutnant entgegengestellte, und der als Oppositionschef im Bundestag zu den Ostverträgen Willy Brandts die berühmten Formeln "So nicht" und "Ja, aber" erfunden hat.

"Gott schütze Sie!" So sprach ein Mann, bei dem bis zum 49. Lebensjahr gar nichts auf ein tragisches Schicksal hingedeutet hatte, außer vielleicht der ungewöhnliche zweite Vorname: Rainer Candidus Barzel. Schon sein Vater, Oberstudienrat im Ermland in Ostpreußen, trug diesen lateinischen Namen, der so viel wie "der Glänzende" bedeutet. Der Name geht zurück auf einen frühchristlichen Märtyrer, den die katholische Kirche als Heiligen verehrt: Der römische Offizier Candidus hatte sich den angeordneten Christenverfolgungen widersetzt und wurde daher hingerichtet.

Was wäre gewesen, wenn ...? Für einen Schriftsteller ist eine solche Frage eine prickelnde Fiktion, ein Stoff für Romane: Was wäre gewesen, wenn Hitler den Krieg gewonnen, wenn Napoleon die Schlacht bei Waterloo nicht verloren, wenn der Sozialismus in Deutschland gesiegt hätte, wenn Rosa Luxemburg nicht ermordet worden wäre? Was wäre gewesen, wenn? Für manche Menschen ist diese Frage aber keine historische Spielerei, sondern der Stoff ihres Lebens - und für sie öffnet diese Frage eine verschüttete Wirklichkeit. Was wäre gewesen, wenn? Diese Frage zerschneidet das Leben des Rainer Candidus Barzel.

Was wäre gewesen, wenn am 27. April 1972 im Bundestag alles so gelaufen wäre, wie es eigentlich hätte laufen müssen? Wenn ihm beim Misstrauensvotum gegen Willy Brandt nicht, gegen alle Erwartungen und abweichend von den klaren Mehrheitsverhältnissen, zwei CDU/CSU Stimmen gefehlt hätten? Wenn nicht die Stasi den CDU-Abgeordneten Julius Steiner mit 50 000 Mark bestochen hätte - und die Abstimmung nicht mit 247 : 247 Stimmen ausgegangen wäre? Der zweite Abweichler ist bis heute unbekannt. Dann wäre er, Rainer Candidus Barzel, nach einer schon bis dahin glanzvollen Karriere, in seinem 49. Lebensjahr Bundeskanzler geworden. Dann wäre die Ära Brandt noch früher zu Ende gewesen, dann hätte es eine Ära Helmut Schmidt nie gegeben; dann wäre womöglich auch Barzels früher Rivale Helmut Kohl niemals Kanzler geworden.

Aber an diesem einen Tag, am 27. April 1972 um 13 Uhr 18, legte das Schicksal die Weiche um: Fassungslos den Kopf schüttelnd, nach eigener Aussage wie "vom Blitz getroffen", saß er in der ersten Reihe der CDU/CSU-Fraktion im Deutschen Bundestag - ein Geschlagener, der sich zu früh seines Sieges sicher gewesen war. Ohne den Stimmenkauf und "ohne diesen Landesverrat hätte die deutsche Geschichte einen anderen Verlauf genommen", sagt er. Und seine persönliche, so fügt er dann hinzu, ganz sicher auch.

Der schier unaufhaltsame Aufstieg des Mannes, der das politische Wunderkind der Adenauer-Zeit gewesen war, ging mit diesem 27. April 1972 zu Ende. Mit 23 Jahren hatte er sein erstes Buch geschrieben ("Die geistigen Grundlagen der Parteien") , mit 33 Jahren wurde er, das war 1957, für den Wahlkreis Paderborn in den Bundestag gewählt, mit 38 wurde er Minister für Gesamtdeutsche Fragen und Benjamin im 5. Kabinett Adenauer, mit 40 CDU/CSU-Fraktionschef.

Er war unglaublich ehrgeizig, einfallsreich und wendig, ein hochbegabter Mehrzweckredner im Parlament, die Schaltstelle der Politik im Kabinett des Bundeskanzlers Ludwig Erhard; zusammen mit Helmut Schmidt von der SPD war er der Manager der Großen Koalition des Kanzlers Kurt Georg Kiesinger. Als er die Union in die Opposition führen musste, bewahrte er sie davor, noch tiefer ins Loch zu fallen.

Als das Glück fortging

Rainer Barzel war die Personifikation der Bonner Politik der sechziger und frühen siebziger Jahre, er war damals die junge, aber gleichwohl unzeitgemäße Verkörperung der späten, der auslaufenden Gründerzeit der Bundesrepublik.

Wäre er noch einmal vierzig - er passte viel besser ins Heute als ins Damals, er wäre der Repräsentant der neuen Sehnsucht nach den alten Werten, der Sehnsucht, wie sie etwa 2005 der Bundesverfassungsrichter Udo di Fabio in seinem Buch "Die Kultur der Freiheit" programmatisch formuliert hat. Barzels Karriere entwickelte sich seinerzeit so rasant wie später die seines Nachfolgers Helmut Kohl - der dann all das geworden ist, was Barzel sich erträumt und erhofft hatte.

Mit dem 27. April 1972 endete, beruflich und privat, für lange Zeit die Fortune Barzels; und es begann die Fortune des Helmut Kohl. Rainer Barzel aber blieb der Mann, der schon fast Bundeskanzler war - und der, in den Stunden der Melancholie, die mit der Distanz zur Politik immer seltener wurden, den Brief auspackte, den ihm Adenauer 1966 geschrieben hatte (und von dem, sehr viel später, der ehemalige sowjetische Deutschlandspezialist Nikolai Portugalow, damals außenpolitischer Berater des Zentralkomitees der KPDSU behauptete, er sei eine Fälschung des KGB gewesen): "Ich würde es sehr begrüßen, wenn sie Bundeskanzler würden."

Rainer Barzel hat verkraftet, dass er es nicht geworden ist. Keine Spur von Verbitterung sah man mehr in seinem Gesicht. Er hat es geschafft, gelassen zu werden - eine Gabe, die kurz vor Ende seiner aktiven Zeit als Politiker als Bundestagspräsident schon aufgeblitzt war. Damals musste er mit den Eskapaden der Grünen umgehen, glaubte aber an deren demokratische Läuterung und begann sein Lehrprogramm für die grünen Neulinge so: Als die nach Sitzungsbeginn einfach stehen blieben, meinte er: Der Bundestag pflege zwar im Sitzen zu beraten, wenn das Hohe Haus der Rede des Kanzlers Kohl aber stehend "Reverenz erweisen" wolle, habe "der Präsident nichts dagegen". Die Grünen nahmen Platz.

Diese heitere Gelassenheit ist Rainer Candidus Barzel in seinen letzten Jahren zur zweiten Natur geworden. Er hat dem politischen Betrieb zugeschaut, ohne nachzutreten. Er hat es verkraftet, dass nicht er, sondern Kohl Geschichte geschrieben hat - und er nur die Fußnoten dazu. Er hat den Zorn über den "Rufmord", den Helmut Kohl im Zusammenhang mit dem Flick-Skandal an ihm begangen habe, gezügelt und geläutert. Er hat Bücher geschrieben, Erinnerungen an seine Zeit, Reflexionen über Deutschland. Ab und an hat er noch ein Interview gegeben, in einem SZ-Gespräch im Jahr 2001 hat er seine Partei gemahnt, das Soziale und das Christliche nicht zu vergessen; er hat das, solange er noch konnte, immer und immer wieder gesagt. "Nehmen wir die Genproblematik. Sie verlangt eine Antwort, die von der Menschenwürde, wie der Christ sie sieht, kommen muss. Diese Antwort müssen dann nicht alle nachvollziehen, aber alle sollten sagen müssen: Donnerwetter, die haben wenigstens noch Überzeugungen."

Der Befehl eines Freundes

Er hat schwere Schicksalsschläge aushalten müssen: Seine einzige Tochter Claudia schied 1977 freiwillig aus dem Leben, seine erste Frau Kriemhild starb 1980 in seinen Armen an Krebs, seine zweite Frau Helga, eine Enkelin des Automobilfabrikanten August Horch, sie war seit 1984 Präsidentin der Welthungerhilfe, kam 1995 bei einem Autounfall ums Leben.

Rainer Barzel fand Trost in seinem katholischen Glauben, der immer mehr barocke Züge gewann, je länger Rainer Barzel in Oberbayern lebte. Und so war es schon sehr passend, dass der gebürtige Ostpreuße, der zusammen mit sechs Geschwistern in Berlin aufgewachsen war, die Feier seines achtzigsten Geburtstages vor gut zwei Jahren mit einem "Dankgottesdienst" im wunderbar barocken Asam-Kirchlein in der Münchner Sendlingerstraße begann. Beim "Lobe den Herrn" sang er noch viel lauter als Angela Merkel und Edmund Stoiber zusammen.

Damals war er gerade von schwerer Krankheit genesen, saß glücklich lächelnd und überschwänglich dankbar neben seiner dritten Frau Ute, einer 23 Jahre jüngeren Schauspielerin und Regisseurin, der er in rührender Weise zu gefallen suchte. Sein letztes Buch, für das er gern auch im Archiv der Süddeutschen Zeitung recherchierte, hat er für sie geschrieben. Man hatte das Gefühl, dass Rainer Barzel, trotz allem, seinen späten Jahren die Heiterkeit geben konnte, die er an den bayerischen Barockkirchen liebte.

Und dass nach dem Dankgottesdienst die Geburtstags-Festrede in der Akademie der schönen Künste nicht ein Christdemokrat, sondern der alte Sozialdemokrat Helmut Schmidt hielt, das überrascht nur den, der die bundesrepublikanische Geschichte nicht kennt: Die Große Koalition Kiesinger/Brandt von 1966 bis 1969 war (so hat Karl Feldmeyer in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung einmal trefflich geschrieben) "in ihrem Kern, dort wo sie funktionierte, eigentlich eine Regierung Barzel/Schmidt".

Der Hanseat Schmidt ist dem ostpreußisch-berlinisch-rheinisch-bayerischen Rainer Barzel ein Freund geworden. Auf die Frage, wie er das Land regiert haben würde, wenn der Wähler so nett gewesen wäre, eine Frage, die er sich einmal selbst stellte, sagte Barzel: "Wie er". In knurrig-herzlicher Freundschaft hat dieser Helmut Schmidt seinem Freund, als der zum ersten Mal schwer krank wurde, "barsch befohlen, wieder gesund zu werden".

Barzel hat sich lange an diesen Befehl gehalten. Er ertrug sein schweres Leiden mit Geduld, stoischer Heiterkeit und Gottvertrauen. Am Samstag, 26. August, ist Rainer Barzel 82-jährig in München gestorben.

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.804638
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ vom 28.08.06
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.