Zersplitterte Opposition in Tunesien:Früchte des Zorns

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Ob Kommunist, Gewerkschafter, Menschenrechtler oder Islamist: In Tunis rebelliert das Volk gegen die Übergangsregierung. Die Opposition pocht auf einen Neuanfang, doch die Wurzeln der Diktatur reichen tief.

Tomas Avenarius, Tunis

Von der Fassade der Kathedrale aus schaut ein besorgter Stein-Jesus auf das Volk. Unter seinen ausgebreiteten Armen wälzt sich der Zug der Demonstranten entlang. "Weg mit der Staatspartei RCD", skandieren die Marschierer vor der Kirche an der Avenue Habib Bourguiba. Nachladen, sagen die Offiziere der Bereitschaftspolizei. Die Polizisten schieben Tränengasgranaten in den Lauf ihrer Flinten. Ein paar Passanten flüchten vor den Gasschwaden und den ihnen folgenden Prügelpolizisten in eine Einkaufspassage. Das Eisengitter der Passage fällt.

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Der Auslöser war die Verzweiflungstat eines jungen Mannes, der vorläufige Höhepunkt der Sturz des Diktators Ben Ali. Wie viele Tunesier nach jahrzehntelanger Unterdrückung aufbegehren - und das Land revolutionieren. Eine Chronologie.

Von Matthias Kolb

In der tunesischen Hauptstadt Tunis gehen die Demonstrationen gegen die Übergangsregierung weiter. Der gestürzte Diktator Zine el-Abidine Ben Ali ist aus dem Land geflohen. Aber die kurz danach gebildete Übergangsregierung unter Premierminister Mohamed Ghannouchi kommt nicht in Tritt.

Der neue Regierungschef hat bisher nur kleine Teile der Opposition eingebunden, die wichtigsten Ministerien sind an Männer des alten Regimes vergeben. Die Führer der radikaleren Oppositionsparteien fordern mehr: das Ende der pseudo-sozialistischen Staatspartei RCD (Rassemblement Constitutionnel Démocratique), den Ausschluss aller Weggefährten Ben Alis von der Macht. Die Opposition will die Beteiligung aller Gruppen - Kommunisten, Islamisten, Gewerkschaften und der Regionalvertreter. Sie will die Jasmin-Revolution zu Ende führen. Und fürchtet, dass doch das Gegenteil eintritt: Dass das alte Regime, unter dem Deckmantel neuer Führer, die Macht behalten wird.

In einem der Geschäfte in der Einkaufspassage, vor der das Tränengas langsam verfliegt, steht ein Mann. Er erzählt seine Lebensgeschichte. Der Tunesier gehört zur verbotenen Islamistenpartei An-Nahda, will seinen Namen nicht sagen. Er wurde gefoltert, saß im Gefängnis, wurde herzkrank, durfte nicht mehr als Lehrer arbeiten. Nun, wo die Herrschaft des Autokraten Ben Ali beendet ist, will der 44-Jährige nur eines - dass sein Idol zurückkehrt ins Land, an der Politik teilnimmt. "Rached Ghannouchi muss zurückkehren, die Nahda-Partei bei Wahlen antreten können." Das wird bald geschehen. Der in London lebende Nahda-Führer Ghannouchi, ein nicht verwandter Namensvetter des Premierministers, hat seine Rückkehr aus dem Exil bereits angekündigt.

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Ob Kommunist, Gewerkschafter, Menschenrechtler oder Fundamentalist: Die Lebensgeschichten der Oppositionellen Tunesiens spiegeln die 23 Jahre der Herrschaft des gestürzten Staatschefs wieder. Alle waren sie im Gefängnis, mussten ins Exil oder in die erzwungene innere Emigration.

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Wer sich in diesen Tagen mit Vertretern der Opposition trifft, hört immer dasselbe: Der Islamisten-Anwalt sagt: "Ich saß zehn Jahre, vier Monate und acht Tage." Die Menschenrechtlerin sagt: "1989 - ich war die erste politische Gefangene unter Ben Ali." Auch der Gewerkschafter hat das Gefängnis von innen kennengelernt, mehr als einmal. Und der herzkranke Fundamentalist in der Passage sagt: "In den vier Jahren Haft bin ich unserer Sache treu geblieben. Im Kopf und im Herzen."

Die Zeit der Unterdrückung und der Hass auf das Ben-Ali-System gehören zu den wenigen Dingen, die die Opposition einigen. Der arabische Diktator ist seit fast einer Woche außer Landes. Aber einen gemeinsamen Führer, eine politische Plattform oder ein brauchbares Programm haben die Regime-Gegner bisher nicht gefunden. Was sie verbindet, ist allein das "Nein".

Die Radikaleren fordern geschlossen die Auflösung der früher allmächtigen Staatspartei. Nur: Jeder zweite erwachsene Tunesier war in der RCD - oft zwangsläufig. Karrieren ohne Parteibuch gab es keine, der Staatsapparat ist durchsetzt von RCD-Leuten. "Der RCD hat ausgedient", rufen die Demonstranten. "Die Partei steht für Ben Ali, für seine Diktatur, für den Terror", sagen ihre Vertreter in den Parteibüros. "Mag sein, dass es in der RCD einige gute Leute gibt", räumt der UGTT-Gewerkschafter Djibali Hammami ein. "Es bleibt die Partei der Faschisten."

Die Menschenrechtlerin Radia Masrouwi läuft auf dem Hof auf und ab. Vor ihr parkt ein verbeulter VW-Polo. Dahinter steht ein Polizeiwagen. Ein Bombenspürhund schnüffelt an Masrouwis Auto. Ein Nachbar will gesehen haben, wie jemand sich unter dem Polo zu schaffen gemacht hat. Sie sagt: "Das war vor drei Tagen. Erst jetzt schickt mir die Polizei ihre Sprengstoffspezialisten. Das ist doch bezeichnend." Die Rechtsanwältin ist mit Grund misstrauisch. Sie hat sich zwei Jahrzehnte um politische Gefangene gekümmert, 2003 die sofort verbotene Vereinigung für Folteropfer gegründet und wurde selbst verfolgt. Sie weiß, dass das Ben-Ali-System vor allem auf der Geheimpolizei beruhte, dass deren alte Leute weiter das Sagen haben.

Masrouwis Ehemann ist der Kommunistenführer Hamma Hammami. Er war in den letzten 20 Jahren selten zu Hause. Hammami hat die meiste Zeit im Gefängnis verbracht oder im Untergrund. Erst vor wenigen Tagen wurde er aus der Haft entlassen. Seine Ehefrau lehnt wie er jeden Kompromiss ab: "Die RCD-Leute wollen dieses Regime nicht beerdigen. Sie wollen die Macht nur pro forma mit ein paar kleinen Parteien teilen." Masrouwis Bedenken sind nachvollziehbar. Der Fall Ben Alis wurde durch die Volksproteste nach der Selbstverbrennung eines arbeitslosen, verzweifelten Akademikers in einer kleinen Stadt im Süden Mitte Dezember eingeleitet. Aber den letzten Schritt tat die Armee: Deren Chef Rached Ammar war von Präsident Ben Ali kurz vor dessen Sturz entlassen worden, weil er nicht auf das eigene, revoltierende Volk schießen wollte. Am nächsten Tag war General Ammar wieder im Amt - und wies Ben Ali die Tür. Bei der Flucht ins Exil ließ der Ex-Präsident sein Flugzeug von Kampfjets des Nachbarstaates Libyen eskortieren, wo der mit ihm befreundete und ebenso autoritäre Staatschef Muammar el-Gaddafi regiert: Ben Ali hatte Angst vor seinen eigenen Soldaten.

Die tunesische Jasmin-Revolution fand auf der Straße statt. Aber sie wurde in einer Palastrevolution entschieden. Am Ende ist sie keine wirkliche Revolution, bisher jedenfalls nicht. Das Ben-Ali-System mag griffig dargestellt werden durch den Ex-Präsidenten und seine raffgierige Ehefrau Leila Trabelsi samt ihres korrupten Clans. Aber die Diktatur war nicht das Werk eines einzelnen Mannes. Sie war System: Für die meisten Vertreter der Opposition steht die RCD für dieses Regime. Sie fürchten, dass der tunesische Politikwechsel endet wie viele der "orangenen Revolutionen" nach dem Ende der Sowjetunion: neuer Wein in alten Schläuchen.

Andere sehen das pragmatischer. Ahmed Bouazzi ist einer von ihnen. Bouazzi sitzt im Vorstand der Demokratischen Fortschrittspartei (PDP), die sich mit Kabinettsposten in die bereits wackelnde Übergangsregierung hat einbinden lassen. Er sagt: "Die Opposition hat den Diktator vertrieben. Aber sie hat die Macht nicht ergriffen. Die bleibt in der Hand der alten Partei." Bouazzi zuckt mit den Schultern: "Daher kann die RCD nicht ausgeschlossen werden von der Übergangsregierung. Nur Figuren mit Blut und Schmutz an den Händen dürfen nicht ins Kabinett." Nicht, dass Bouazzi mit der Übergangsregierung glücklich wäre: "Das Problem ist, dass die Revolution nicht ausreichend repräsentiert ist." Um das zu ändern, brauche es freie Wahlen und Zeit für deren Vorbereitung. "Voraussetzung für jede Wahl ist Stabilität."

Abdelfattah Mourou ist eine schillernde Figur. Der Rechtsanwalt empfängt in seinem Büro, die Hosenbeine betont islamisch in die Socken gesteckt, eine orientalisch bestickte Weste über dem Hemd. Mourou ist Islamist, gehört zu den Gründern der Nahda-Partei. Auch er lernte Haft, Exil, innere Emigration kennen. Was den politischen Islam in seinem Land angeht, so lacht er über die Ängste des Westens: "Tunesien ist ein islamisches Land, aber ein säkulares Staatswesen. Wir orientieren uns an der türkischen AKP." Mourou sucht ein Beispiel: "Wir treten für islamische Werte in der Politik ein, so wie die CDU in Deutschland für christliche Werte steht."

Dann sagt der alte Islamist: "Es ist viel zu früh, über die Rolle des politischen Islams in Tunesien zu reden." Der Anwalt schlägt vor, ein Komitee aller Oppositionsparteien zu bilden, unter Führung einiger Intellektueller und andere anerkannter Figuren. "Nur solche Leute können noch zwischen der Opposition der Straße und der umstrittenen Übergangsregierung vermitteln." Mourou warnt: "Wenn das Volk jetzt nicht geführt wird, folgt die Anarchie. Und der Anarchie folgt meist die nächste Diktatur."

© SZ vom 21.01.2011 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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