Zukunft der europäischen Institutionen:Die EU - eine Wohngemeinschaft in Auflösung

Wirtschaftliche Kraft, aber keine politische Potenz: Nationalismus der Einzelstaaten und Eifersüchteleien zwischen den EU-Organen drohen die Europäische Union zu sprengen. Angela Merkel fürchtet, dass die Finanzkrise das Ende der EU bedeuten könnte. Sie hat recht. Eine wirkliche Reform muss her. Europa braucht jetzt Heldenmut.

Martin Winter

Mehr als ein Jahr nach Ausbruch der griechischen Krise und nach immer wieder neuen hektischen Anläufen, sie in den Griff zu bekommen, bietet die Europäische Union das Bild einer Wohngemeinschaft in Auflösung. Man redet noch miteinander, aber nur unter Anspannung und kaum verstecktem Misstrauen. Sich zu einigen kostet immer mehr Kraft. Und die Gemeinschaftsräume stehen leer, weil sich die Bewohner lieber in ihr eigenes Kämmerlein zurückziehen. Noch halten sie das große Mitwohnexperiment nicht für gescheitert, aber irgendwie sind sie seiner müde.

Youth supporting Greek Communist party sets fire to EU flag during rally against attacks on Libya's leader Gaddafi's air defences by Western-led forces, in Athens

Ein griechischer Demonstrant zündet eine Flagge der Europäischen Union während einer Protestaktion in Athen an: Ein Jahr nach Ausbruch der griechischen Krise braucht die EU dringend eine neue Reform.

(Foto: REUTERS)

Die Müdigkeit sei Europas größte Gefahr, mahnte 1935 der Philosoph Edmund Husserl. Nun ist das heutige Europa nicht das von damals, an dessen Horizont schon der Krieg wetterleuchtete. Die Kultur des Friedens, welche die europäische Einigung hervorgebracht hat, ist zu stark, als dass sie der gegenwärtigen Krise zum Opfer fallen könnte. Aber Husserls Diagnose bleibt aktuell: Die Europäer sind es leid, für das Gemeinsame zu kämpfen, um das Trennende zu überwinden. Also begeben sie sich auf eine schiefe Bahn - und rutschen bereits. Der Rückzug fast aller europäischen Regierungen auf die Verteidigung ihrer jeweiligen nationalen Interessen trägt daran genauso viel Schuld wie ihre kollektive Unfähigkeit, die Finanzkrise zu meistern. Eine Krise, von der Angela Merkel zu Recht glaubt, dass sie das Ende der EU mit sich bringen könnte.

Zum europäischen Drama trägt gewiss bei, dass Europa gegenwärtig mit mittelmäßigem politischen Personal geschlagen ist. Es wäre jedoch zu billig, die Wurzeln des Übels allein dort zu suchen. Sicherlich schadet es der EU, dass Deutschland unter der schwarz-gelben Regierung seinen europapolitischen Kompass zu verlieren scheint. Oder dass Nicolas Sarkozy nur in den Kategorien Frankreich und Wahlkampf denkt. Oder dass in Italien ein Silvio Berlusconi regiert und in London ein europaferner David Cameron. Das eigentliche Problem aber liegt woanders: Die umfassende Reform, mit der die EU sich vorbereiten wollte auf die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts, ist ihr in entscheidenden Punkten missglückt.

Wie sich im scharfen Wind der Krise herausstellt, ist die EU mit dem Vertrag von Lissabon weder handlungsfähiger noch transparenter geworden. Beides aber sind unerlässliche Elemente, um das Vertrauen der Finanzmärkte und - wichtiger noch - das der Bürger zu gewinnen. Trotz eindringlicher Warnungen haben die Mitgliedstaaten im Lissabon-Vertrag weder eine Wirtschaftsregierung noch eine funktionierende Finanzaufsicht eingebaut. Dieses Versäumnis rächt sich nun.

Gefährlicher Mangel an Disziplin

Mit der Berufung eines Dauerpräsidenten des Europäischen Rates haben die Mitgliedsländer auch Europa nicht gestärkt, sondern nur noch mehr Konfusion angerichtet. Nun ringen in Brüssel der Präsident des Europäischen Rates und jener der Kommission um die Hoheit über das Krisenmanagement. Beide gemeinsam liegen im Clinch mit großen Mitgliedsländern wie Deutschland, welche die Herrschaft über die immer teureren Rettungsaktionen behalten wollen. So wird in Brüssel viel zu viel politische Kraft mit internen Auseinandersetzungen vergeudet.

Der verbissene Machtkampf unter den Institutionen, an dem sich das Europäische Parlament nach Kräften beteiligt, zieht einen gefährlichen Mangel an Disziplin nach sich. Weil keiner dem anderen den Vortritt lassen will, wird oft hirnlos vorgeprescht. Wer Europa zu lenken vorgibt, wird so selber zur Gefahr und zerstört Vertrauen. Und weil es keine klaren Führungsstrukturen gibt, reden auch Minister, Regierungschefs und die Zentralbanker kräftig durcheinander. Das macht die Märkte nervös, und die Bürger beschleicht das Gefühl, von Unfähigen regiert zu werden.

Die Europäische Union wird aber nicht nur daran gemessen, wie sie mit der Finanzkrise fertig wird, sondern auch an ihrem weltpolitischen Anspruch. Da findet sich nun das dritte Problem: Die europäische Außenpolitik hat sich in einen politisch-bürokratischen Albtraum verwandelt, dank der von Lissabon verordneten komplizierten Struktur. Sie ist in der Brüsseler Wirklichkeit geprägt von Eifersüchteleien zwischen Rat, Kommission und Europäischem Parlament. So wird Europa in der Welt nicht gewichtiger, sondern schwächer.

Von außen betrachtet ist die EU eine Gemeinschaft, die mit großen Herausforderungen nicht fertig wird und deren Bedeutung in der Weltpolitik zweifelhaft ist. Dass es den Europäern nicht gelingt, ihre gewaltige wirtschaftliche Kraft in politische Potenz umzumünzen, ist Folge einer missratenen Reform, die sich unheilvoll mit der Tendenz zum Rückzug in die nationalen Nester verbunden hat.

Dagegen gibt es kein Patentrezept, ein schnelles schon gar nicht. Sicher ist lediglich, dass der Europa-Müdigkeit deren Geschwister folgen, erst die Gleichgültigkeit und dann der Widerwille gegen Europa. 1935 rief Husserl die Europäer zu einem "Heroismus der Vernunft" auf. Damals vergeblich. Aber auch heute ist es der einzige Weg, der aus der Krise herausführt. Europa braucht den Heldenmut zu einer neuen Reform.

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