Zeugenschutz:Wer reden will, bekommt ein neues Leben

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Gefährdete Zeugen haben die Möglichkeit, eine "vorübergehende Tarnidentität" anzunehmen. Wer mit Hilfe des BKA in ein neues Leben schlüpft, sieht seine Familie in manchen Fällen nie wieder.

Corinna Nohn

Die Zeugin sitzt hinter einer schusssicheren Scheibe, rechts von ihr ein Beamter des Bundeskriminalamts. Die Frau sagt gegen ihren Ex-Mann aus, einen mutmaßlichen Terroristen. Diese Aussage ist das letzte, was sie mit ihrem wirklichen Namen, ihrer echten Haarfarbe, ihrem alten Leben verbindet. Wenn sie den Saal verlässt, wird sie jemand anders sein, noch mal neu anfangen, an einem fremden Ort. Vielleicht wird sie sogar wegen ihrer auffällig großen Nase zum Schönheitschirurgen gehen.

Das deutsche Zeugenschutzprogramm wurde in den achtziger Jahren ins Leben gerufen, nachdem die Verteidigung in einem Prozess gegen die Rockerbande "Hells Angels" durchgesetzt hatte, dass die Identität der Zeugen offengelegt wird. (Foto: dpa)

Menschen, die für eine Aussage vor Gericht ihr Leben ablegen müssen wie einen abgenutzten Mantel und dann ein neues erhalten, das sie vorher nicht anprobieren können - solche Schicksale denken sich nicht nur Hollywood-Regisseure aus. Auch in Deutschland können gefährdete Zeugen vom Bundeskriminalamt (BKA) oder von den Landeskriminalämtern eine neue Identität erhalten.

Zeugen sind oft selbst kriminell

Eine offizielle Statistik gibt es nicht, aber immerhin existieren mittlerweile Anhaltspunkte. So konnte der Bonner Jurist Christian Siegismund, der 2009 seine Doktorarbeit über Zeugenschutz in Deutschland vorgelegt hat, erstmals eine Aufstellung des BKA für 2006 nutzen. In dem Jahr betreute alleine die Wiesbadener Behörde 64 neue und insgesamt 330 Fälle. Zwei von drei geschützten Zeugen waren Männer, in vier von fünf Fällen ging es um Aussagen zu Verbrechen der organisierten Kriminalität.

Delikat ist, dass die Zeugen oft selbst dem kriminellen Milieu angehören - Prostituierte, Drogenhändler, Helfer. Dieses Dilemma besteht seit Beginn des Programms Anfang der achtziger Jahre: In einem Prozess gegen Mitglieder der Rockerbande "Hells Angels", die in Hamburg Schutzgelder von Kneipenbesitzern erpresst hatten, setzte die Verteidigung vor Gericht durch, dass die Identität der Zeugen offengelegt wurde. Folglich waren die meisten nicht mehr bereit auszusagen, und die Richter konnten keine oder nur milde Strafen aussprechen.

Damals wurde der Zeugenschutz beim BKA zentralisiert. Mittlerweile hat zudem jedes Bundesland eine eigene Zeugenschutzstelle. Der Identitätswechsel ist nach Polizeischutz oder Umzug der letzte Schritt, um gefährdete Personen zu schützen.

Geschützt wird, wer etwas zu sagen hat

Doch es reicht nicht alleine "eine Gefährdung von Leib, Leben, Gesundheit, Freiheit oder wesentlicher Vermögenswerte", um in das Programm aufgenommen zu werden. Die Zeugen müssen auch etwas zu sagen haben. Ihre Angaben müssen zum Beispiel helfen, einen Beschuldigten zu finden. In Absprache mit der Staatsanwaltschaft entscheiden dann die Zeugenschutzstellen, wem sie einen Identitätswechsel anbieten.

Es gibt keinen Zwang mitzumachen, aber der Druck ist immens - in der Regel müssen sich die Zeugen umgehend entscheiden.

Nehmen sie das Angebot an, werden nach Angaben des Bayerischen Landeskriminalamts (BLKA) "ganz konkrete Verhaltensregeln festgelegt", die "ständig durch einen intensiven Kontakt überprüft werden". Wer die Regeln nicht einhalte, könne aus dem Programm entlassen werden. Auch Familienmitglieder können geschützt werden. Es komme allerdings vor, dass ein Zeuge den Kontakt zu Partner und Kindern abbrechen müsse, wenn diese "nicht bereit oder geeignet sind, ins Zeugenschutzprogramm aufgenommen zu werden" oder "die Gefährdungssituation dies erforderlich macht".

Was genau zum Repertoire der Zeugenschützer gehört, verraten die Behörden nicht. Tatsächlich war der Zeugenschutz jahrelang eine rechtliche Grauzone. Es gab nur eine Richtlinie der Bundesländer, wonach auch Maßnahmen der Beratung oder der "taktischen Öffentlichkeitsarbeit" darunter fielen.

Erst 2001 wurde das "Gesetz zur Harmonisierung des Schutzes gefährdeter Zeugen" erlassen, dessen elf teils magere Paragraphen zwar nur wenige konkrete Hinweise beinhalten, aber Rückschlüsse zulassen, wie die Zeugenschützer eine "vorübergehende Tarnidentität" aufbauen: So dürfen sie von "öffentlichen Stellen" verlangen, "Tarndokumente" wie Ausweise, Pässe oder Urkunden mit dem neuen Namen zu erstellen. Auch Unternehmen dürfen angewiesen werden, etwa neue Zeugnisse oder Versichertenkarten zu drucken.

Der Schwachpunkt ist die Geburt

Das manipulierte Curriculum Vitae darf keine Rückschlüsse auf das bisherige Leben zulassen, muss aber glaubwürdig sein. Wer einen italienischen Akzent hat, kann keine russische Abstammung vorgeben. Und wer von der Großstadt aufs Land ziehe, müsse womöglich den Beruf wechseln, räumt das BLKA in einer Stellungnahme ein. "Sie müssen auch außergewöhnliche Hobbys aufgeben - wer Leistungssport betreibt oder Pferdepolo spielt, den findet man überall", sagt Veit Schiemann, Sprecher der Opferschutzorganisation Weißer Ring.

Jurist Siegismund hat Berichte von Zeugen, die mit ihrer Geschichte an die Öffentlichkeit gegangen sind, analysiert und ist zu dem Schluss gekommen, dass die Zeugenschützer oft als "Kindermädchen, Ansprechpartner, Sozialarbeiter, Arbeitsvermittler und Personenschützer in einer Person" fungierten. Sie arrangierten Treffen mit Angehörigen, kündigten für die Zeugen den Job, planten den Umzug - in ein anderes Bundesland oder einen anderen Kontinent.

Theoretisch sieht das Gesetz ein Ende des Zeugenschutzes und eine Rückkehr in die alte Identität vor, wenn zum Beispiel die Gefährdung wegfällt - die Tarndokumente werden dann wieder eingezogen. Nach Angaben der Behörden kommt es aber vor, dass jemand den Rest seines Lebens mit der neuen Identität verbringt. Das wiederum nennt Siegismund "gesetzeswidrig". Schließlich räume das Personenstandsgesetz auch Mitarbeitern des BKA keine Möglichkeit ein, sogenannte Personenstandsbücher zu verändern - das sind Geburten-, Heirats- und Sterberegister.

Der Schwachpunkt aller Bemühungen, eine sichere neue Identität aufzubauen, ist also die Geburt: Dass man unter einem bestimmten Namen geboren wurde, ihn gewechselt hat und noch nicht gestorben ist, lässt sich in Deutschland nicht vertuschen.

© SZ vom 22.12.2010 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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