Zum Tod von Hans-Dietrich Genscher:"Genscher glaubte nie, dass er die alleinige Wahrheit gepachtet hatte"

Günter Verheugen spricht über das politische Vermächtnis Hans-Dietrich Genschers, ihr persönliches Verhältnis und darüber, warum Europa seinem früheren Mentor zuletzt Sorgen bereitete.

Interview: Hannah Beitzer

Der ehemalige EU-Erweiterungskommissar Günter Verheugen (SPD) galt einst als politischer Ziehsohn von Hans-Dietrich Genscher. 1982 wechselte er nach dem Bruch der sozial-liberalen Koalition von dessen FDP zur SPD. Im Interview erzählt er, wie die beiden Weggefährten diese Krise überwanden und spricht über die Probleme der europäischen Politik, die Genscher zum Schluss umtrieben.

SZ: Herr Verheugen, wann haben Sie zuletzt mit Hans-Dietrich Genscher gesprochen?

Verheugen: Erst vor wenigen Wochen. Ihm ging es um die Frage, wie man die deutsche Präsidentschaft der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) dazu nutzen kann, ihren ursprünglichen Gedanken wiederzubeleben. Für Genscher war das eines seiner Lebensthemen. Er hat sich schon zu Zeiten der ersten großen Koalition 1966 bis 1969 mit dem Gedanken einer gesamteuropäischen Sicherheitskonferenz beschäftigt.

Eigentlich war das damals ja eine sowjetische Idee. Als Genscher dann 1974 Außenminister wurde, hat er die Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa, aus der die OSZE wurde, zum zentralen Punkt seiner Politik gemacht. Er war überzeugt, dass Annäherung der einzige Weg ist, Spannungen abzubauen und den Zustand des Friedens herzustellen, in dem die deutsche Einheit letztlich möglich wurde.

In seinen letzten Lebensjahren musste Hans-Dietrich Genscher erleben, dass dieser Frieden massiv gefährdet war. Es brach ein Krieg in der Ukraine aus, das Verhältnis zu Russland verschlechterte sich...

Darüber haben wir sehr viel gesprochen. Er hat natürlich die Kritik an bestimmten russischen Positionen geteilt. Er hielt aber nichts von Sanktionen und Boykotten. Er hat stattdessen dafür geworben, die russischen Probleme zu verstehen - dass die Russen zum Beispiel tatsächlich das Gefühl haben, von der Nato eingekreist zu werden. Der Begriff "Russlandversteher" war für ihn nicht negativ besetzt. Solange man miteinander redet, schießt man nicht aufeinander - das war sein Motto.

Zuletzt rückte der Konflikt mit Russland etwas in den Hintergrund, stattdessen brach innerhalb der EU ein Streit über die Flüchtlingspolitik aus. Wie war seine Einstellung dazu?

Ich habe persönlich nicht mit ihm über Flüchtlingspolitik gesprochen. Allerdings habe ich durch gemeinsame Freunde mitbekommen, dass er den Kurs von Kanzlerin Angela Merkel stützt. Das passt zu seiner Lebensgeschichte. Er war stark geprägt von den Erfahrungen des Krieges, an dem er noch teilnehmen musste. Menschen, die sich in einer existentiellen Notlage befinden, Schutz zu gewähren war für ihn selbstverständlich. Aus Europa eine Festung zu machen hätte nicht zu ihm gepasst. Was wir seit einigen Jahren beobachten - das Auseinanderfallen der EU, die Erosion der europäischen Idee - hat ihn sehr bekümmert.

Konflikte gab es zuletzt vor allem zwischen Deutschland und einigen Ländern Osteuropas. Passen sie politisch schlicht nicht zusammen?

Zu Zeiten der EU-Osterweiterung habe ich mich auch mit Genscher beraten. Er hat mich bestärkt. Er hielt die große Erweiterung für historisch zwingend, moralisch geboten und strategisch richtig. Daran hat sich bis zum Schluss nichts geändert. Denn in welchem Zustand befände sich jetzt wohl Europa, wenn die osteuropäischen Staaten nicht in der EU wären? Deshalb halte ich auch Appelle an die Dankbarkeit der mittel- und osteuropäischen Staaten für völlig verfehlt.

Was Europa von Genscher lernen kann

Was war dann für ihn das größte Problem?

Tatsache ist, dass die europäische Idee schwächer geworden ist. In immer mehr Ländern gibt es rechtspopulistische Parteien, die den Spielraum der Regierungen einengen. Wir erleben heute, dass nationale Interessen wieder wichtiger genommen werden als gesamteuropäische. Ein Problem sah Hans-Dietrich Genscher auch darin, dass Deutschland und Frankreich ihrer gemeinsamen Führungsverantwortung nicht mehr gerecht werden, weil sie keine ausreichenden Gemeinsamkeiten finden. Aber genau auf diese Gemeinsamkeiten hat Genscher immer größten Wert gelegt.

Was könnte Europa heute von Genscher lernen?

Einer seiner größten Verdienste war es, dass er dazu beigetragen hat, die Phase der sogenannten Eurosklerose zu überwinden. Von Anfang der Siebziger bis Mitte der Achtziger Jahre trat die Integration regelrecht auf der Stelle. Genscher und sein italienischer Kollege Emilio Colombo entwickelten ein Konzept für eine engere politische Zusammenarbeit der Staaten. Es war typisch für ihn, dass er sich in dieser Phase des Stillstands nicht damit begnügt hat, die Gegebenheiten hinzunehmen. Niemals aufgeben, das können wir daraus lernen.

Genscher galt zu Beginn Ihrer Karriere als Ihr Mentor. Was haben Sie persönlich von ihm gelernt?

Vor allem, dass Vertrauen das größte politische Kapital ist. Auch, dass es nicht nur darauf ankommt, dass man miteinander redet, sondern gleichermaßen darauf, wie man übereinander redet. Wir konnten in den vergangenen Jahren gut beobachten, was passiert, wenn darauf keine Rücksicht genommen wird. Denken Sie nur zum Beispiel an die Griechenland-Hetze in einigen deutschen Medien! Mein persönlicher Eindruck ist, dass sich viele europäische Partner in den vergangenen Jahren von Deutschland gegängelt gefühlt haben. Genscher war in der eigenen Politik immer sehr darauf bedacht, dass Deutschland sich trotz seiner Bedeutung zurückhält, keine besonderen Rechte für sich beansprucht.

Ganz ohne Krisen war Ihr Verhältnis zu Genscher jedoch nicht. Nach dem Bruch der sozial-liberalen Koalition 1982 verließen Sie die FDP und traten in die SPD ein. Wie kam es, dass sie hinterher trotzdem wieder zusammenarbeiteten?

Hans-Dietrich Genscher und ich hatten vor 1982 ein sehr enges Verhältnis. Er war mehr als mein Lehrer, er war mein Mentor. Ohne ihn wäre mein Leben ganz anders verlaufen. Da ist ein politischer Bruch wie der von 1982 natürlich sehr schmerzhaft. Überwunden haben wir das 1985, als ich nach einem schweren Unfall im Krankenhaus lag. Da ging eines Abends die Tür auf und Genscher stand da. Er trat etwas unsicher von einem Fuß auf den anderen und überreichte mir dann ein Buch: "Da sind meine neuesten Reden drin", sagte er, "die meisten sind noch von Ihnen." Danach redeten wir stundenlang, als hätte es die vergangenen drei Jahre nicht gegeben. Und mir fiel ein großer Stein vom Herzen.

Diese Erfahrung damals zeigte mir einmal mehr seine Fähigkeit, auf andere zuzugehen. Die war unglaublich stark entwickelt bei ihm, sie prägte seine ganze Politik. Dazu kam eine große Toleranz. Er glaubte nie, dass er die alleinige Wahrheit gepachtet hatte und war immer der Überzeugung: Gleichgesinnte kann man über die Parteigrenzen hinweg auch in anderen politischen Lagern finden.

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