Zukunft der EU:Lustlos in Europa

Der Kampf um die EU tritt in die entscheidende Phase - das allerdings haben diejenigen, die die Union retten wollen, offenbar noch nicht begriffen

Martin Winter

Der Jubel der Gegner der europäischen Integration nach dem Nein der Iren zum Lissabon-Vertrag war zu erwarten. Wenig überraschend auch, dass die Regierungen umgehend in der politischen Trickkiste zu wühlen begannen, um dem ins Stocken geratenen Integrationsprozess wieder Schwung zu verleihen.

EU-Verdruss

Vieles ist in der EU inzwischen selbstverständlich.

(Foto: Foto: ddp)

Erstaunlich war etwas anderes: das verdruckste Schweigen der Europa-Befürworter. "Europa wird halbherzig bis gar nicht verteidigt", sagt der ehemalige österreichische Bundeskanzler Wolfgang Schüssel im Gespräch mit der Süddeutschen Zeitung. So als schäme man sich dieser Europäischen Union wie einer zu peinlichen Auftritten neigenden Tante. Leserbriefe haben keinen empirischen Wert, aber interessant ist doch, dass mehr als 90 Prozent der Post zum irischen Referendum, die bei der SZ-Redaktion eingegangenen ist, am Stammtisch verfasst zu sein scheint. Tenor: Endlich hat es mal einer diesen volksfernen Eliten und diesen uns bedrängenden Eurokraten gezeigt.

Solchen Tönen und den Methoden der teils hetzerischen, teils irreführenden No-Kampagne in Irland könne man kaum mit einem lauen "Ja, aber..." zur EU erfolgreich begegnen, sagt Schüssel. In Irland hat sich für ihn nur abgezeichnet, was bei der Europawahl im Juni 2009 auf alle Länder der EU zukommt: "Eine Schlacht zwischen jenen, die für die EU eintreten und denen, die unter dem Deckmantel des Kampfes für eine angeblich bessere EU in Wahrheit dagegen sind." Gemessen an den eher lustlosen Pflichtbekenntnissen von Parteien, Gewerkschaften und Verbänden zur EU nach dem irischen Referendum scheinen sich die Freunde der Integration aber noch nicht der Dramatik bewusst zu sein, die Schüssel sieht.

Desinteresse und Apathie

Die Integration Europas sei "niemandes Baby" mehr, konstatiert darum Norbert Walter, der Chefvolkswirt der Deutschen Bank. Er klagt über Politiker, Unternehmer und Wissenschaftler, für die dieses Europa selbstverständlich ist und die sich gar nicht mehr bewusst sind, welchen Schatz sie in den Händen halten. Einen Schatz, der einem auch entgleiten kann. Seit Mitte der neunziger Jahre sterbe Europa jeden Tag ein bisschen mehr, glaubt Walter, weil sich nach Kohl und Mitterrand keiner mehr wirklich darum gekümmert habe. Und die Generation seiner Kinder sage dazu nur: "Macht nichts."

Ist die EU den Menschen also einfach nur gleichgültig? Die Umfragen des Eurobarometers sprechen eine andere Sprache. Die Zustimmung zur EU liegt im Schnitt klar bei mehr als 50 Prozent. Fast jeder Zweite meint, dass die Union ein gutes Bild abgebe. Die europäischen Institutionen erfreuen sich mit 50 Prozent eines spürbar größeren Vertrauens bei den Bürgern als die jeweils nationalen mit 32 Prozent. Und die Menschen wissen die EU durchaus zu schätzen. Mehrheitlich sind sie der Überzeugung, dass sie ihrem Land nützt. Die Mehrheit der Europäer findet die EU gut, aber sie schweigt.

Warum aber ist das so? Der Europaabgeordnete Alexander Graf Lambsdorff spürt "Desinteresse und Apathie". Was kein Wunder sei, wenn auch in den bürgerlichen Kreisen das "Dauergenörgele" über die EU zum guten Ton gehört. In ihren Wahlkreisen mühen sich die Abgeordneten des Europaparlaments meist vergeblich, Begeisterung für Europa zu entfachen.

Die Menschen nähmen Europa und seine Leistungen inzwischen als so selbstverständlich und garantiert hin, dass sie gar nicht mehr auf den Gedanken kämen, dass man weiter dafür kämpfen und verhindern muss, dass die Union zerbröselt. Bei solchen Gelegenheiten greift der ehemalige Präsident des Europäischen Parlaments, Klaus Hänsch, zum Was-wäre-wenn-Spiel. Zwar hat noch niemand die Folgen vollständig aufgelistet, die ein europapolitischer Rückschritt und die ihm unvermeidlich folgende Renationalisierung der Politik mit sich brächte. Aber die dramatischsten liegen auf der Hand.

Zum Ersten könnte sich die Zeit des freien Reisens in der EU dem Ende zuneigen. Wenn der Vertrag von Schengen über die Abschaffung der Grenzkontrollen immer weniger beachtet und immer häufiger unter dem Vorwand der nationalen Sicherheit außer Kraft gesetzt wird, dann müssen die Europäer bald wieder an jeder Grenze ihren Pass zücken.

Zum Zweiten würde der Wohlstand abnehmen. Der Binnenmarkt treibt die Konjunktur an. Alle profitieren davon, der Exportweltmeister Deutschland besonders. Während Deutschland Mitte der neunziger Jahre seinen Überschuss in der Handelsbilanz überwiegend bei Geschäften mit Ländern außerhalb der EU erwirtschaftet hatte, sieht es heute ganz anders aus.

Lustlos in Europa

Nach Berechnungen des Forschungsinstitutes der Deutschen Bank erzielt die deutsche Wirtschaft zwei Drittel der Handelsbilanzüberschüsse durch Exportgeschäfte innerhalb des europäischen Binnenmarktes. Deutsche Exporteure hätten stark "durch den europäischen Einigungsprozess profitiert". Dieser Binnenmarkt, sagt der Europaabgeordnete Elmar Brok (CDU), trage dazu bei, "in Deutschland wichtige Arbeitsplätze zu sichern". Wird dieser Binnenmarkt durch einen Wiederaufstieg des nationalen Protektionismus durchlöchert, dann wird das direkte Auswirkungen auf die Wirtschaft haben.

Das Spiel mit der Furcht

Zum Dritten könnte eine Schwächung der EU unliebsame Folgen für den Euro haben. Fast jeder in der EU hat die neue Währung inzwischen in der Tasche. Sie macht das Reisen leichter, und man kann die Preise im Euro-Raum besser miteinander vergleichen. Kleine und mittlere Unternehmen profitieren von ihr, weil sie ihnen die Tür zu einem riesigen Markt aufstößt, dem sie sich wegen der Risiken stärker schwankender Einzelwährungen früher nicht oder nur zögerlich genähert haben.

Und die Stabilität des Euro, hinter dem die Kraft einer der größten Volkswirtschaften der Welt steht, schützt die Europäer besser vor den Folgen der Turbulenzen auf den internationalen Finanzmärkten, als es die nationalen Währungen gekonnt hätten. Der Euro ist in wenigen Jahren die nach dem US-Dollar wichtigste Reservewährung der Welt geworden. Eine politisch uneinige und schwache EU könnte diese Erfolge gefährden.

Die Liste der Vorteile, die die EU mit sich bringt, ließe sich fortsetzen und endet noch lange nicht dabei, dass es vermutlich der gemeinsamen Fischereipolitik zu verdanken ist, dass die europäischen Meere noch nicht ganz leergefischt sind. Nun versichern die Gegner des Lissabon-Vertrages zwar gerne, dass sie gar nichts gegen die EU haben. Der polnische Staatspräsident Lech Kaczynski, der dem neuen Vertrag gerade gegen den ausdrücklichen Willen der Parlamentes die Unterschrift verweigert hat, behauptet, die EU würde auch ohne ihn funktionieren.

Angst vor einem Superstar

Andere beteuern, es gehe ihnen um ein demokratischeres Europa. Denen hat die Europaabgeordnete der Linken, Sylvia-Yvonne Kaufmann, die in dieser Frage allerdings einsam und allein in ihrer Partei dasteht, unter der Überschrift "schwerer Rückschlag" mal in 54 Punkten aufgelistet, wieviel Fortschritt bei Demokratie und Transparenz in der EU durch das irische Nein verhindert wird.

Die Gegner einer weiteren Integration spielen aber vor allem mit der diffusen Furcht vor einem europäischen Superstaat, der dem Bürger die Freiheit raubt, der die nationalen und kulturellen Unterschiede einebnet, der die Europäer in Kriege führt und der tief ins private Leben hineinregiert. Kürzlich erreichte die SZ die Anfrage eines Lesers, ihm doch die Stelle im Lissabon-Vertrag zu nennen, die die Mitgliedsländer, wie von den irischen No-Aktivisten behauptet, angeblich dazu zwingt, ihre Gesundheitswesen zu privatisieren.

Nun ist diese Behauptung nicht nur falsch, sondern der Vertrag legt ausdrücklich fest, dass die Organisierung des Gesundheitswesens allein Sache der Länder ist. Aber sie ist typisch für eine Kampagne mit falschen oder schiefen Behauptungen über die EU, wie sie auch in der britischen Boulevardpresse betrieben wird.

Einen Anstrich des Seriösen verleiht dieser Art von Kampagne neben Kaczynski der tschechische Präsident Vaclav Klaus, der nicht müde wird, vor einer EU zu warnen, die sich auf immer mehr politischen Feldern bewegt. Dabei ist es genau das, was die Bürger von der EU erwarten. Nach der jüngsten Umfrage des Eurobarometers will eine überwältigende Mehrheit folgende Fragen europäisch entschieden wissen: Kampf gegen Terrorismus (79 Prozent); Umweltschutz (71); Wissenschaft und Forschung (70); Verteidigung und Außenpolitik (64); Energie (61). Und zwischen 50 und 60 Prozent sehen Einwanderung, den Kampf gegen die Kriminalität, den Wettbewerb, Landwirtschaft und Fischerei, die Bekämpfung der Inflation und den Verbraucherschutz bei der EU besser aufgehoben.

Charakterschwache Politiker

Warum auf die solide Zustimmung der Menschen zur EU einerseits und deren doch recht großen Erwartungen an sie andererseits noch keine Kampagne aufgebaut wurde, erklärt Schüssel mit einer Charakterschwäche nationaler Politiker. In einer Zeit internationaler Krisen, in der die Menschen verunsichert seien, neigten Politiker einerseits dazu, europäische Sündenböcke zu suchen - die Europäische Zentralbank, die die Zinsschraube angeblich zu fest anzieht, oder die EU-Kommission, die die Interessen der europäischen Landwirte bei den Welthandelsgesprächen verrät.

Zum anderen trauen sich die nationalen Regierungen nur selten einzugestehen, dass sie gegen die negativen Folgen der Globalisierung alleine kaum noch etwas ausrichten können. Darum, klagt Schüssel, "wird der ehrliche Befund, dass wir mehr Europa brauchen, nicht ausgesprochen". Dabei würden es die Bürger der Politik, soweit man Umfragen trauen darf, durchaus nicht übelnehmen.

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