Wenn die Zukunft nach Leipzig kommt, führt auch für sie kein Weg an der Vergangenheit vorbei. Heldenstadt, Wiege der friedlichen Revolution, Ausgangspunkt der "Wir sind das Volk"-Massenproteste gegen das DDR-Regime im Herbst 1989 - Leipzig hat sein Revolutionserbe in den vergangenen 33 Jahren immer stolz hochgehalten. Dass Tausende auch schon Anfang Oktober 1989 im vogtländischen Plauen auf die Straße strömten, ging in der Heldensaga zumindest außerhalb des Freistaats lange unter. Seit sich die beiden Städte als Duo für den Standort für das Zukunftszentrum Ost beworben haben, weiß man aber auch jenseits von Sachsen, dass Plauen seinen Platz in der Revolutionsgeschichte beansprucht.
200 Millionen Euro will der Bund investieren, um in einem "Zukunftszentrum für Deutsche Einheit und Europäische Transformation" im Osten des Landes die Brüche und Verwerfungen seit dem Mauerfall sichtbar zu machen. So hat es die Kommission "30 Jahre Friedliche Revolution und Deutsche Einheit" empfohlen, eingesetzt noch von der großen Koalition. So hat es die regierende Ampelkoalition dann auch im Mai beschlossen, und so hat es der Haushaltsausschuss des Bundestages bewilligt. Eine Jury aus neun Frauen und sechs Männern soll am 14. Februar den Sieger aus fünf Bewerbungen küren, ihr gehören Persönlichkeiten aus der Bürgerrechtsszene wie Marianne Birthler und Ulrike Poppe an, Wissenschaftler wie Steffen Mau und Raj Kollmorgen sowie ehemalige Politiker wie Cornelia Pieper und Matthias Platzeck an. Neben dem Duo Leipzig-Plauen bewerben sich Frankfurt (Oder), Halle, Jena und Eisenach.
Der Begegnungs- und Ausstellungsort soll eine Million Besucher pro Jahr anziehen
Die Pläne sind groß. Das Zentrum soll Forschung, Begegnungs- und Ausstellungsort unter einem Dach vereinen, inklusive herausragender Architektur. Neben der einmaligen Summe von 200 Millionen Euro geht es auch um jährliche Zuwendungen von 40 Millionen Euro und um dauerhaft 200 Jobs. Der Entscheidung für einen Standort folgt ein Architekturwettbewerb, 2028 soll das Zentrum öffnen. Mit bis zu einer Million Besuchern kalkuliert die Jury pro Jahr. Zum Vergleich: Das Neue Museum - Besuchermagnet der Berliner Museumsinsel mit der Büste der Nofretete - zählte im Vor-Corona-Jahr 2019 noch 820 000 Gäste. Scheu vor ambitionierten Zielen kennt der ehemalige brandenburgische Ministerpräsident Platzeck (SPD), der schon die Einheitskommission leitete, nicht: "Dieses Symbol soll eine Architektursprache haben, die sich mindestens am Guggenheim in Bilbao oder am Freiheitsmuseum in Danzig messen lassen kann."
Doch wozu braucht es neben all den schon existierenden zeitgeschichtlichen Museen und deutsch-deutschen Gedenkstätten noch eine weitere? Anruf bei Katrin Budde, Jury-Vorsitzende und SPD-Bundestagsabgeordnete aus Magdeburg. Sie sagt: "In der Kommission zu 30 Jahre Deutsche Einheit und Friedliche Revolution haben wir gemerkt, dass uns ein Ort für die Begegnung zwischen Ost und West fehlt. Wir wissen immer noch viel weniger voneinander, als man denkt." Diese deutsch-deutsche Diagnose ist so richtig wie bekannt, doch reicht sie als Fundament für ein 200-Millionen-Investment?
Im vergangenen Frühjahr warnten 95 Prominente, unter ihnen Wissenschaftler sowie mehrere Mitglieder der Einheitskommission, in einem offenen Brief vor einem allein deutschen Blick und forderten eine europäische Perspektive. Sie schrieben: "Spätestens der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine sollte allen gezeigt haben, dass eine Beschränkung auf die Zeit nach 1989 ebenso zu kurz greift wie die Idee, Deutschland allein ins Zentrum zu rücken." Es gebe zwar Nationalstaaten, aber keine voneinander losgelösten nationalen Entwicklungswege, "in Europa hängt alles engstens miteinander zusammen".
Der Westen als falsche Vergleichsgröße
Eine der lautesten Stimmen war der Historiker Ilko-Sascha Kowalczuk, selbst Mitglied der Einheitskommission. Er sprach sich im Oktober in einer öffentlichen Anhörung im Kulturausschuss des Bundestages für einen konsequenten Fokus des Zentrums auf Osteuropa aus, denn die Geschichte der DDR sei ohne die Entwicklungen in Osteuropa ebenso wenig zu verstehen wie die Transformationsgeschichte seit 1990. Die Hoffnung auf "blühende Landschaften" habe den Westen zwangsläufig als Vergleichsgröße etabliert, "das war und ist fatal, weil es die Ausgangsbedingungen unberücksichtigt ließ".
Gegen diese Analyse wehrt sich auch die Jury-Vorsitzende Budde nicht: "Wir brauchen mehr Verständnis für ostdeutsche Strukturbrüche und mehr Empathie für die epochalen Veränderungen in Ost- und Mitteleuropa. Bisher ging der Blick immer in den Westen, auch von Ostdeutschland aus." Deswegen sei der Jury auch die europäische Perspektive wichtig, schon vor dem offenen Brief der 95 Kritiker. "Wir wollen keine Nabelschau", sagt Budde, zusammenwachsen könne Deutschland aber nur, "wenn man miteinander redet".
Für den Historiker Kowalczuk ist klar, dass sich die osteuropäische Perspektive bei der personellen Besetzung und im Standort wiederfinden muss - viele halten Frankfurt (Oder) deshalb für alternativlos. Das Zukunftszentrum könnte direkt an der Oderbrücke entstehen, nur einen Fußweg von Polen entfernt. Neben dem Land Brandenburg unterstützen auch Berlin und Mecklenburg-Vorpommern die Bewerbung. Für OB René Wilke (Linke) ist seine Stadt der "wohl europäischste Ort, den die Bundesrepublik aufbieten kann" - und mit der europäisch ausgerichteten Viadrina zudem ein anerkannter Universitätsstandort. Dafür mangelt es an Hotelkapazität. 13 Standortfaktoren hat die Jury definiert, neben universitärer Anbindung zählen auch Freizeitangebote, gute Erreichbarkeit für internationale Gäste und "ein besonderer struktur- und regionalwirtschaftlicher Bedarf" dazu. Soll heißen, das Zentrum soll an einem Ort entstehen, der einem beim Stichwort blühende Landschaft nicht unbedingt als Erstes einfällt. "Kein Standort ist ideal, aber wir werden den küren, der die meisten Bedingungen erfüllt", sagt die Jury-Vorsitzende Budde.
Frankfurt (Oder)? "Ich glaub, mein Schwein pfeift."
Die Standortfrage weckt auch Begehrlichkeiten in der Politik. Sachsens Ministerpräsident Michael Kretschmer (CDU) witterte ein abgekartetes Spiel. Platzeck habe von Anfang an vorgehabt, das Zentrum nach Frankfurt (Oder) zu holen, monierte Kretschmer auf einer Podiumsdiskussion Anfang Dezember, das sei unfair und geschichtsvergessen: "So ein Zentrum Deutsche Einheit, europäische Einheit, friedliche Revolution in Frankfurt (Oder) - ich glaub, mein Schwein pfeift." Aber - so ehrlich war der Ministerpräsident - man könne durchaus auch mit einer Entscheidung für Jena leben.
Jena geht mit dem Eichplatz ins Rennen, einer Brachfläche im Herzen der Universitätsstadt. Auch Thüringens Ministerpräsident Bodo Ramelow (Linke) hat registriert, dass Frankfurt am Anfang gesetzt zu sein schien, inzwischen aber sei ein echter Wettstreit entstanden, Ramelow sieht Jena gut im Rennen. Eisenach steht ebenfalls auf der Kandidatenliste, das Land Thüringen unterstützt allerdings nur die Bewerbung von Jena. Auch in Sachsen-Anhalt gab es anfangs mehrere Bewerber, in die Endauswahl hat es allein Halle geschafft. Selbstverständlich ist auch Ministerpräsident Reiner Haseloff (CDU) überzeugt, dass Halle die strukturellen Voraussetzungen erfüllt und ein anspruchsvolles wissenschaftliches wie kulturelles Umfeld bietet. Wie schwieriger Strukturwandel erfolgreich gestaltet werden könne, wisse man in Sachsen-Anhalt nur zu gut.
Die Jury hat - bis auf Plauen, das sich diese Woche in Leipzig mitpräsentierte - alle Bewerberstädte besucht und will sich die Entscheidung nicht leicht machen. Für Budde geht es um mehr als eine Standortfrage: "Es soll nicht nur ein schicker Millionenbau werden, der vor sich hin glänzt, sondern ein lebendiges Wesen."