Süddeutsche Zeitung

Zukunftsvisionen:Taschentelephon aus Kaisers Zeiten

Manche Vorhersagen über die Gegenwart waren erstaunlich zutreffend, viele aber kuriose Irrtümer.

Von Roland Preuß

Smartphones, Podcasts oder Online-Shoppen, Robert Sloss hat das alles vorhergesagt. Alles was man jetzt per Draht übermittele, "können wir auch auf drahtlosem Wege senden", schrieb Sloss. Deshalb werde einmal "jedermann sein eigenes Taschentelephon haben, durch welches er sich, mit wem er will, wird verbinden können, einerlei, wo er auch ist". Überall könne man sich damit die "gesprochene Zeitung" abrufen, um Neuigkeiten zu erfahren, überhaupt werden die Lebensgewohnheiten der Nutzer durch das Gerät "noch weit mehr beeinflusst werden, als sie dies schon jetzt durch die Einführung unsres gewöhnlichen Telephones geworden sind". Das schrieb der amerikanische Autor Sloss 1910 für den Sammelband "Die Welt in 100 Jahren" des deutschen Publizisten Arthur Brehmer. 97 Jahre später, 2007, kam das erste iPhone auf den Markt. Sloss' Vorhersage war ein Volltreffer.

Die Zukunft ist ein aufregender Ort. Gerade zum Jahreswechsel, gerade zum Übergang in ein neues Jahrzehnt, bieten Medien und Experten ihre Prognosen an. Kaum etwas erscheint so faszinierend wie plausible Visionen, sie verbinden Hoffnung und Angst, Euphorie und Endzeitstimmung. Was bringt der Fortschritt - und wie schnell wird er alles verändern?

Die Vorhersagen verströmen, so wie bei Robert Sloss, oft den Charme der Präzision. Und doch gleichen sie einem Schuss mit Zielfernrohr in nebliges Gelände. Das macht einstige Prognosen über die heutige Zeit so kurios, macht die Treffer und Irrtümer so lesenswert.

Auch dafür liefert Brehmers Buch reichlich Material. Er hatte 23 Autoren für seinem Sammelband gewinnen können, Wissenschaftler, Experten, aber auch Aktivisten wie die Pazifistin Bertha von Suttner und den Koloniallobbyisten Carl Peters. Ein Professor Everard Hustler versprach da ("gar kein Zweifel") ein "Zeitalter völliger Krankheitslosigkeit", die Autorin Ellen Key erwartet, dass sich die Menschheit im 21. Jahrhundert ohne Elternschaft fortpflanzt, es würden "masculinfreie Männer" auf "femininfreie Frauen" treffen, der einzige Stimulus werde der Austausch "sozial-allgemeinmenschlicher Gedanken" sein. Dieses Schreckbild passt in die Wende zum 20. Jahrhundert, als eine stärker werdende Emanzipationsbewegung diverse Autoren warnen ließ, die Geschlechterunterschiede würden eingeebnet, eine Mulierokratie, also "Weiberherrschaft", stehe ins Haus - und in der Folge dürften Frauen auch stärkeren Bartwuchs entfalten, wie es in der Einführung zur Neuauflage von Brehmers Band von 2010 heißt.

Wie sehr die Voraussagen ein Produkt ihrer Zeit sind, zeigt Carl Peters, der in seinem Beitrag eine Welt beschreibt, in der die Briten Afrika und die meisten anderen unterentwickelten Regionen beherrschen, während Deutschland durch eine zu "weiche" Politik fast alle Kolonialbesitzungen verloren habe. Peters hatte im Kaiserreich rücksichtslos den Erwerb deutscher Kolonien betrieben. Während die Friedensnobelpreisträgerin Bertha von Suttner vier Jahre vor Beginn des Ersten Weltkriegs durchaus wohlwollend das moderne Prinzip der massiven Abschreckung beschreibt. Nämlich, dass jeder Angriff in dieser Zukunft "nur Doppelselbstmord wäre".

Dennoch, am ehesten landen die Prognosten noch mit ihren Vorhersagen zur Technik Treffer. Und sei es in Form von Sammelbildern, wie sie die Elmshorner Margarinefabrik Wagner in den 1920er- und 1930er-Jahren mit ihren Produkten vertrieb. Da sind zehnstrahlige Düsenflugzeuge zu sehen, sehr windschnittige Züge oder zwei Damen, die per Handspiegel, an dessen Griff ein Mikrofon befestigt ist, Videotelefonate führen - während im Hintergrund ein kleiner Jet wartet. Es grüßt bereits das Zeitalter von Film und Funk, von neuen Möglichkeiten der Mobilität durch den Düsenantrieb.

Das wiederholt sich in späteren Zukunftserzählungen, etwa in dem ZDF-Film "Richtung 2000" von Arno Schmuckler und Peter Kerstan, der schon 1972 das Erstarken der Umweltbewegung am Ende des Jahrzehnts erahnen lässt. In fünf bis zehn Jahren werde der Bodensee biologisch tot sein, sauberes Wasser werde zum "Luxusartikel". Anfang des neuen Jahrtausends aber, so die Vision, werde die Luft sauber sein. Die Kunstfigur der Zukunft fährt im Film mit einem propellergetriebenen Zug und Elektroauto ins Büro. Nur Frisur und Brille haben sich in der ZDF-Vision auch nach 30 Jahren nicht fortentwickelt.

Fundierte Vorhersagen benennen Bereiche, in denen Politiker, Unternehmer oder auch Bürger zum Handeln aufgerufen sind. Sie wollen eine Debatte darüber anstoßen, ob man in Zukunft tatsächlich so leben will. 2005 erarbeiteten die Marktforscher von TNS Infratest im Auftrag von Siemens eine solche Studie mit dem Titel "Horizons 2020". Auf gut 280 Seiten schrieben Fachleute aus ganz Europa Trends fort bis zum Jahr 2020, vorsichtig und mit zwei Hauptszenarien: einem mit einer behutsamen Entwicklung, starken Regierungen, welche die weltweite Wirtschaft regulieren. Und einem der Ellenbogen-Ökonomie, in der die globale Wirtschaft die Macht übernimmt und die Gegensätze zwischen Arm und Reich wachsen.

Doch sobald es auch nur einigermaßen konkret wird, zeigt sich, wie schwer es selbst Experten fällt, in die Zukunft zu sehen. Auch wenn es nur 15 Jahre waren bis 2020. Da wird synthetischen Kraftstoffen ein Siegeszug vorhergesagt oder auch Biosprit, etwa Ethanol aus Getreide. Die industrielle Produktion wandert in einem Szenario von West- und Mitteleuropa weitgehend ab nach Osteuropa. Und Patienten dürfen sich vermehrt selbst behandeln, in Gesundheitsterminals, in denen sie Selbstdiagnosen ohne Arzt vornehmen können, etwa mithilfe günstiger Diagnose-Chips. Keine dieser Vorhersagen war ein Volltreffer.

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Quelle:
SZ vom 31.12.2019
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