Zum Tod von Helmut Kohl:Eine Kindheit im Anti-Kohl-Deutschland

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Gewerkschafter demonstrieren 1996 gegen die Regierung Kohl. (Foto: picture-alliance / dpa)

Gegen Atomkraft, gegen Ausländerfeindlichkeit, gegen das Waldsterben: Für unsere Autorin, geboren 1982, war ihre ganze Jugend klar, wer gut und wer böse war. Nach Helmut Kohls Kanzlerschaft war es damit vorbei.

Hannah Beitzer

Als meine Mutter erfuhr, dass sie schwanger war, kam sie gerade von einer Demo gegen den Nato-Doppelbeschluss in Bonn zurück. Es war Frühsommer 1982, sie war 26 Jahre alt. Wenige Monate später zerbrach die sozial-liberale Koalition von Helmut Schmidt - nicht wegen der Raketen, gegen die meine Eltern damals protestierten, sondern wegen der Wirtschaftspolitik. Meine Mutter saß mit dickem Bauch vor dem Fernseher und weinte vor Wut. Zwar konnte sie Helmut Schmidt nicht leiden, aber der von der eigenen Koalition verratene Kanzler tat ihr trotzdem leid.

Am 1. Oktober wurde Helmut Kohl Bundeskanzler. Er versprach dem Land eine "geistig-moralische Wende". Am 11. Oktober 1982 wurde ich geboren.

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Helmut Kohl hat mich meine ganze Kindheit über begleitet. Von seiner geistig-moralischen Wende habe ich trotzdem nie viel mitbekommen. Zwar gingen meine Eltern kurz nach meiner Geburt aus dem studentenbewegten München zurück in ihr konservatives Heimatstädtchen in Mittelfranken. Doch bundesrepublikanische Konservative sah ich die ganzen Kohl-Jahre hindurch nur wenige aus der Nähe.

Mein Vater hatte, als typischer 68er-Nachzügler, Lehramt studiert, aber dann keinen Job gefunden. Deswegen zogen wir in sein Elternhaus, das riesengroß, ziemlich alt und ein bisschen baufällig war. Er fing an, in einem Papier-Unternehmen zu arbeiten, und machte Fortbildungen in Informationstechnologie. Meine Mutter eröffnete einen Weinladen. Die Freunde meiner Eltern trugen Vollbärte, am Wochenende tanzten sie zu den Doors, den Rolling Stones oder afrikanischer Musik. Wir Kinder wuselten zwischen ihnen herum und studierten endlose, wirre Theaterstücke ein, die unsere Eltern geduldig beklatschten. Oft gab es irgendwo ein Matratzenlager, auf dem wir uns einfach schlafen legten, wenn wir genug vom Feiern hatten.

Bröseliger Vollkornkuchen, der nach Pappe schmeckte

Politik gehörte für uns von Anfang an dazu, auch wenn wir nicht immer genau verstanden, um was es eigentlich dabei ging. Von dem dicken Kanzler namens Kohl, der in einer Stadt namens Bonn wohnte, bekamen wir in unserem Alltag natürlich nicht viel mit. Aber wir wussten immerhin, dass niemand, den wir kannten, ihn leiden konnte (außer meiner Oma, aber das hat sie mir erst später erzählt). Für meinen Bruder und mich war Politik ganz einfach: Unsere Eltern waren rot. Die Roten waren dafür, dass die Reichen den Armen mehr Geld abgeben. Das war gut.

Unsere Nachbarn, die Eltern meiner besten Freundin Ninja, waren grün. Die Grünen waren vor allem für Umweltschutz. Sie waren außerdem ein bisschen wilder als die Roten. Zum Beispiel gingen die Grünen einmal in eine Diskothek, die bei uns nur "Russendisco" hieß. Sie besuchten dort eine Stripshow. In dem Moment, als die Stripperinnen auf die Bühne kamen, zogen sie alle ihre Pullis aus. Drunter hatten sie T-Shirts an, auf denen stand: "Keine Diskriminierung von Frauen!" Sie wurden aus der Russendisco rausgeschmissen und bekamen lebenslanges Hausverbot. Das fand ich irgendwie cool.

Aber die Grünen hatten auch Nachteile. Bei ihnen gab es Vollkornkuchen, der beim Anschneiden zerbröselte und immer ein wenig nach Pappe schmeckte, so dass man ganz viel Sahne dazu essen musste. Meine Mutter machte nie Vollkornkuchen, weil mein Vater den nicht mochte. Auf den Geburtstagen priesen die Grünen meinem Vater ihren Kuchen immer mit den Worten an: "Hier, Paul, probier mal, der schmeckt fast wie ein richtiger Kuchen." Und mein Vater antwortete jedes Mal: "Warum macht Ihr dann nicht einfach einen richtigen Kuchen?" Trotzdem, die Grünen waren unsere Freunde: Wir alle waren gegen Atomkraft und gegen das Waldsterben. Außerdem füllten wir Milch in Flaschen ab, damit nicht so viel Müll entstand.

Die Schwarzen hingegen waren nicht unsere Freunde. Sie waren nämlich dafür, dass alles so blieb, wie es war - und das war in unseren Augen schlecht. Die wollten zum Beispiel nicht, dass die Reichen von ihrem Geld den Armen mehr abgeben müssen. Auch die Atomkraftwerke wollten sie nicht abschalten. Am Schlimmsten an den Schwarzen fanden wir jedoch, dass sie dagegen waren, dass Ausländer nach Deutschland kommen. Wir verstanden nicht, warum nicht jeder leben durfte, wo er wollte.

Wir wussten schon damals, dass unser Bundeskanzler leider ein Schwarzer war. Unser Bürgermeister in dem kleinen Städtchen auch. Er hatte genau wie Kohl einen Doktor vor seinem Namen, obwohl er gar kein Arzt war, was wir komisch fanden.

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Im September 1989 kam ich dann in die Schule. In meiner Klasse war ein Junge namens Thomas. Er trug seltsame Klamotten und verhielt sich auch ansonsten anders als wir. Obwohl er viel größer war als ich, musste ihn seine Mutter jeden Tag in die Schule bringen. Er wollte ihre Hand nicht loslassen und machte so lange Gezeter, bis sie sich auf einen Stuhl hinten in die Klasse setzte. Wenn der Lehrer ein paar Minuten geredet hatte, stand die Mutter von Thomas leise auf und schlich aus dem Zimmer. Aber Thomas hörte sie jedes Mal und rannte ihr hinterher. Dabei weinte er so laut, dass man es in allen Fluren der Schule hören konnte. Wir haben ihn ausgelacht.

Einmal machte ich mich auch zu Hause über Thomas lustig. Meine Mutter wurde böse und erzählte mir, dass Thomas und seine Familie bis vor kurzem in einem anderen Land gelebt hatten, das auch Deutschland hieß, aber von unserem Deutschland durch eine Mauer getrennt war. Die Leute in dem anderen Deutschland konnten nicht einfach hingehen, wo sie wollten, lernte ich. Sie waren eingesperrt.

"Da möcht' ich nicht tot überm' Zaun hängen."

Die Eltern von Thomas wollten nicht mehr in dem anderen Deutschland leben und fuhren deswegen in eine Stadt namens Prag. Dort mussten sie, so erzählte es meine Mutter, ganz lange mit vielen anderen Menschen darauf warten, ob sie in unser Deutschland kommen können. Das ganze Gedränge, die Tränen, die Unsicherheit: "Deswegen hat der Thomas eben jetzt noch Angst, dass er seine Mama verlieren könnte", sagte meine Mutter.

Ein paar Wochen später waren die Menschen in dem anderen Deutschland plötzlich alle nicht mehr eingesperrt. In der Stadt, von der ich inzwischen wusste, dass sie Berlin hieß und früher mal die Hauptstadt von Deutschland gewesen war, tanzten die Menschen auf der Mauer. Als die Mauer fiel, durfte ich länger aufbleiben als sonst und mit den Erwachsenen fernsehen. Meine Eltern hatten Tränen in den Augen.

Im Fernsehen lief meiner Erinnerung nach ein Schwarz-Weiß-Film, in dem Soldaten in Berlin die Mauer aufbauten. An einem Haus kletterte eine Frau aus dem Fenster, um auf die andere Seite der Mauer zu kommen. Oben hielten sie ein paar Männer fest, unten schrie aufgeregt die Menge. Als sie fiel, habe ich meine Augen zugemacht und gehofft, dass sie nicht tot ist. Dann kam auf einmal unser Kanzler im Fernsehen, in Farbe. Er sah auch so aus, als würde er gleich weinen. Für mich war es das erste Mal, dass er und meine Eltern etwas gemeinsam hatten.

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An meinen ersten Ausflug ins andere Deutschland erinnere ich mich auch noch genau: Ich fuhr mit meinen Nachbarn in den Thüringer Wald und lernte dort vom Vater der Familie, einem Bauarbeiter namens Karl, einen für mich wirklich faszinierenden Ausdruck. Wann immer wir mit dem Auto durch eines der Dörfer fuhren, die ich im Vergleich zu unserer fränkischen Kleinstadt mit den bunten Häusern reichlich heruntergekommen fand, sagte er: "Da möcht' ich nicht tot überm' Zaun hängen."

Kurze Zeit später zündeten im neuen Deutschland Nazis Asylbewerberheime an. Plötzlich hörte man auch in Bayern wieder viel häufiger als früher, dass nicht mehr so viele Ausländer zu uns kommen sollten. Wir hingegen stellten uns mit Kerzen auf den Kirchplatz in unserer kleinen Stadt und malten Bilder, auf denen sich Kinder mit rosa und Kinder mit braunen Gesichtern an den Händen hielten. Die Ausländer, die wir kannten, taten niemandem was. Sie lebten vor den Stadttoren im "Asylantenheim". An Weihnachten gingen wir manchmal zu ihnen und sangen Lieder. Außerdem brachten wir ihnen Basmati-Reis, weil ihnen der Kochbeutel-Reis, den sie vom deutschen Staat bekamen, nicht so gut schmeckte.

Aber nicht nur für Deutschland, auch für meine Familie veränderte sich viel in diesen Jahren: Mein Bruder und ich bekamen noch eine kleine Schwester und mein Vater wurde 1996 für die SPD in den Stadtrat gewählt. Meine Eltern und ihre Freunde feierten den Wahlabend bei uns zuhause, sie lachten und tanzten die ganze Nacht, und auch ich war irre stolz darauf, dass mein Vater nun ein echter Politiker war, selbst wenn ich immer wieder hörte, wie Leute ihn den "roten Paul" nannten, was - so viel konnte ich mir zusammenreimen - nicht freundlich gemeint war.

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Außerdem war mein Vater als EDV-Leiter in seiner Firma ziemlich beschäftigt. Schon solange ich denken konnte, hatten wir einen Computer zu Hause, als einzige im Freundeskreis meiner Eltern. Mitte der Neunziger kam dann auf einmal das Internet dazu - mein Vater nahm seinen Laptop mit in den Familienurlaub und wählte sich für teures Geld mit seinem Handy ins IT-System der Firma ein. Ich hingegen klickte mich durch die bunten, chaotischen Seiten voller fabelhaft überflüssiger Informationen, die im Web in rasender Geschwindigkeit entstanden. Ich war fasziniert von der Vorstellung, dass wahrscheinlich jemand am anderen Ende der Welt gerade dasselbe tat, wir also nur einen Mausklick voneinander entfernt waren.

Deutschland schien mir auf einmal sehr klein zu sein, auch der dicke Kanzler Kohl schrumpfte für mich. Und nicht nur für mich, plötzlich schien ihn niemand mehr so richtig ernst zu nehmen. Der Einzug meines Vaters und meines grünen Nachbarn Robert in den Stadtrat erschien mir wie ein Beweis dafür, dass jetzt mal die anderen, die Roten und die Grünen, dran sind.

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1998 fing ich an, den Spiegel zu lesen, und kam mir dabei sehr erwachsen vor. Kurz vor der Bundestagswahl kam ich in die zehnte Klasse und belegte zum ersten Mal ein Fach namens Sozialkunde, wo man uns erklärte, was Kumulieren und Panaschieren bedeutet. Wir simulierten eine klasseninterne Bundestagswahl, aus der die SPD und die Grünen als haushohe Sieger hervorgingen. Ich war ziemlich gut in Sozialkunde, weil ich schon seit meiner Kindheit immer mit Politik zu tun hatte. Es hat aber wohl auch nicht geschadet, dass der Sozialkundelehrer ein Genosse meines Vaters war.

Abschied vom Kohl-Deutschland

Kurze Zeit später war Helmut Kohl Vergangenheit, auch unser schwarzer Bürgermeister machte Platz für einen Kandidaten, den die SPD, die Grünen und die Freien Wähler gemeinsam aufgestellt hatten. In der Bundesregierung saßen auf einmal Leute, die ich cool fand, Joschka Fischer zum Beispiel. Was danach mit Helmut Kohl passierte, hat mich eigentlich wenig interessiert. Die Spendenaffäre nahm ich nur am Rande wahr. Kohl war nie so richtig mein Kanzler gewesen, deswegen war es keine große Überraschung, dass er Mist gebaut hatte. Gleichzeitig tat er mir ein bisschen leid.

Im Sommer 1999 ging es auf Klassenfahrt nach Bonn. Wir fanden es ganz nett dort, waren uns aber einig, dass Bonn keine echte Hauptstadt war. Dort sah es nämlich genauso aus wie in unserer Kleinstadt: die bunten Häuser, die sauberen Straßen, der blaue Himmel - wie langweilig!

Zwei Jahre später gab es keine Bonn-Fahrt mehr, dafür fuhren wir mit der ganzen Stufe nach Berlin und übernachteten in einem CVJM-Heim, das direkt am Straßenstrich lag. Wir saßen die ganze Nacht an unseren Fenstern, tranken Bacardi und beobachteten, wie die Freier um die Prostituierten herumtänzelten. Berlin, das war das neue Deutschland. Das Deutschland, das auf einmal wieder bei Kriegen mitmachte. Das Deutschland, in dem ausgerechnet die SPD und die Grünen die Agenda 2010 beschlossen. Das Deutschland, in dem schließlich von einer "Generation Praktikum" die Rede war. Das Deutschland, in dem wir lernten, dass Gut und Böse manchmal gar nicht so leicht zu unterscheiden sind.

Es war das Deutschland, in dem wir erwachsen wurden.

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