Süddeutsche Zeitung

Zukunft der EU:Gemeinsam oder einsam

Deutschlands Einfluss in Europa schwindet. Das ist gut, denn nun können die Mitgliedsstaaten entscheiden, wie ihre Union in Zukunft aussehen soll. Die deutsch-französische Achse steht vor ihrer größten Bewährungsprobe.

Joschka Fischer

Es kommt nicht oft vor, dass eine Nation in ein und derselben Nacht hart auf dem Boden der Realität aufschlägt, aber so war es tatsächlich jüngst Deutschland ergangen. Sowohl im Fußball als auch in der Politik hatte sich das Land in einer Mischung aus Arroganz und Realitätsverweigerung verfangen. Deutschland schien das Maß aller europäischen Dinge geworden zu sein, bei der EM gleichermaßen wie in der EU. Und beide Male handelte es sich um einen veritablen Selbstbetrug.

Deutschland sah sich selbst bereits als Sieger der Fußballeuropameisterschaft (EM), in derselben Nacht erlebte die deutsche Bundeskanzlerin, Angela Merkel, auf dem Brüsseler Treffen der Euro-Gruppe die Grenzen ihrer Macht: Sie sah sich einer Allianz aus Italien, Spanien und Frankreich gegenüber, der sie nicht gewachsen war.

Das deutsche Dogma - "Keine Leistung ohne Gegenleistung und Kontrolle" - war von da an perdu und der Stabilitätspakt schon Makulatur, bevor er im deutschen Parlament überhaupt beschlossen war. Zur europäischen Niederlage kam also noch die innenpolitische Demütigung dazu.

Krise ist noch nicht vorbei

Der Beschluss der Euro-Gruppe in jener letzten Brüsseler Nacht war in der Sache der Bewältigung der Finanzkrise alles andere als ein Durchbruch, denn er blieb innerhalb der Logik des kleinteiligen Krisenmanagements. Von einer politischen Strategie zur Krisenbewältigung ist er nach wie vor weit entfernt, und insofern wird die Krise im europäischen Süden und damit in der Euro-Gruppe zurückkommen. Sie ist alles andere als vorbei.

Politisch aber ist dieser Beschluss eine kleine Revolution, denn die tatsächlichen machtpolitischen Gewichte innerhalb der Euro-Gruppe haben sich durch ihn dramatisch verschoben: Deutschland ist stark, aber nicht stark genug, um sich eine vollständige Isolation in der Euro-Gruppe erlauben zu können. Es geht eben auch gegen Deutschland! Und dass die allenthalben vorhandene Häme über die deutsche Niederlage, teilweise nur schlecht getarnt hinter bemühten Solidaritätsbekundungen, mit den Händen zu greifen war, zeigt das ganze Ausmaß des politisch-psychologischen Flurschadens, den die bisherige deutsche Euro-Rettungspolitik im europäischen Süden - Austerität, Massenarbeitslosigkeit, wirtschaftliche Depression - mittlerweile mit sich gebracht hat.

Hätte Angela Merkel dieses Ergebnis gewollt, so wäre es der Anfang einer grundsätzlichen Revision der Krisenpolitik der Euro-Gruppe gewesen und damit Ausdruck von staatsfraulicher Staatskunst. So aber blieb nur eine deutsche Niederlage auf der ganzen Linie, verbunden mit der Revision der EU-Krisenpolitik. In Deutschland blendet man die Tatsache entschlossen aus, dass die deutsche Krisenpolitik den Einfluss des Landes in der EU dramatisch verringert hat, nicht nur in der Europäischen Zentralbank ist der deutsche Einfluss erheblich zurückgegangen.

Häme gegenüber Deutschland führt allerdings nicht weiter, vielmehr besteht Anlass zu zunehmender Sorge. Denn erstens ist ja nicht alles falsch, was von Deutschland vorgebracht wird: die Notwendigkeit eines mittelfristigen Haushaltsausgleichs, verbunden mit den notwendigen Reformen zu Erhöhung der Wettbewerbsfähigkeit der Krisenstaaten sind keine deutschen Hirngespinste, sondern dringend notwendig. Genau so wichtig ist aber auch der Abbau der wirtschaftlichen Ungleichgewichte und eine Wirtschaftswachstum ermöglichende gemeinsame Politik.

Und zweitens macht sich auf der rechten Seite des demokratischen Spektrums in Deutschland eine zunehmende politische Paranoia breit: Alle wollten nur ans deutsche Geld, unsere angelsächsischen Partner wollten Deutschland in Wirklichkeit schwächen; die Finanzmärkte würden nicht ruhen, bis Deutschland sein gesamtes Vermögen einsetzen und damit seinen wirtschaftlichen Erfolg gefährden würde; produzierendes Kapital ("gut") wird erneut gegen spekulierendes Kapital ("schlecht") in Stellung gebracht, Deutschland gegenüber dem "Ausland" durch die Opposition "verraten", und in den Feuilletons der "bürgerlichen" Gazetten feiert ein neuer Antikapitalismus fröhliche Urständ, der nichts weniger als eine Abkehr von Europa und, weitergehender noch, vom Westen beinhaltet. Auf der deutschen Rechten hat der Prozess der Renationalisierung begonnen.

Diese droht wieder nationaler, weniger europäisch und weniger westlich zu werden, und diese Entwicklung macht Sorge. Freilich wird sich die Geschichte nicht wiederholen, und wenn, dann nur als Farce (Karl Marx), denn das heutige Deutschland ist ein anderes geworden und sein politisches Umfeld ebenso. Wohl aber kann ein zunehmend euroskeptischeres Deutschland, in der Mitte der EU gelegen und mit seiner großen wirtschaftlichen Macht, den europäischen Integrationsprozess ernsthaft gefährden. Es würde dadurch zwar seine ureigensten Interessen gefährden, aber die Verpflichtung zur Interessenrationalität ist nur bedingt eine Kategorie des praktischen politischen Handelns, vor allem in ernsten Krisenzeiten.

Ein bisschen schwanger

Für Frankreich gilt dies übrigens genauso, nur dass sich die Franzosen, anders als die Deutschen, mit der politischen Souveränitätsübertragung sehr schwer tun, während es bei uns Deutschen um das liebe Geld geht. Beide Denkblockaden bedrohen das europäische Projekt gleichermaßen. Wenn sich zudem die Erkenntnis durchsetzen sollte, dass Frankreich und Deutschland fortan hinter den verbalen Solidaritätsbekundungen zur deutsch-französischen Achse munter Bündnisse gegen den jeweils anderen schmieden, dann wird man Europa sehr schnell vergessen können. Denn ohne eine funktionierende deutsch-französische Achse wird es kein erfolgreiches europäisches Projekt geben.

Beide Seiten müssen entscheiden, ob sie Europa und das heißt die volle wirtschaftliche und politische Integration wollen, oder nicht. Beide Optionen haben gravierende Konsequenzen: Wirtschaftlich heißt dies Haftungs- und Transferunion oder währungspolitische Renationalisierung. Und politisch gemeinsame Regierung und gemeinsames Parlament oder ebenfalls Renationalisierung. Sicher ist, dass das existierende Zwischending nicht tragfähig ist. Genauso wenig, wie es in der Realität den Zustand des "ein bisschen schwanger" gibt.

Eine Erkenntnis ist jetzt jedenfalls sicher: In Europa wird eben nicht Deutsch gesprochen, sondern bestenfalls broken English. Und das ist sehr gut so, denn alles andere würde das europäische Projekt tatsächlich gefährden. Angela Merkels Begeisterung beim 50. Jahrestag der französisch-deutschen Versöhnung zeigt, dass sie Grenzen deutscher Macht in Europa zu verstehen beginnt.

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Quelle:
SZ vom 13.07.2012
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