Zukunft der EU nach Gipfel in Brüssel:Wer, wenn nicht Deutschland

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Schuldenschnitt für Griechenland und ein neues Arsenal an finanzpolitischen Waffen: Die EU hat sich endlich zusammengerissen. Europa lebt und es ist stark. Doch die Einigung auf dem Gipfel in Brüssel hat einen hohen Preis: Das Machtgefüge hat sich nachhaltig verschoben. Die südeuropäischen Schuldenstaaten müssen sich dem Diktat der Geldgeber beugen, auch Frankreich wird unwichtiger. Den Weg in die Zukunft weisen nun die Deutschen.

Martin Winter

Wer je geglaubt hatte, dass Europa sich mit einem Schlag aus seiner Krise befreien könnte, der war ein Träumer. Aber: Nach quälend langen Monaten voller Halbherzigkeiten, die Zweifel am Überleben der Europäische Union schürten, hat diese sich doch noch zusammengerissen.

Ohne eine entschlossene Angela Merkel wäre es auf dem EU-Gipfel an diesem Mittwoch nicht zu einer Einigung über die Griechenland-Hilfen gekommen. Doch ist Deutschland bereit, auch künftig eine Führungsrolle in der EU zu übernehmen? (Foto: dapd)

Zwar wird sich erst in der nächsten Zeit zeigen, ob das Arsenal finanz- und haushaltspolitischer Waffen ausreicht, das sich die Staaten der EU jetzt gegen die existenzgefährdende Schuldenmacherei in ihren eigenen Reihen sowie gegen die Attacken von Währungsspekulanten zugelegt haben. Eines jedoch haben die Staats- und Regierungschefs der Euro-Länder bereits erreicht - und das ist mindestens so wichtig wie Schuldenschnitt oder Haushaltskontrolle: Sie haben das Vertrauen in die EU wiederhergestellt. Europa lebt, und es ist stark genug, seine Probleme anzugehen.

Allerdings ist es ein grundlegend verändertes Europa, mit dem die Welt es von nun an zu tun hat. Das Machtgefüge in der Europäischen Union hat sich nachhaltig verschoben. Frankreich, das die europäische Einigung lange dominierte, ist auf Platz zwei hinter Deutschland abgerutscht. Das Tempo und die Methoden der Krisenbewältigung wurden und werden von Berlin vorgegeben. Weil sie die Modernisierung ihrer Wirtschaft und ihrer sozialen Systeme verschlafen haben, wurden die Franzosen von der Krise selber in Bedrängnis gebracht. Einem Frankreich aber, das um seine internationale Bonität fürchten muss, bleibt nichts übrig, als dem Kurs derer zu folgen, welche die wirtschaftliche Kraft und das finanzielle Potential haben, um den Euro aus der Gefahrenzone herauszuziehen.

Deutsche und europäische Interessen

Deutschland hat aus nachvollziehbaren Gründen immer zu vermeiden versucht, eine solitäre Führungsrolle in der EU zu spielen. Nun aber ist sie Berlin zugefallen - und da es keinen anderen gibt, der sie übernehmen könnte, muss Deutschland sie annehmen. Es wäre von Vorteil für die EU, wenn Berlin diese Rolle klug und selbstbewusst nutzte; dafür aber muss die Bundesregierung der Versuchung widerstehen, deutsche mit europäischen Interessen zu verwechseln.

Wie das gehen kann, hat Angela Merkel bewiesen, als sie gegen massive Widerstände erfolgreich darauf beharrte, dass auch eine Änderung der EU-Verträge kein Tabu sein dürfe, wenn denn Lehren aus der Krise gezogen werden sollen. Denn: Die gegenwärtige Krise zu bewältigen ist wichtig, überlebenswichtig aber ist es, danach nicht wieder in den alten Schlendrian zu verfallen. Das beste Rezept dagegen ist eine neue Reformdebatte.

Die Krise hat aber nicht nur Deutschland in eine Lage katapultiert, in der es sich noch zurechtfinden muss. Sie hat die EU auch in Zonen unterschiedlichen Gewichts und Einflusses aufgeteilt. Damit läuft Europa Gefahr auseinanderzudriften. Der größte Riss, der sich durch die EU zieht, ist jener zwischen den Ländern, die den Euro haben, und denen, die ihn nicht haben. Letztere - und das sind überwiegend die neuen Mitglieder aus Osteuropa - spielen nur noch am Rande eine Rolle. Sie sind Zaungäste der europäischen Entwicklung geworden.

Diktatur der Geldgeber

Aber auch unter den Euro-Ländern hat sich eine Hierarchie gebildet. Denen, die wie die Griechen oder Portugiesen schon am Tropf des Rettungsfonds hängen, bleibt nichts anderes übrig, als sich dem Diktat der Geldgeber zu beugen. Anderen, die noch auf eigenen Beinen stehen, aber bald Hilfe brauchen könnten, geht es nicht nennenswert besser. So musste Italien dem demütigenden Verlangen nachgeben, seinen Euro-Partnern verpflichtend mitzuteilen, wann und wie es sein Haus in Ordnung zu bringen gedenkt. Italien, daran sei erinnert, gehört zu den Gründern des vereinten Europas und war über Jahrzehnte das vielleicht europäischste Land in der Union.

Heute aber spielt Italien bei der Gestaltung der Gegenwart und der Zukunft des Kontinents keine Rolle mehr. Auch ein anderes großes europäisches Land ist in der Krise in die europapolitische Bedeutungslosigkeit abgeglitten: Großbritannien. Die Ratschläge aus London, wo man nach wie vor mit Pfund zahlt, an die Euro-Länder waren von mehr Arroganz als Sachkenntnis geprägt. Der britische Premier David Cameron, dem ein nennenswerter Teil seiner eigenen Partei den europapolitischen Kampf angesagt hat, gibt in Brüssel eine schwache Figur ab. Und Polen wiederum ist noch nicht so weit, eine starke Rolle zu spielen.

Sicher, Deutschland kann Europa nicht im Alleingang zu neuen Ufern führen. Aber seine Stärke prädestiniert es, der europäischen Einigung neue Dynamik zu geben. Dazu gehört zum einen eine Reformdebatte, die der europäischen Selbstvergewisserung nach der Krise dienlich wäre. Dazu gehört es zum anderen, das Auseinandertreiben der europäischen Länder in wichtige und unwichtige so weit wie irgend möglich zu stoppen. Aber dazu braucht es den Mut, da voranzugehen, wo andere noch zögerlich abwarten.

Wenn diese Krise etwas gelehrt hat, dann das: Träges Abwarten, bis alle so weit sind, sich zu bewegen oder eine vernünftige Haushaltspolitik zu betreiben, kann sich die EU nicht mehr leisten. Die Krise hat den Deutschen eine Aufgabe beschert, der sie sich nicht entziehen können - es sei denn zum Schaden Europas und damit zu ihrem eigenen.

© SZ vom 28.10.2011 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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