Zukunft der SPD:"Wozu sind Sozialdemokraten auf der Welt?"

Gedenken zum 25. Todestag von Willy Brandt

Strasser über SPD-Chef Martin Schulz: Statt über Europa redete er über Kanaldeckel - und machte dabei eine unglückliche Figur

(Foto: dpa)

Johano Strasser ist seit Jahrzehnten Mitglied der SPD-Grundwertekommission. Im SZ-Gespräch kritisiert er den Wahlkampf von Martin Schulz - und erklärt, was das zentrale Thema der Sozialdemokraten sein müsste.

Interview von Lars Langenau

Bei der Bundestagswahl ist die SPD auf 20,5 Prozent abgestürzt und will jetzt in die Opposition gehen. Johano Strasser, 78, begleitet die Partei schon sehr lange als Vor- und Querdenker. Zwischen 1970 und 1975 war er stellvertretender Juso-Chef. Seit 1975 ist er Mitglied der SPD-Grundwertekommission. Im Hauptberuf schreibt Strasser Romane, Gedichte, politische Bücher. Im Interview mit der SZ erklärt er, welche Strategie die SPD nach der Wahlniederlage fahren sollte.

Herr Strasser, ist das Wahlergebnis der SPD bei der Bundestagswahl wirklich so bitter?

Ich fand viele Darstellungen übertrieben. Klar war das eine Katastrophe, aber eine, die sich sehr lange angekündigt hatte. Es zeigte sich abermals, wie die Bindungskraft der Volksparteien zurückgeht. Bei der SPD begann das schon in den 80er Jahren, als sich die Grünen mit einem Großteil von enttäuschten SPD-Leuten gründeten. Und das, obwohl es mit Erhard Eppler, Freimut Duve, Klaus Traube, mir und etlichen anderen schon in den späten 70er Jahren eine grüne Strömung in der SPD gab. Aber die Partei unter Helmut Schmidt war nicht dazu in der Lage, diesen neuen Impuls aufzugreifen.

Und Mitte der 90er Jahre ...

... kam es aus dem Fleisch der SPD zur Abspaltung der Linken. Das geschah aus zwei Gründen: Einmal gab es zur Zeit der Wiedervereinigung im Osten eine bigotte Pastoren-SPD, die nicht sah, dass es bei den mehr als eine Million SED-Mitgliedern auch viele kritische Köpfe gab, die man integrieren hätte können. Genau das haben die Konservativen viel klüger mit den Blockparteien gemacht, die sie mit ihrer Organisationsstruktur, ihren Parteihäusern und einem Großteil ihrer Wähler einfach übernahmen. Zum anderen gab es später den neoliberalen Sündenfall unter Gerhard Schröder mit der Agenda 2010 und Hartz IV. Zusammengenommen bedeutete das ein Minus von zehn bis zwölf Prozentpunkten im Vergleich zu den vorangegangenen Wahlen.

Ist die SPD mit 20,5 Prozent noch eine Volkspartei?

Ich würde den Begriff gerade öffentlich nicht sehr laut gebrauchen.

2009 ging es auf 23 Prozentpunkte runter und jetzt noch weiter. Wieso?

Weil die SPD bis heute nicht den Mut hatte, sich ernsthaft mit ihren eigenen Fehlern unter Schröder auseinanderzusetzen. Natürlich gibt es auch das positive Nein zum Irakkrieg, aber dieselben Leute, die dem neoliberalen Zeitgeist mit Teilen der Agenda 2010 auf den Leim gegangen sind, haben einfach weitergemacht und versucht, sich durchzumogeln. So was wird bestraft. Eine Partei wie die SPD muss eine offene Diskussion über die Fehler führen und dann zu einer Selbstreinigung kommen. Aber dazu kam es bis heute nicht.

Aber an den Fehlern der Vergangenheit war Martin Schulz doch gar nicht beteiligt?

Anfangs hat genau das ja auch zur Euphorie geführt: Endlich einer, der nicht durch die Selbstverleugnung der SPD beschädigt ist. Doch wie schnell seine Zustimmungswerte schwanden, zeigt auch, wie wechselhaft das Wählerverhalten inzwischen ist. Das muss sich der arme Martin Schulz nicht allein an die Nase binden. Dann kamen die verlorenen Landtagswahlen und seine Berater und wohl auch Landespolitiker müssen ihn davor gewarnt haben, über Weltpolitik und Europa zu sprechen. Stattdessen redete er dann bei seiner Deutschlandtour über Kanaldeckel - und machte dabei eine unglückliche Figur.

War das Thema soziale Gerechtigkeit falsch?

Nein, das ist natürlich das Thema der SPD, aber er hätte Europa in den Mittelpunkt seiner Kampagne stellen müssen. Er hätte Europa als die Chance vermitteln müssen, sozial gerechte Verhältnisse überhaupt erst schaffen zu können. Was hat Emmanuel Macron in Frankreich doch für eine Euphorie auch bei jungen Leuten ausgelöst, indem er voll auf Europa gesetzt hat. Wo aber blieb das bejubelte Konzept von Schulz, das zeigt, wie Europa sich künftig in der Welt verankert? Ich habe überhaupt nicht verstanden, weshalb Schulz diese Karte nicht gezogen hat, obwohl er doch als ehemaliger Präsident des Europaparlaments genau das hätte machen müssen. In dieser Rolle war er ja auch sehr gut: Er hat die Rechte des Parlaments gestärkt und oft war er der Einzige, der Berlusconi, Orbán und solchen Leuten Paroli geboten hat. Doch dann spielte die Europapolitik im deutschen Wahlkampf überhaupt keine Rolle.

Hätte die SPD mit dem Thema Europa die Wahl gewinnen können?

Johano Strasser, 79, ist Politologe, Publizist und Schriftsteller.

Johano Strasser: Nur mit einer neuen, stabilen Zukunftshoffnung kann den Volksparteien neue Stärke gelingen

(Foto: picture alliance / dpa)

Nur mit einer neuen, stabilen Zukunftshoffnung kann den Volksparteien neue Stärke gelingen. Und dazu gehört unabdingbar eine Vision von einem handlungsfähigen Europa! Das hingestöpselte Konstrukt mit dem Euro war für Deutschland eine Zeit lang sehr günstig, weil der deutsche Exportmarkt davon so profitierte. Allerdings hat das auch dazu geführt, dass die Wirtschaft weiter Teile Südosteuropas kaputt ging. Jetzt, da man sieht, dass dieses Europa nicht mehr so funktioniert, stellt sich die Frage, ob wir den Mut haben, Macron mit seinen - in weiten Teilen vernünftigen - Vorstellungen zu unterstützen. Machen wir das nicht, haben wir in vier Jahren in Frankreich Le Pen. Und das zu verhindern, liegt jenseits des Parteiegoismus.

Aber warum konnten der Front National oder hier die AfD überhaupt so stark werden?

In Umbruchsituationen wird immer nach Trost in der Vergangenheit gesucht. Es ist der Glaube daran, dass es uns in einem starken Nationalstaat mit dichten Grenzen und womöglich auch ohne Ausländer wieder gutgehen würde. Doch wer nur ein bisschen nachdenkt, weiß, dass das nicht funktionieren kann. Aber in der Verzweiflung greift man eben nach solchen Strohhalmen.

Noch mal: Wie soll man einem Wähler in der Sächsischen Schweiz, in der die SPD 7,8 Prozent bekommen hat, erklären, Europa sei das entscheidende Thema?

Also gut, da sind die Verhältnisse wirklich anders. Ich kenne diese Gegenden durch Auftritte und Lesungen und muss sagen, dass da viele Leute leben, die kulturell meilenweit vom westlichen Selbstverständnis entfernt sind. Es gibt tatsächlich eine tiefe kulturelle Kluft zwischen Ost und West, die auch mit den Jahren nicht geringer geworden ist. Dass man sich verachtet, vernachlässigt, nicht genug geschätzt fühlt, haben die Ostdeutschen mit den Osteuropäern gemein: Demokratie konnte dort einfach aufgrund der Systeme nicht gelebt werden. Allerdings hat auch der Westen die Lebenswirklichkeit und Lebensleistung der Menschen in diesen Systemen nicht anerkannt und nicht gesehen, dass sie mehr oder weniger anständig durchs Leben gekommen sind. Das sind Kränkungen, die - psychologisch gesehen - mit einer sehr haltbaren Tinte in die Seelen der Menschen geschrieben wurden.

Was also müsste in der SPD konkret passieren?

Die SPD muss begreifen, dass das alte, in den Nachkriegsjahrzehnten sehr erfolgreiche Fortschrittsversprechen keinen Sinn mehr ergibt. Das hat früher noch funktioniert, aber inzwischen wissen die Menschen, dass es nicht immer nur nach oben geht und dass es auch bei der Ausbeutung der Umwelt Grenzen gibt. Dazu gesellen sich neue Kriegsgefahren. Das alles führt zu einer starken Verunsicherung, der man nur mit einem klaren Zukunftskonzept begegnen kann.

Ist Opposition jetzt richtig?

Sehr richtig! Obwohl wir die Sozialdemokratie so bitter nötig haben angesichts der Verwerfungen in der Welt.

Sehen Sie eine Chance, dass sich die SPD mit der Linken in der Opposition vereint?

Klar gibt es in der Linkspartei einige Querköpfe, die darauf geeicht sind, die Sozialdemokratie zu schlagen, wo sie können. Aber es gibt auch viele, die von ihrem ganzen politischen Denken und Handeln in die SPD gehören. Allerdings sterben Organisationen schwer, und deshalb ist es eher unwahrscheinlich, dass aus zwei Teilen auch wieder eine Partei wird. Aber wir sollten dringend miteinander reden und ich bin sicher, dass die Linken als Koalitionspartner lammfromm wären. Die SPD wäre dumm, wenn sie durch die Verweigerung der Kooperation der Linken die internen Integrationsprobleme abnähme.

Allerdings ist das Land nach rechts gerückt: Im neuen Bundestag gibt es nun keine linke Mehrheit mehr, die fast durchgängig seit 1998 bestand.

Im Moment ist das so. Aber ich glaube, dass es ein bewegliches Potenzial gibt, das sich bei anderer Politik und anderer öffentlicher Darstellung anders entscheidet. Die SPD kann meines Erachtens wieder in die Nähe der 30 Prozent kommen. Und wenn die Grünen und die Linkspartei als Koalitionspartner jeweils um die zehn Prozent liegen, dann ist ein Machtwechsel auch wieder möglich. Die Perspektive Rot-Rot-Grün muss man aber wollen - und atmosphärisch vorbereiten.

Ist das jetzt der große Aufbruch mit Andrea Nahles als Fraktionschefin?

Die hat zwar als Arbeitsministerin einen ordentlichen Job gemacht, aber man kann nur hoffen, dass sie im Bundestag nicht anfängt, Kinderlieder zu singen. Auch wenn noch Köpfe rollen sollten: Wenn die neuen Personen sich nicht neuen Ideen öffnen, bringt alles taktische Geplänkel nichts. Wir müssen uns jetzt dringend die Frage stellen: Wozu sind Sozialdemokraten eigentlich auf der Welt?

Und wozu?

Um aus Freiheit gleiche Freiheit zu machen - oder wie Willy Brandt es mal gesagt hat: Von Freiheit verstehen wir mehr.

Sehr intellektuell, aber das berührt nicht mein Herz.

Dann versuche ich es mit einem Beispiel: Wir Europäer sind nicht bessere Menschen als die Menschen anderswo, aber wir haben den anderen eines voraus: Wir leben seit Jahrhunderten mit lauter unterschiedlichen Egozentrikern auf engstem Raum zusammen. Und wir wissen, dass wir nur friedlich zusammenleben können, wenn wir auch die Sicherheit der Nachbarn berücksichtigen. Wir Europäer haben in der Vergangenheit schon alle Verbrechen begangen und haben mit den schlimmsten Strafen dafür bezahlt. Das ist der Erfahrungshorizont, aus dem wir schöpfen können, wenn es darum geht, die Bedingungen der globalisierten Welt neu zu gestalten.

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